So können wir die Städte der Ukraine vor dem Krieg bewahren
Das Konzept der unverteidigten Städte spielt im Ukraine-Krieg bislang keine Rolle. Dabei hat es in der Geschichte viel Leid verhindert. Ein völkerrechtlicher Friedensvorschlag
Niemand weiß, wie der Krieg in der Ukraine weitergehen wird. Ob und wann er mit einem Friedensabkommen beendet werden kann, ist ebenso ungewiss. Bis dahin aber, und darüber gibt es keine Zweifel, werden die Kämpfe stärker, die Opfer an Menschen zahlreicher und die Zerstörungen immer furchtbarer.
Es wird zwar über die Einrichtungen humanitärer Korridore aus den Städten gesprochen, aber sie schützen nicht vor der Zerstörung der Städte.
Es wird auf oberer und oberster politischer Ebene untereinander und mit Vermittlern gesprochen, aber wir wissen nicht worüber.
Nur eines ist sicher. Die ökonomische und politische Konfrontation soll mit noch härteren Sanktionen verschärft werden, und der Widerstand gegen die russische militärische Übermacht, d.h. der Krieg, soll mit der Lieferung neuer und wirksamerer Waffen gestärkt und verlängert werden.
Die Voraussetzungen für einen strategischen Kompromiss zwischen USA und Nato auf der einen Seite und Russland andererseits sind offensichtlich noch nicht gegeben.
Die Ukraine liefert in diesem, nach dem Untergang des Ostblocks 1989/1990 neuen Kalten Krieg nur das bedauerliche heiße Schlachtfeld, welches allerdings auf dem "großen Schachbrett" von Zbigniew Brzeziński schon vor 25 Jahren vorausgesagt worden war.
In der Friedensbewegung wird gefordert, die Kriegslogik durch eine Friedenslogik zu ersetzen: "Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas." Alles alte Mahnungen, ein Reden gegen die Wand.
Es fragt sich doch: Gibt es für die Menschen auf diesem Schlachtfeld keine Alternative, als in dem blutigen Kampf um die strategische Hoheit im mehr oder weniger heroischen Widerstand unterzugehen?
Die Vorstellung vom möglichen Frieden ist offensichtlich immer noch so sehr militarisiert, dass in ihr Überlegungen einer Kapitulation oder der Erklärung von Metropolen zu "unverteidigten Städten" als blanker Defätismus undenkbar scheinen.
Diese Optionen bietet die Haager Landkriegsordnung
Eine Kapitulation ist ein offensichtliches Tabu, auch weil der ehemalige ukrainische und moskaunahe Präsident Wiktor Janukowitsch das vom gegenwärtigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gefordert hat.
Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkiw, aber auch Odessa und andere Orte sich zu "unverteidigten Stätten" erklären?
Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert:
Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschießen.
So allgemein und unscharf dieser Ausweg formuliert ist, er ist während des Zweiten Weltkrieg von zahlreichen Städten in der Angst vor der brutalen Kriegsführung der Nazi gewählt worden: Rotterdam 1940, Paris, Brüssel, Belgrad 1941, Rom 1943, Orvieto, Florenz, Athen 1944 etc.
Nicht immer hat diese Erklärung die Städte vor der brutalen Zerstörung durch die deutsche Armee bewahrt. So wurden Rotterdam und Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert.
Noch kurz vor Kriegsende im April 1945 konnten sich zwei deutsche Städte, Ahlen und Gotha, erfolgreich vor den Angriffen der Alliierten durch ihre Erklärung zu "offenen Städten" schützen.
Magdeburg hingegen erklärte sich am 7. April 1945 nicht zur "offenen Stadt", sondern zur Festung, die sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Nach einem schweren Luftangriff zwölf Tage später wurde die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht und von den US-Amerikanern besetzt.
1977 wurde das Konzept vom ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Artikel 59 fast wortgleich übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung in Absatz zwei hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein.
Militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden. Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen. Schließlich darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.
In vergangenen Kriegen wurden so viele Städte gerettet
In den Kriegen der Nachkriegszeit, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien spielten "unverteidigte Städte" als effektiver Schutz vor Zerstörung und Vernichtung faktisch keine Rolle.
Das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen ging in den Kampfhandlungen regelmäßig unter. Die zahlreichen Kriegsverbrechen wurden nur im Jugoslawienkrieg und dort vorwiegend nur gegen Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosnier verfolgt. Die Seite der Angreifer, der Nato, blieb ungeschoren. Es war schließlich ihr Gericht.
Das Konzept der "unverteidigten Orte" ist aus dem humanitären Völkerrecht nicht getilgt worden. Es ist vergessen worden. Was spricht dagegen, es jetzt wieder hervorzuholen? Die Vereinbarung eines Waffenstillstandes ist ungewiss und mag noch lange auf sich warten lassen.
Die Opfer und das Leiden, Flucht oder Tod sind das Einzige, was die Menschen in den belagerten Städten mit Sicherheit erreichen werden. Sie haben faktisch nur die Wahl zwischen einer russischen Besatzung in einer halbwegs noch intakten oder weitgehend zerstörten Stadt.
In der Kriegslogik mag die Übergabe der "offenen Stadt" als Feigheit vor dem Feind gelten, in der Friedenslogik ist es die Klugheit vor einem Gegner, mit dem man sich in einer verträglichen Form auch nach dem Krieg arrangieren muss – um der Menschen willen.
Norman Paech ist Jurist und lehrte als Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. Er gehörte von 2005 bis 2009 dem 16. Deutschen Bundestag an, unter andertem als außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke