So verändert der Krieg Russland - und das sind drei mögliche Szenarien

Seite 3: Die drei Szenarien des Krieges in der Ukraine

Der Wiederaufbau in den zerstörten Städten der Ostukraine, die von Russland besetzt und annektiert wurden, etwa Mariupol, bietet Zehntausenden von Bauarbeitern Arbeit, die ebenfalls gut bezahlt werden. Unabhängig von seiner langfristigen Wirksamkeit kurbelt dies die nationale Wirtschaft an und trägt zum Wiederaufbau des Sozialstaates bei.

Putins jüngste Reden deuten auf neue "soziale" und "antikoloniale" Töne hin, mit ungewöhnlicher Kritik an den Oligarchen, die ihre Paläste und Jachten nicht mehr in London oder an der Côte d'Azur genießen können. "Das Volk hat kein Mitleid mit ihnen", sagte Putin und rief die Reichen, die ihre Gewinne nicht mehr in Steuerparadiese flüchten können, zu patriotischen Investitionen in die nationale Wirtschaft auf.

All dies zielt darauf ab, einen neuen sozialen Konsens im Lande zu schaffen, dessen Entwicklung genau beobachtet werden muss.

Der Krieg lässt verschiedene Szenarien zu, von denen keines gut ist, aber einige wahrscheinlicher als andere. Nach Ansicht des französischen Politikwissenschaftlers Jacques Sapir ist es nicht auszuschließen, dass die ukrainische Offensive mit Hilfe der von den Nato-Ländern bereitgestellten Panzer- und Luftstreitkräfte die von der russischen Armee besetzten Gebiete doch noch zurückerobert und sogar bis zum Meer vordringt, um das besetzte Gebiet in zwei Teile zu spalten. Doch diese Option ist von allen am unwahrscheinlichsten.

In einem solchen Szenario könnte der Konflikt mit einem Waffenstillstand nach koreanischem Vorbild eingefroren werden, d.h. ohne Verhandlungen, ohne Waffenstillstand, ohne Friedensabkommen.

In einem zweiten, noch gefährlicheren Szenario bricht die ukrainische Armee in den kommenden Monaten zusammen, Russland rückt vor und Polen interveniert auf eigene Faust militärisch, ohne die Nato einzuschalten.

In der Ukraine kämpfen bereits Tausende polnische Militärs in der ukrainischen Armee. Aber was hier auf dem Spiel steht, ist ein offenes und vollwertiges militärisches Eingreifen der polnischen Armee.

Es sei daran erinnert, dass Polen in seiner Nationalgeschichte auf eine lange Reihe katastrophaler Entscheidungen zurückblickt, indem es sich mit überlegenen Mächten anlegt und die Aufteilung seines Territoriums provoziert hat.

Honoré de Balzac, der mit einer ukrainischstämmigen polnischen Adligen verheiratet war, warnte vor dieser Tendenz bereits im 19. Jahrhundert. Wenn er an eine Klippe gelangt, sagte er, dann springe der Pole immer von ihr herunter.

Seit Beginn des Konflikts hat Polen die irrsinnigste kriegerische Haltung in der gesamten Europäischen Union an den Tag gelegt, indem es seine Armee verstärkte und ein militärisches Eingreifen der Nato sowie die Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen auf seinem Territorium forderte.

Mit seiner Ankündigung, strategische Atomwaffen in Weißrussland zu stationieren, scheint sich Putin auf den Fall einer polnischen Militärintervention vorzubereiten, deren Folgen unvorhersehbar wären.

Drittens das "Mannerheim-Szenario", das Sapir für wahrscheinlicher hält als die beiden anderen: Russland dringt langsam in ukrainisches Gebiet vor und die Ukraine erklärt sich irgendwann bereit, über Gebietsverluste und Neutralisierung zu verhandeln.

Genau das tat das Finnland von Carl Gustaf Emil Mannerheim nach dem kurzen "Winterkrieg" 1939-1940 mit der UdSSR, die die Verteidigung Leningrads durch eine Ausweitung ihres Territoriums auf Kosten Finnlands zu sichern suchte.

Mannerheim gab elf Prozent des Staatsgebiets ab und erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein konsolidiertes Gleichgewicht mit einem stabilen und neutralen Finnland.

Die drei Szenarien, die Sapir am 21. März 2023 in einer Rede zusammen mit Emmanuel Todd vorstellte und die auf Youtube abrufbar sind, veranschaulichen die Bandbreite der möglichen Entwicklung. Einige von ihnen sind gefährlicher als andere. Aber alle sind mit ernsten Risiken verbunden.

Krieg ist für den Globalen Norden als Ganzes eine Katastrophe ohnegleichen. Er ist eine kriminelle Verschwendung der Zeit der Menschheit im Anthropozän. Die "rechte Linke", die ihn mit Waffenlieferungen anheizen will, täte gut daran, den Schuss zu korrigieren und sich von einem anderen französischen Autor inspirieren zu lassen, Boris Vian (1920-1959). Vian war der Autor des berühmten Chansons "Der Deserteur".

Hunderttausende junger russischer Männer haben das Land auf der Flucht vor einer möglichen Einberufung verlassen. Im März 2022 befanden sich Hunderttausende ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter in Polen, die nicht in ihre Heimat zurückkehrten, um zu kämpfen.

Offiziellen ukrainischen Quellen zufolge hatten die Behörden bis Dezember desselben Jahres mehr als 12.000 Personen festgenommen, die versucht hatten, die Grenze illegal zu überqueren, um der Einberufung zu entgehen.

Einige erfroren bei dem Versuch, aus der Ukraine in die Karpaten zu fliehen, oder ertranken in den Grenzflüssen. Inmitten des Trommelfeuers und der verbrecherischen Infamie des Krieges sind sie die wahren Vertreter der menschlichen Hoffnung.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem kürzlich auf Spanisch erschienenen Buch "Ucrania, la guerra que lo cambia todo" (Ukraine – Der Krieg, der alles verändert hat).

Rafael Poch de Feliu ist spanischer Journalist. Er ist seit 35 Jahren Korrespondent, die meiste Zeit davon in der UdSSR/Russland und China. Er hat zudem in Berlin und Paris gearbeitet.

Dieser Beitrag erschien auch bei Globalter, einem Partnerportal von Telepolis.

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