Social Media: Wie Cringe, Ekel und Empörung das eigene Denken unterbinden

Warum soziale Medien uns intellektuell nicht voranbringen können. (Teil 2 und Schluss)

Im ersten Teil dieses Essays wurde beschrieben, wie soziale Netzwerke per se eingehende Debatten und eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Inhalten unterbinden und soziale Interaktion vorgaukeln. Wer sich in Social Media bewegt, akzeptiert, zu pöbeln und zu provozieren sowie bepöpelt und provoziert zu werden. Welche Schlussfolgerungen man daraus ziehen kann, lesen Sie nun hier im zweiten und letzten Teil.


Der Intellektuelle wurde zum öffentlichen Intellektuellen und dann zum Medien-Intellektuellen.

Als das nicht mehr reichte und er beschloss, ganz aufs Denken zu verzichten, sank er zum sozialmedialen Intellektuellen herab. Das passende Wort für diesen wäre eigentlich "Sozial-Intellektueller": eine Art Kümmerer, ein Sozialarbeiter für jene, die in Facebook-Kommentarspalten oder Twitter-Comments ihre seelischen Ausnahmezustände oder Empfindungen im Lichte ihrer Ahnungslosigkeit für Gedanken halten.

In den Aufregungswellen der sozialmedialen Bubble-Wars geschieht eine Verseelichung und eine Somatisierung von Politischem, Inhaltlichem, Geistigem – und damit ein reaktionäres Umschlagen der Quantitäten (Inhalte) in Qualitäten (Form):

Wer sich in der Sphäre von Cringe, Ekel und Empörung bewegt, tötet das Denken selbsttätig und mit Nachdruck ab, indem er es durch Affekte ersetzt. Es ist dann egal, ob er die Produkte dieser Affekte, die wohl im Ernst niemand mehr als Gedanken bezeichnen wird, als linke oder rechte, als kritische oder affirmative, als politische oder lyrische missversteht.

Die Identitäten hier sind keine gesellschaftlichen mehr, weil sie nicht in der direkten sozialen Erfahrung geprägt werden, sondern qua Social Media vermittelt und damit selbst bloß vermittelte, Medium bleiben.

Der Körper gerät so zur Projektionsfläche: Der User empfindet, was er meint, das andere an die Sozialmedien Angeschlossenen empfänden. Auf die Scham folgt dann die Aufforderung, der andere möge sich bitte schämen. Geistige Prozesse finden hier nicht mehr statt, es wird auf eine Überfülle an Empfindungen ausgewichen.

Ein zur Religion gewordener Positivismus eint in dieser Umgebung alle Seiten: Kritiker wie Kritisierte finden sich zusammen in der Angst vor dem Denken. Lieber schlagen sie sich ihre Nächte mit den immer gleichen Diskussionen gegen dieselben Leute um die Ohren, als nur einmal zur gedanklichen Konsequenz zu gelangen. Es ist dies auch ein Positivismus, der Linke dazu bringt, etwa die Leute, die sie eigentlich bekämpfen oder zumindest verachten müsste, sozialmedial zu "erreichen" versucht.

Die Erkenntnis, dass "die Deutlichkeit die Höflichkeit der Kritiker" (Marcel Reich-Ranicki) sei, bleibt den Social-Media-Aktivisten verschlossen, weil deren Praxis ihnen bloß wie übertriebene Streitsucht erscheint, statt als Anreiz zur Auseinandersetzung und damit Möglichkeit intellektueller Entwicklung.

Das Pathos derweil, mit dem sie sich so oft an eine relevante Öffentlichkeit zu wenden meinen, können sich die Bewohner der Bubbles nur leisten, weil sie in Wahrheit wissen, sie wenden sich an keine relevante Öffentlichkeit, sondern nur an die heile Welt ihrer sorgfältig selektierten, gefilterten Mitglieder ihrer Filterblase.

Jeder hat hier seinen auf die persönlichen Ideologie-Bedürfnisse zugeschnittenen Meinungskorridor, in dem man das Ganze niemals wird überblicken können. Trotzdem kultivieren die Sozialmedialen den Gestus, sie hätten über diese engen Grenzen hinaus etwas zu sagen und ziehen gerade aus dieser Illusion die Legitimation für ihre Meinungen. Das macht die Schalheit ihrer Urteile, Losungen und Vorschläge aus, die so ungültig sind wie ihre Verfasser unernst.

In den sozialen Medien, deren Logik auch außerhalb des Netzes zunehmend zur Gültigkeit strebt, weil sich mit ihr eine Gesellschaft als ganze besser in für die herrschende Klasse übersichtliche Parzellen aufteilen lässt, offenbart sich damit eine Form totaler Demokratie unter Bedingungen des Monopolismus: ein Absolutismus der zufälligen Meinungen von qua undurchsichtigen Algorithmen hochgespülter Geistlosigkeit.

Das Verwechseln der eigenen, privaten Bubble-Öffentlichkeit mit der tatsächlichen hat indessen eine weitere Fragmentierung, ja Zerstörung von Öffentlichkeit zur Folge, die sich bis zum Begriff des Öffentlichen selbst ihre Schneise schlägt. Wo jeder Privatkitsch inzwischen als auch öffentlich relevant gilt, ist der Öffentlichkeitsbegriff bereits diffus geworden: Es gelingt vor allem den gewerbsmäßigen Social-Media-Usern nicht mehr zwischen Privat und Öffentlich zu differenzieren.

Damit aber fällt auch der Grundsatz jedes Gesellschaftsbegriffs weg: Gesellschaft ist gerade ein balanciertes Aushandlungsergebnis von beiden. Bei Marx und Engels, die darauf beharrten, die wesentliche Ungleichheit in bürgerlichen Gesellschaften bestehe darin, dass die Öffentlichkeit vom Privat-Eigentümer instrumentalisiert wird, nämlich der Kapitalist zwar öffentlich produziert, aber sich das Mehrprodukt privat aneignet, ist diese Erkenntnis aufgehoben und wartet seit geraumer Zeit auf ihre Praxis.

Während von Demokratie-Kritikern das bürgerliche Parlament als bloße Quasselbude bemäkelt wurde, sind es inzwischen die sozialen Medien, die die passende Quasselbude zur jeweiligen Politik darbieten; es erfordert nicht mehr viel an gesetzlicher Umgestaltung, um sie zu den Potemkinschen Dörfern des bürgerlichen Staates zu machen, auf die dieser verweisen kann, wann immer die Monotonie der Öffentlichkeit kritisiert wird: Das Medialsoziale wird einfach zum Öffentlichen umetikettiert, obwohl es privaten Gesetzmäßigkeiten entspricht. So kann tatsächliche Öffentlichkeit abgeschafft werden, ohne dass es groß bemerkt wird.

Das hat freilich handfeste materielle Ursachen und Zwecke: Indem das Internet mit der zunehmenden Kommerzialisierung in den letzten 20 Jahren zu einem Gewerbe gemacht wurde, hat das auch die anfänglich ermöglichte Form von Öffentlichkeit zu einer Plattform für privaten Gewinn gemacht. Das Diskussionsforum wurde zum Marktplatz, das Geschwafel damit heruntergebracht auf sein Wesentliches: den ökonomischen Nutzen anderer.

Mit der Freiheit des Gewerbes vollzog sich die Umwandlung der Öffentlichkeit in einen Raum der Werbung. Das Internet im Kapitalismus geht auf in der Reklame, und zwar gerade dort, wo sie am wenigsten vermutet wird, wo der geringste Verdacht aufkommt. Auf der sozialmedialen Plattform des Monopolisten wird der aufklärerisch gemeinte Satz zum Anlass für Beschäftigung mit Nebensächlichem; zum Forum der Gegenaufklärung wird gerade das kritisch Gemeinte, wenn es sich der Bubble-Logik anvertraut und damit den Partikularismus bedient.

Was etwa an subkultureller, linker Diskussion bis vor ein, zwei Jahrzehnten in Zeitschriften wie Spex, De:bug oder Testcard stattfand, kann man heute in den kulturlinken Facebook-Bubbles finden. Einerseits offenbart das den Zustand linker Theorie, die in den sozialen Medien nun gänzlich zu einer poplinken geworden ist und auf Materialismus nahezu völlig verzichtet.

Andererseits entzaubert es aber auch die vorherigen Formen eines auf links getrimmten Überbau-Spektakels, welche käuflich, also zur Ware gemacht werden konnten, weil die Selbstausbeutungsbereitschaft ihrer Macher noch nicht so ausgeprägt war, wie die der sich heute unentgeltlich selbst ausbeutenden Social-Media-Kommentierer.

Wo die Geistlosigkeit sich einmal als Konvention im Sinne der Rücksichtnahme und Höflichkeit durchgesetzt hat, haben die User außer ihrer Privatperson keine Inhalte mehr. Was sie für ihre Person halten, haben sie im Netz zur zu bewerbenden Ware ("Identität") und damit zum Dreh- und Angelpunkt von Diskussion gemacht.

Die Distanzierung vom eigenen Ich, das Einnehmen einer öffentlichen Rolle, die die Schrullen der Privatperson außen vor lässt, war als Errungenschaft der Moderne notwendig für eine auf Vernunft und zumindest dem Versuch eines objektiven Urteils beruhenden Diskussion.

Von den durchs Netz geprägten Menschen wird heute wieder das Gegenteil erwartet, nämlich eine Authentizität der Privatperson, die kolumnistisch aus ihrem Alltagsleben plaudert.

Die Social-Media-Persönlichkeit geht mit ihrem Bubble-kompatiblen Image hausieren, ihr Mittel der Reklame ist die eigene Meinung. Sie ist daher im wahrsten Wortsinne post-modern: Jeder will heute Künstler sein, aber kaum wer hat noch die Befähigung dazu. Der Künstler war der Mensch, dessen persönliche Lebenswelt mit der öffentlichen verschmolz und dessen Privatleben daher bis zu einem gewissen Grad auch von allgemeinem Interesse war.

Das gleichförmige Alltagsleben von austauschbaren Kulturbetrieb-Belieferern ist es nicht. Dass nun also das (die Öffentlichkeit betreffende) Prinzip des Gesetzes durch seine private Form (das Prinzip der Moral) ersetzt wird, ist da nur konsequent.

Passend fügt sich hier die Arbeit an einer Moralität ein, die bezeichnenderweise das Ideal der Nazis gewesen ist: "Der totale Staat wird keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral", bellte Adolf Hitler 1933. Wenn sich nun mithilfe der sozialen Medien ausgerechnet Hitlers Gesellschafts-Vision durchzusetzen pflegt, sollte das zumindest Linken zu denken geben.

In den 1970ern wollten manch Subversivere unter ihnen noch den Familienkitsch überwinden; die heutige Linke zelebriert ihn in ihrer vollendeten Harmlosigkeit jetzt online mit unzähligen Fotos und Erzählungen, und – das ist das ironische – ausgerechnet in der Öffentlichkeit. Das wäre für sich erst mal nicht weiter von Belang.

Das Problem aber ergibt sich, wenn in diesem öffentlichen Medium andere sie und ihre Urteilsfähigkeit dann folgerichtig an ihren eigenen Kriterien – nämlich denen der falschen Vermittlung ihrer Privatsphäre und ihrer Übertragung in die sozialmediale – messen: Das wiederum sei unhöflich, zudringlich, gar nicht nett. Dass ihre Prinzipien auch für andere gelten sollen, möchten sie nicht einsehen.

Plötzlich soll ihr Privates gar nicht alles privat und subjektiv, sondern öffentlich und objektiv gemeint gewesen sein, und gleichzeitig ihr Objektives und Öffentliches bloß subjektiv und privat – die Rede ist dann etwa von einer "Privatmeinung", die gleichwohl öffentlich kundgetan wird.

Die einzige Gemeinsamkeit, die den Individuen heute noch geblieben ist, das Private, integriert letztlich noch die radikalsten Linken in den Liberalismus, der ihnen nicht mehr erlaubt, sondern sie dazu zwingt, ihr Privatleben öffentlich zu machen, wollen sie am Gemeinsamen partizipieren.

Solche Entwicklungen waren es, die Linke, Kritiker, Intellektuelle einmal zurecht als einen genuin durch die kapitalistische Produktionsweise und bürgerliche Vergesellschaftung erzeugten Konflikt reflektiert haben und überwinden wollten. Heute arbeiten sie an seiner Festigung mit.

Dass die Familienfeiern nun mitten auf dem Dorfplatz veranstaltet werden, ist dem umgänglichen Sozialmedialen selbstverständlich, die Reaktionen darauf aber sind ihm ein Rätsel: schließlich sei man doch so wohlmeinend und wolle sich bloß austauschen. Die subtile Tyrannei der Umgänglichkeit, die freilich immer im Dienste der herrschenden Unumgänglichkeiten steht, ist sich keiner Schuld bewusst – ihre Schuld ist die ausgestellte, totale Unschuldigkeit in allen Belangen.

Sie drückt sich heute am frenetischsten aus in der sich hyperjovial gebenden privaten Umgänglichkeit von vor allem Grünen-Politikern in Regierungsämtern. Diese öffentlichen Personen, scheint es, haben wirklich nichts mehr zu verbergen, scheinen keine Maskierung mehr nötig zu haben, gehen auch als Privatmenschen voll auf in ihrer politischen Funktion und erzeugen nicht mal mehr den Eindruck einer Trennung von Offiziellem und Persönlichem.

Zweifellos handelt es sich auch bei der Maskenlosigkeit wieder um eine Maskerade: Nur um eine, die – als Natürlichkeit mystifiziert – den Maskierten selber nicht bewusst ist.

Wenn ein Robert Habeck mit Stahlhelm und kugelsicherer Weste nach Waffen rufend neben dem Panzer hockt, dann ist das die Socialmedialisierung der Öffentlichkeit, und zwar im eigentlichen Sinne des Worts: der sozialen Vermittlung des politisch nicht mehr vermittelbaren.