Preise sind nicht alles: Warum wir eine neue ökonomische Bewertung brauchen
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Warum Preissignale unzulänglich sind und wie alternative Modelle qualitative Indikatoren stärker gewichten. Ein kritischer Blick.
Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt!
Albert Einstein
Die Anhänger der Marktwirtschaft sehen die Preise als eine Art Kurzschrift an. Sie ermögliche es, alle nötigen Informationen schnell und effizient zu kommunizieren. Mittlerweile hat sich jedoch die Einsicht verbreitet, dass Preise unterkomplexe Informationskonzentrate darstellen. Sie sind nicht in der Lage, das Konsequenzenspektrum wirtschaftlichen Handelns sichtbar zu machen.
Dasjenige, wofür sich kein Marktpreis bildet bzw. nicht bilden kann (z. B. Lebensqualität der Arbeitenden im Arbeiten, Gesundheit u. a.), entzieht sich der monetären Bewertung.
Wer die Aktivitäten von Betrieben und Organisationen evaluieren will, wird stärker qualitative Indikatoren einbeziehen müssen. Zurzeit existieren bspw. das MIPS (Material-Intensität pro Serviceeinheit), der DGB-Index "gute Arbeit" oder der Human-Development-Index.
Bereits gegenwärtig entsteht quer zur Bepreisung eine Informationsinfrastruktur der Produktlinienanalysen, Technikfolgenabschätzungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen. Sie vergegenwärtigen die mit den Arbeiten und Arbeitsprodukten verbundenen Effekte, Voraussetzungen und Rückkoppelungen.
Das nichtfinanzielle Rechnungswesen
Darauf können "Konzepte eines 'nicht-finanziellen' bzw. sozialökologischen Rechnungswesens" bzw. "mehrdimensionale Erfolgskonzepte" aufbauen (Pfriem 2011, 188, siehe Literatur am Ende des Artikels).
Sie bilden ein Moment der zur kapitalistischen Marktwirtschaft und zum Staatssozialismus alternativen Vergesellschaftung. Wer fragt, wie eine "Nachhaltigkeitsbilanz" oder "Gemeinwohlbilanz" aussehen kann, findet dazu Vorschläge bei Bender, Bernholt, Winkelmann (2012, 137-143) oder bei Christian Felber.
Dass diese Autoren sich Illusionen über die Praktizierbarkeit solcher Bilanzen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie machen, mindert nicht zwangsläufig den Wert ihrer Konzepte für das Nachdenken über eine nachkapitalistische Gesellschaft.
Für die Gesellschaft des guten Lebens ist eine grundlegende Transformation notwendig. Nicht länger bleibt es selbstverständlich, die Lebensqualität im Arbeiten und die ökologisch intakte Umwelt "einer auf Wettbewerbsfähigkeit verkürzten Überlebenssicherung" (Pfriem 2011, 185) der Betriebe unterzuordnen.
Es gilt, nicht allein die Effizienz des Betriebs oder der Organisation zu bilanzieren, sondern auch ihren Beitrag zum guten Leben zu vergegenwärtigen.
Erforderlich wird ein "stofflich-vieldimensionaler Wertbegriff" im Unterschied zur Maxime "Wert ist, was Geld kostet oder bringt" (Freimann 1984, 22). In der "mehrdimensionalen Wertrechnung", die auch die schwer bezifferbaren Qualitäten berücksichtigt, "
... kann der Grad gesellschaftlicher Wohlfahrt nur durch Abwägung […] von quantitativen und qualitativen Faktoren (Lebensstandard und Lebensqualität) bestimmt werden, muss also durch politischen Dialog entschieden werden. Dies ist ein Nachteil hinsichtlich der modelltheoretischen Praktikabilität, entspricht jedoch in weit höherem Maße der Realität als die Reduktion ökonomischen Handelns auf monetarisierte und kommerzielle Vorgänge.
Hauchler 1985, 56)
Bereits mit dem Begriff der Lebensqualität kam Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik "eine integrale Wohlfahrtsfunktion" in den Blick. Lebensqualität ist eine Querschnittsaufgabe. Mit qualitativen Kriterien "als Beschreibungskategorien für politisch zu verantwortende Ist- bzw. Soll-Zustände" geht der Politik die "Abstraktion des Geldmediums verloren."
Und damit nicht genug: "Qualitative Indikatoren [...] lassen sich nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg und an ihren Selbst- und Situationsdeutungen vorbei festlegen" (Offe 1974, 5).
Notwendig wird die Ablösung der herkömmlichen eindimensionalen betriebs- und volkswirtschaftlichen Rechnungsweisen durch mehrdimensionale Erfolgskonzepte. Diese "komplexere Wertorientierung zerstört die (scheinbare) Rechenhaftigkeit, Eindeutigkeit und 'Eleganz‛ der ökonomischen Modelle. Das ist unbequem und desillusionierend" (Hauchler 1985, 58), wird aber angesichts der Unterkomplexität dieser Modelle gegenüber der Realität erforderlich.
Das "Kommensurierungsproblem"
Auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft stellt sich die Frage: Wie können verschiedene Vorgänge, Güter und Arbeiten gemessen und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden ("Kommensurierungsproblem"), ohne dass entsprechende Abstraktionen (etwa durch Bepreisung) sich zum Nachteil der Qualität von Gütern und Arbeiten auswirken?
Zwar muss es in jeder modernen Gesellschaft eine Rechenschaft davon geben, welche Ziele welchen Aufwand an Arbeitskraft und Ressourcen erfordern und wie viel Arbeitskraft und welche Ressourcen vorhanden sind.
Gegebenenfalls müssen in einer nachkapitalistischen Gesellschaft die Mitglieder der Bevölkerung darüber beraten und entscheiden, welche Ziele erst- und welche Ziele nachrangig erreicht werden sollen, wenn die Bedürfnisse die wirtschaftlichen Möglichkeiten übersteigen.
Die Berechnung fällt leichter, werden alle Arbeiten und Dienstleistungen an der Elle quantitativer Maßstäbe gemessen. Dies findet in der kapitalistischen Ökonomie statt. Hier entscheidet letztlich die Profitabilität.
Auch der Maßstab moderner Organisationen (Effizienz bzw. Minimax-Prinzip: möglichst viel Ergebnis bei möglichst geringem Kostenaufwand), wie er etwa in Betrieben der DDR offiziell angelegt wurde, ist relativ leicht quantifizierbar.
Die gute Krankenbehandlung, der gute Unterricht und der achtsame Umgang mit Senioren in der Altenpflege lassen sich jedoch nicht wie in einer Fabrik oder in einer die Steuererklärungen abarbeitenden Verwaltung effizient erledigen, ohne dem jeweiligen Arbeitsinhalt zu schaden.
Zudem ist in der nachkapitalistischen Gesellschaft die Arbeit selbst sowohl negativ (Vermeidung der Überarbeitung und Auslaugung der Arbeitenden) als auch positiv (Arbeit als Dimension der Bildung menschlicher Vermögen) viel stärker durch qualitative Vorgaben durchwirkt.
Diese Vorgaben unterscheiden sich von einer rein instrumentellen Zweck-Mittel-Logik (möglichst viel Ergebnis bei möglichst wenig Aufwand) ums Ganze. Das betrifft nicht nur die Seite der Arbeitenden, sondern bei Dienstleistungen auch die Seite der Personen, die als Schüler unterrichtet, als Kranke behandelt und als Senioren betreut und ggf. gepflegt werden.