Solidarität nur gegen politischen Nutzen

Seite 2: Die Opfer der "zivilisatorischen Normalität"

Zu den Opfern im zweiten Bereich: Vor ein paar Wochen berichteten einige Nachrichtenportale, meist außerhalb des Mainstreams, von einer Studie, die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung erstellt wurde. Demzufolge waren im Jahr 2020 lediglich 3,4 Prozent der Patienten auf Intensivstationen wegen einer Covid-19-Erkrankung dort (und nur 1,9 Prozent der Krankenhauspatienten).

In der Aufregung darüber, wie erstaunlich gering die Belastung deutscher Kliniken durch Corona-Patienten doch sei, ging die andere in den Zahlen enthaltene Frage völlig unter: Warum lagen die restlichen 96,6 Prozent der Menschen auf Intensiv, bzw. die anderen 98,1 Prozent im Krankenhaus?

Vordergründig betrachtet lassen sich als Antwort hier einige typische Gründe aufzählen wie schwere Unfälle, eskalierte Zustände längerer Krankheiten, schwere Operationen, ungeplante Komplikationen und plötzliche Verschlechterung des Gesundheitszustands während Behandlungen, dabei speziell Thrombosen, Lungenembolien und Herzüberlastung, Multiorganversagen und Kreislaufzusammenbruch, ernsthafte Entzündungsreaktionen des Körpers nach Verletzungen und Operationen, Blutvergiftung (Sepsis), Erkrankung der peripheren Nerven, akute Verwirrungssituationen (Delir) u.a.

Doch was verursacht diese Zustände, bzw. was bringt Menschen auch über längere Zeiträume gesehen in diese gesundheitlich kritischen Situationen? Sind all diese Patienten durch ein Naturereignis schwer erkrankt, für das niemand verantwortlich gemacht werden kann? Oder ist ihre Erkrankung auf ganz bestimmtes Verhalten innerhalb zivilisatorischer Gewohnheiten und Alltagsnormen zurückzuführen?

Sind die Ursachen ihrer Krankheit unvermeidbar, weil existenziell notwendig für das Funktionieren einer freien und demokratischen Gesellschaft? Oder sind es Nebeneffekte der ganz speziellen Art und Weise des Wirtschaftens, des Konsumierens und des Arbeitens, also der Spielräume, welche die Politik und die Eliten unserer Gesellschaft vorgeben?

Sind Menschen, die an sogenannten Zivilisationskrankheiten leiden oder denen zivilisatorisch typische Formen von Unfällen passiert sind, ausschließlich selbst für ihren Zustand verantwortlich? Oder muss man den Gestaltern der dominanten zivilisatorischen Wirklichkeit mindestens eine Mitschuld zuschreiben? Immerhin wirkt die Routine des herrschenden Wirtschaftssystems, seine Werbung, seine "falsche Erziehung", ja seine "Dressur" immer tiefer bis in die letzten Privatbereiche hinein.

Sehr wahrscheinlich gäbe es ohne die bestimmenden konsumistischen Moden und die aus wirtschaftlichem Kalkül beworbenen und aufgenötigten, nicht artgerechten Verhaltensweisen für die Spezies Homo Sapiens viele dieser Krankheiten, bzw. deren Ursachen gar nicht. Muss man den Verteidigern der herrschenden wirtschaftlich-konsumistischen Routine damit nicht sogar die volle Verantwortlichkeit für diese Krankheiten und ihre Folgen anlasten?

Der Begriff Zivilisationskrankheiten selbst kann bereits als manipulativ angesehen werden. Er suggeriert bei oberflächlicher Betrachtung, dass als Preis für einen gewissen Wohlstand immer auch das Vorhandensein bestimmter Krankheiten akzeptiert werden müsse. Man könnte annehmen, es gelte ein Entweder-oder-Prinzip: Entweder Zivilisation, auch mit bestimmten Krankheiten, oder Verzicht auf Wohlstand. Dem muss man entgegenhalten, was auch Wikipedia schreibt:

Da nicht die Zivilisation als solche, also nicht die Errichtung einer bürgerlichen Ordnung, technischer und medizinischer Fortschritt gesundheitsgefährdend sind, sondern manche, in industrialisierten Ländern verbreitete Lebensstile, Verhaltensweisen und Umweltfaktoren, ist der Begriff Zivilisationskrankheit von der Definition des Begriffs "Zivilisation" abhängig.

Warum sollte also nicht eine menschenverträgliche Form von Zivilisation denkbar sein, in der eben keine Lebensgewohnheiten gepflegt werden, die zur menschlichen Anatomie, zum menschlichen Stoffwechsel und zur gesunden Psyche nicht passen?

Diese müsste wesentlich mehr körperliche Bewegung einfordern oder im Alltag automatisch bedingen und ganz andere Ernährungsgewohnheiten und -qualitäten zum allgemeinen Standard erheben. Auch müssten das Erleben des Alltags und die überwiegenden psychischen Eindrücke andere, erfüllendere sein.

Wie genau so etwas aussehen sollte, ist im Prinzip bereits wissenschaftlich erforscht. Die Evolutionsmedizin beispielsweise kann detaillierte Auskunft über artgerechte und damit gesundheitserhaltende Ernährung und Bewegungsnotwendigkeiten geben.

Die Evolutionspsychologie wiederum untersucht psychische Krankheiten, psychosomatische Wirkungen und die breite Palette psychosozialer Auffälligkeiten auf ihre Ursachen und auf die Unverträglichkeit mit psychischen Mustern, die dem Homo Sapiens evolutionär bedingt als positiv oder negativ wirkend zugeschrieben, also untrennbar eigen sind.

500.000 Opfer neoliberaler "Zivilisation" jährlich

Die entscheidende Frage ist wohl, ob eine bessere Definition von Zivilisation, die sich auf Krankheitsvermeidung stützt, sich noch mit neoliberaler Konsumnotwendigkeiten, mit festgeschriebenen Profiterwartungen und mit den realitätsfremden Zivilisationsnarrativen der Standard-Medien vereinbaren ließe.

Es gibt keinen Grund zu glauben, dass diese Zusammenhänge den Politikern und den anderen Gestaltern der wirtschaftlichen Realität unbekannt seien. Vielmehr ist die Absicht zu erkennen, alle Verhältnisse wegen der gewissen Systemrelevanz so zu belassen, wie sie sind. Wenn der Euro und der US-Dollar dadurch rollen, nimmt man die Zunahme qualitativ schlechter Ernährungsgewohnheiten, chronischen Bewegungsmangels und das psychische Leid der meisten Menschen hin.

Insofern sind alle diese Krankheiten genaugenommen Kollateralschäden der herrschenden ökonomischen Ordnung und nicht die Voraussetzung dafür, zivilisierte Verhältnisse in der Gesellschaft zu halten und Wohlstand zu erlangen. Unter dem Solidaritäts-Aspekt betrachtet müsste man dieses Festhalten der Politik und der wirtschaftlichen und medialen Eliten an dieser destruktiven Wertigkeit als mindestens fahrlässige Tötung in mehreren Hunderttausend Fällen pro Jahr ansehen.

Um welche jährlichen Todesopfer-Zahlen es hier geht, zeigt folgende Auflistung:

  • Herz- Kreislauf-Erkrankungen: 160.000;
  • Luftverschmutzung: bis zu 120.000;
  • Tabaktote: 127.000;
  • Alkoholtote: 74.000;
  • Verkehrstote: 3.000 (nach Definition), inoffiziell eher weit über 6.000;
  • Lärm: 2.400, plus eine sicherlich hohe Dunkelziffer;
  • psychische Störungen und Verhaltensstörungen; 58.000.1

Addiert ergeben sich über 500.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr. Davon könnte man einerseits mögliche Fälle von Überschneidungen, einen Teil psychischer Krankheiten und geringe Sockelzahlen noch abziehen, müsste aber andererseits eine hohe Dunkelziffer zu Ursachen verfrühten Sterbens hinzurechnen, die noch nicht abschließend wissenschaftlich erforscht sind, wie z.B. Mikroplastik und Pestizide in der Atemluft, Medikamentenmissbrauch, elektromagnetische und radioaktive Strahlung oder längerfristig sich aufbauende psychosomatische Wirkungen.

Zusammengenommen belasten diese Krankheiten die deutsche Gesellschaft und das Gesundheitssystem mit jährlich mindestens 350 Milliarden Euro zusätzlich (Quellen dazu hier).

Mit einem Bruchteil dieses Geldes könnte man leicht den Nettoverdienst sämtlicher Pflegekräfte in Deutschland verdoppeln. Auch sollte man aufhören, die 3,4 Prozent der Covid-19-Patienten für mögliche Überlastungen deutscher Intensivstationen verantwortlich zu machen, und vielmehr die Krankheitsursachen der anderen 96,6 Prozent schwer erkrankten Menschen dort zum Anlass gesundheitsschützender Maßnahmen nehmen.

Solcherlei Maßnahmen jedoch würden die Profiterwartungen etlicher wirtschaftlich bedeutsamer Unternehmen und Branchen teilweise vereiteln und deren Geschäftsfeld empfindlich zurückstutzen. Und da im herrschenden Wirtschaftssystem die Gewinne solcher Strukturen nicht angetastet werden dürfen, genießt auch hier der Gesundheitsschutz und die Solidarität mit den Betroffenen keine politische Priorität.