Bevormundung und pauschales Misstrauen: Wie wir uns den Fortschritt verbauen
Seite 2: Der Kampf gegen das Wissen mittels des Aufbietens von Viertel- und Halbwahrheiten
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Die fixe Idee von der Universalität des Betrugs zieht weitere Konsequenzen nach sich: Wenn kein Wissen anerkannt, sondern angenommen wird, es gebe ausschließlich standpunktabhängige Interpretationen, dann hat jede Person die Freiheit dazu, sich die Welt so zurechtzulegen, wie sie ihr gefällt oder missfällt.
Wer sich in der Logik des Verdachts bewegt, unterstellt allem, was die Gegenseite vorbringt, unlautere Motive. Eine Unkultur des schiefen Zweifels ist weitverbreitet. Er stellt mit pseudorationalen Advokatentricks seriöses und verlässliches Wissen vermeintlich infrage.
Dafür gilt es, einzelne Aussagen misszuverstehen bzw. aus dem Kontext und aus ihrem systematischen Zusammenhang zu reißen. Man trennt realiter Zusammenhängendes und konstruiert scheinbare Zusammenhänge.
Schon Geschichtsrevisionisten befleißigen sich seit Jahrzehnten dieser Vorgehensweise. Sie verteidigen nicht offensiv Aussagen über die angebliche jüdische Weltverschwörung. Sie treten vielmehr vermeintlich defensiv auf. Angesichts der Beweise für die Ermordung von 6 Millionen Juden zweifeln sie Details an und schlussfolgern "da stimmt etwas nicht".
Dieses Extrem zeigt, wie weit es führen kann, den Kannitverstan zu geben, vermeintliche Ungereimtheiten geltend zu machen und selbst vielfach Bewiesenes zu verleugnen.
In Anbetracht der ökologischen Gefahren oder angesichts der Gefährlichkeit der Covid-Pandemie treten Leute auf, die meinen, scheinbar wissensbasiert dem anerkannten Wissensstand opponieren zu können, indem sie sich faktisch mit ihrem Viertel- und Halbwissen aufspreizen.
Sie kennen die Grenzen ihres vermeintlichen Wissens nicht und möchten mit ihren Anfängerfehlern den Profis Konkurrenz machen. Gern berufen sie sich auf Außenseiter oder vereinnahmen Minderheitsvoten in der jeweiligen Profession für die eigene prinzipielle Skepsis, ohne die Diskussionslage im betreffenden Fach sachlich überhaupt nachvollziehen zu können.
Die Sophistik der Wissenden ohne systematisches Wissen erlaubt es, sich in Aussagen zu bewegen, die sich faktisch nur auf jeweils ein Element beziehen. Während sie das tun, meinen sie aber, ganz direkt absolut Zutreffendes über so etwas wie eine selbstständige Wesenheit auszusprechen.
Dabei verkennen sie, dass das als scheinbar unmittelbar konkret Erscheinende in Wirklichkeit Moment eines gegliederten Ganzen oder einer komplexen Struktur ist und nur in ihrem Kontext erklärbar wird.1
Experten und Bevormundung
Experten können ihre Wissensvorsprünge ausnutzen. Beispiele dafür kennen wir u.a. aus der Medizin und Politik. Aus dieser Möglichkeit folgt aber keine pauschale Kritik an der Arbeitsteilung und Spezialisierung. Gewiss muss deren Missbrauch bekämpft werden.
Angesichts der Wissensvorsprünge anderer Menschen ziehen sich viele Zeitgenossen aus Angst vor Täuschung, Manipulation und Bevormundung auf eine eigenbrötlerische Existenz zurück: "Ich lasse mir nichts sagen, ich weiß selbst Bescheid".
Von diesem Standpunkt aus erscheinen diejenigen, die einer solchen Person mit Argumenten kommen, als Leute, die nur "schlauer sein und mich bevormunden wollen." Wer so spricht, möchte partout nicht anerkennen, dass Experten ihm etwas voraus haben.
Er lehnt das ab, was seine Auffassungsgabe überfordert. Er will aus lauter Subjektstolz nicht in die Gefahr kommen, sich einzugestehen, dass ihm etwas entgeht bzw. dass er es nicht begreift. Der Drang, so bleiben zu können, wie man ist, und sich dabei souverän zu fühlen und sich nicht infrage stellen zu brauchen, geht mit der Selbstbehinderung einher, ein anstrengendes Umlernen zu vermeiden.
Viele versperren sich mit ihrem Misstrauen und ihrer Annahme von flächendeckend vorhandener oder absoluter Korruption eine sachliche Auseinandersetzung. Große Bereiche der Gesellschaft erscheinen dem irrational-distanzierten Bewusstsein als derart dubios, dass es zum "schmutzigen Geschäft" einen Sicherheitsabstand hält und sich gar nicht näher mit ihm beschäftigen mag.
Das irrational-distanzierte Bewusstsein bezieht sich auf die Politik nicht im Modus der Reflexion, sondern im Modus "eines moralisch sich gebenden, durch Ressentiments bestimmten Sich-Ereiferns" (Kudera, Mangold, Ruff u. a. 1979, 285).
Beliebt sind in solchen Szenen Pessimismus und Misanthropismus. Dem pauschalen Misstrauen nützt die sog. Negativitätsverzerrung. Von ihr leben viele Medien. Nur schlechte Nachrichten seien "spannende" und insofern "gute" Nachrichten.
Schlussfolgerungen
Gegen wirkliche Bevormundung anzugehen, verdient Unterstützung. Anders sieht es aus bei derjenigen Stimmung, bevormundet zu werden, die sich sowohl einem verallgemeinerten Misstrauen verdankt als auch einem recht speziellen Selbstbewusstsein. Ihm kommt es unbedingt an auf seine Souveränität. Sie folgt ihrem Drang, um kein Urteil verlegen zu sein.
Der eigene Mangel an systematischem Wissen und fachlicher Kompetenz stört dabei nicht, sondern bildet gerade die Voraussetzung dafür, unverstandene Versatzstücke beliebig zu kombinieren.
Bevormundung durch den Panzer eines pauschalen Misstrauens abzuwehren, verträgt sich paradoxerweise oft damit, diversen Vereinfachern zu glauben, wenn sie nur laut genug "anti" schreien. Bereits damit wollen sie den Eindruck erwecken, angesichts der vermeintlich allgegenwärtigen Täuschung und Manipulation handele es sich bei ihnen um die ehrliche Ausnahme.