Wie digitale Kommunikation unsere Gesellschaft moralisch korrumpiert
Seite 2: Die fragliche Form einer zukünftigen Gesellschaft
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Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Wofür also ist die gesellschaftlich feststellbare Tendenz, dass Positionen zunehmend rigide werden, Kontextualisierungen und Relativierungen – ein "Aber" – im Sinne einer "Cancel Culture" abgelehnt werden, eine "Lösung"? Wir gehen davon aus, dass diese Tendenz eine Konsequenz davon ist, dass digitale Kommunikation den Fokus auf Kosten von Sachlichkeit auf Personalität lenkt.
Es ist möglich, dass es mittels digitaler Formen von Kommunikation wieder, wie in der Vormoderne, zu einem Primat des Persönlichen vor dem Funktional-Sachlichen kommt.
Dabei ist derzeit noch schwierig abzuschätzen, auf welche Weise sich die Form der Gesellschaft aufgrund von digitalen, nutzerprofilbasierten Formen von Kommunikation ändern könnte.
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Eine Vorausschau könnte eine Entwicklung in China liefern.3 Charakteristisch für das (sich zukünftig etablierende?), nur mittels digitaler Formen von Kommunikation realisierbare chinesische Sozialkreditsystem ist, dass Gesellschaft in einer Form organisiert werden soll, bei der ein persönlich zugeschriebenes Merkmal, nämlich eine individuelle Kreditierung, den primären Maßstab liefert, wie Personen gesellschaftlich fungieren bzw. agieren können.
Etwa, welche Reisemöglichkeiten ihnen erlaubt sind oder zu welchen mehr oder minder günstigen Konditionen sie Zugang zu Finanzdienstleistungen erhalten.
Es mag ernüchternd wirken, dass soziale Entwicklung bzw. gesellschaftliche Evolution in unsere Perspektive nur sehr beschränkt durch menschliche Intentionen, etwa einem "vernünftigen, herrschaftsfreien Diskurs" (Jürgen Habermas), zu steuern ist.
Wenn es die je dominierende Form der Kommunikation ist, die wesentlich zu einem gesellschaftlichen Wandel führt, dann erfolgt dieser weitestgehend unbewusst, nicht-intentional und damit unvorhersehbar und ohne Telos. Also genauso, wie Evolution bezogen auf die Biosphäre.
Digitale, an Nutzerprofile gebundene und damit stets persönlich zurechenbare Kommunikation wird schlicht (instrumental) benutzt und stellt sich als praktikabel dar. Damit verbundener gesellschaftlicher Wandel ist gewissermaßen als unbeabsichtigte Nebenfolge zu verstehen.
Wobei ohnehin zu fragen ist: Welcher Instanz der modernen Gesellschaft (Politik? Wissenschaft? Protestbewegungen?) ist es zuzubilligen, die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu steuern?
Es ist die Praxis digitaler Kommunikation, die untergründig, nicht intentional zu einem Primat des Persönlichen vor dem Sachlich-Funktionellem führen kann. Moralische Kommunikation, etwa im Sinne einer "Cancel Culture", hat aufgrund der gesellschaftlich dominant werdenden digitalen Kommunikation an Bedeutung gewonnen. Auch hier gilt also Marshall McLuhans Leitspruch: "The medium is the message."
Aber dies war schon der Fall beim Übergang von stratifizierten Gesellschaftsformen hin zur funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. Auch der Erfindung des Buchdrucks und der sich entwickelten Buchkultur war kaum anzusehen, welche gesellschaftlichen Umwälzungen ihnen folgen würden.
Jörg Räwel ist Soziologe. Sein aktuelles Forschungsinteresse umfasst die Anwendung von Evolutionstheorien in den Sozialwissenschaften, die Entwicklung von Kommunikationstheorien der sozialen Medien und die Untersuchung des sozialen Wandels durch die »Digitalisierung« der Gesellschaft. Er ist Research Fellow am Next Society Institute an der Kazimieras-Simonavičius-Universität in Vilnius. Aktuelle Publikation: Räwel, J. (2022), Die nächste Gesellschaft: Soziale Evolution durch Digitalisierung, Velbrück Wissenschaft.
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