Soziale Ungleichheit macht krank!
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Verringerung der Ungleichheit kann daher zur Verringerung chronischer Krankheiten beitragen. Plädoyer für eine gerechte und solidarische Gesundheitsversorgung. (Teil 1)
In einer ersten Annäherung an mein Thema möchte ich klarstellen, dass aus meiner Sicht eine Gesundheitsversorgung dann als "gerecht" anzusehen ist, wenn sie gleichen Zugang für alle Bürger gewährleistet und für Diagnostik und Behandlung allein Art und Schwere der Krankheit entscheidend sind, und dass sie als "solidarisch" qualifiziert werden kann, wenn jeder Bürger entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit in die Krankenversicherung einzahlt und entsprechend seinem individuellen Bedarf medizinische Leistungen erhält.
Das war während meiner Facharztausbildung zu Beginn der 1970er-Jahre eine Position, mit der wahrscheinlich die Mehrheit meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus übereingestimmt hätte. Heute ist man damit eher ein Außenseiter. Das zeigt, wie sich die geistige Landschaft in Deutschland in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
Es sei aber daran erinnert, dass man sich mit dieser Ansicht in guter Gesellschaft befindet, lautet doch der Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 (Kurzfassung):
"Jeder Mensch hat das Menschenrecht auf einen für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden geeigneten Lebensstandard, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und notwendige soziale Leistungen".
Der Artikel 25 steht in der Tradition der Aufklärung, geht von einer Gleichwertigkeit aller Menschen aus und steht damit im Gegensatz zu allgegenwärtigen neoliberalen Vorstellungen wie zum Beispiel "Jeder ist allein seines Glückes Schmied", wobei der erfolgreiche Schmied angeblich mehr Anrecht auf eine gute Gesundheitsversorgung hat als der weniger erfolgreiche, weil die Gesundheit käuflich und eine Ware geworden ist.
Meine Position ist dagegen: Die Arztpraxis sollte keine Kaufhalle, Krankenhaus und Klinik sollten kein Supermarkt und die Gesundheit darf keine Ware sein, sondern ist ein Menschenrecht!
Soziale Ungleichheit, Lebenserwartung und chronische Krankheiten
Die UNO unterscheidet in ihren Publikationen zwischen Ländern mit hohem Einkommen, den sogenannten reichen Ländern, wozu etwa die USA, die Länder der EU, Kanada, Australien, Neuseeland, Singapur und Japan gehören, Ländern mit mittlerem Einkommen, den Schwellenländern, wie Brasilien, China und Russland, und Ländern mit niedrigem Einkommen, den sogenannten armen Ländern, zu denen die Länder in Subsahara-Afrika (mit Ausnahme von Südafrika) gehören.
Seit Langem ist bekannt, dass die individuelle Lebenserwartung in jedem einzelnen Land mit dem individuellen Einkommen korreliert. Das gilt für die reichen und die ärmeren Länder gleichermaßen.
Bei der üblichen Einteilung der Bevölkerung in fünf Einkommensschichten bestand zum Beispiel 2007 in Deutschland zwischen der reichsten und der ärmsten Einkommensposition ein Unterschied von 10,8 Lebensjahren bei Männern und 8,4 Lebensjahren bei Frauen1. Diese Differenz entspricht in ihrer Größenordnung der unterschiedlichen Lebenserwartung, wie sie zwischen Rauchern und Nie-Rauchern bei uns festzustellen ist.
Für die durchschnittliche Lebenserwartung bestehen jedoch andere Zusammenhänge.
Während in den armen Ländern und den Schwellenländern die durchschnittliche Lebenserwartung mit dem durchschnittlichen Einkommen pro Kopf der Bevölkerung korreliert und entsprechend ansteigt, ist seit Anfang der 1990er-Jahre bekannt, dass diese Korrelation in den reichen Ländern nicht festzustellen ist. Hier sind die durchschnittliche Lebenswartung und viele weitere gesundheitliche und soziale Parameter mit dem Grad der sozialen Ungleichheit in diesen Ländern korreliert.2
Die entscheidende neue Erkenntnis ist, dass Sterblichkeit, Gesundheit und viele soziale Probleme in den vermögenden Ländern weniger von ihrem Reichtum insgesamt abhängen, sondern von der Verteilung des Reichtums. Je gleicher dieser verteilt ist, desto besser ist die Volksgesundheit.3
Diese Erkenntnis, aus der sich wichtige gesundheits- und sozialpolitische Folgerungen ergeben, ist in dem 2009 erschienenen Buch mit dem Titel "The Spirit Level. Why more equal societies almost always do better" von Richard Wilkinson und Kate Pickett eindrucksvoll dargestellt worden. Dieses Buch gilt bis heute als ein Meilenstein der Sozialwissenschaften.4
Die deutsche Übersetzung ("Gleichheit ist Glück"5) hat leider einen etwas missverständlichen Titel, denn es geht in diesem Buch ja nicht um die großen Worte Gerechtigkeit und subjektives Glücksempfinden, sondern um objektive gesundheitliche und soziale Indikatoren für Wohlergehen, Wohlbefinden und Lebensqualität.
Deshalb wurde wohl auch der Titel der 2016 erschienenen deutschen 5. Auflage verändert und heißt jetzt "Gleichheit. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind"6. Diese Ausgabe des Buches von Wilkinson und Pickett gibt es zum ersten Mal als preiswertes Taschenbuch und es enthält ein lesenswertes aktualisiertes Vorwort, das auch auf die Verhältnisse in Deutschland eingeht und wissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre zu dieser Thematik darstellt.
Wörtlich übersetzt lautet der oben angegebene ursprüngliche englische Originaltitel: "Die Wasserwaage. Warum Gesellschaften mit mehr Gleichheit fast immer besser dran sind". Die Wasserwaage ist eine Metapher für die Messlatte "soziale Ungleichheit", die bei der Beurteilung der in dem Buch behandelten Probleme angelegt wird.
Die Autoren haben zu diesem Zweck die Statistiken der Industrieländer der letzten Jahrzehnte durchforstet auf der Suche nach Korrelationen zwischen sozialer Ungleichheit, ausgedrückt in Einkommensverteilungsmustern, und dem Ausmaß der jeweils vorhandenen gesundheitlichen und sozialen Probleme in diesen Ländern und sind dabei fündig geworden.
Das Buch zeigt auf der Basis der verfügbaren Daten, dass viele der heute im Vordergrund stehenden gesundheitlichen und sozialen Probleme in den wohlhabenden Ländern mit dem Grad der sozialen Ungleichheit, gemessen als Einkommensungleichheit, d. h., als 80/20-Dezilverhältnis, korrelieren.
Dieses Verhältnis zeigt an, um wie viel größer das Einkommen der oberen 20 Prozent im Vergleich zu den unteren 20 Prozent ist. Diese Zahlen liegen zwischen 3,4 für Japan, 3,6 für Finnland und 3,9 für Schweden am unteren Ende und 7,2 für Großbritannien, 8,5 für die USA und 9,7 für Singapur am oberen Ende der Skala der Einkommensungleichheit. Deutschland liegt mit einem 80/20-Dezilverhältnis von 5,2 im mittleren Bereich.
Anzumerken ist hier, dass diese Zahlen auf den entsprechenden OECD-Daten aus den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende beruhen. Für die Bewertung der Aussagen der Studie ist das aber ohne Belang, da diese sich aus den relativen Werten der Einkommensungleichheit in den verschiedenen vermögenden Ländern ableiten, die sich nicht wesentlich verändert haben dürften. In Deutschland ist weiterhin heute die Ungleichheit größer als in den skandinavischen Ländern, aber geringer als in den USA und Großbritannien.
Mit wachsender Ungleichheit auf der skizzierten Einkommensungleichheit-Skala steigen die untersuchten gesundheitlichen und sozialen Probleme deutlich an.
So ist etwa die durchschnittliche Lebenserwartung in vermögenden Ländern mit mehr Ungleichheit deutlich niedriger, die Säuglings- und Kindersterblichkeit höher und es gibt mehr psychische Krankheiten inklusive Drogenmissbrauch und Alkoholabusus. Weiterhin gibt es mehr Gewaltopfer durch Mord und Totschlag und mehr Gefängnisinsassen als in Ländern mit weniger Ungleichheit.
Außerdem sind in Ländern mit mehr Ungleichheit ein geringeres gesellschaftliches Vertrauen und eine geringere soziale Mobilität festzustellen und bei der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen eine geringere Mathematik- und Lesefähigkeit und mehr Teenager-Schwangerschaften.
Viele Menschen in den unteren, aber auch in den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten der jeweiligen Länder werden von diesen ungünstigen Faktoren in Mitleidenschaft gezogen.
Auch die Häufigkeit des Auftretens von "chronischen" Krankheiten ist davon betroffen. Chronische Krankheiten sind solche, die lange andauern und heute entscheidend sind für die Lebensdauer und Lebensqualität der meisten Menschen.
Der größte Teil der chronischen Krankheiten wird multifaktoriell verursacht, wobei ein ungünstiger Lebensstil eine entscheidende Rolle spielt. Wir sprechen dann von "lebensstilbedingten" chronischen Krankheiten.
Das starke Übergewicht, die Adipositas, auch Fettleibigkeit genannt, auf die ich im zweiten Teil dieser Reihe näher eingehen werde, gilt als ein wesentlicher krankmachender Faktor und ist neben dem Rauchen heute der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten lebensstilbedingter chronischer Krankheiten. Deshalb sind die Befunde hinsichtlich der Häufigkeit der Adipositas in verschiedenen reichen Ländern besonders aufschlussreich.
Die erhobenen Befunde haben ergeben, dass der Anteil der Erwachsenen mit Adipositas in den Ländern mit mehr Ungleichheit deutlich höher ist. So sind zum Beispiel in den USA, einem der Länder mit der größten Ungleichheit, mehr als 30 Prozent der erwachsenen Bevölkerung fettleibig, in Deutschland etwa 20 Prozent, in Norwegen und Schweden etwa zehn Prozent und in Japan liegt der Anteil mit 2,4 Prozent noch deutlich darunter.
Vergleichbare Unterschiede finden sich auch beim Anteil übergewichtiger Jugendlicher in den verschiedenen Ländern.
Vergleicht man die Gesundheitsdaten einzelner Bevölkerungsgruppen in Ländern mit höherer und geringerer Ungleichheit, so zeigt sich, dass neben der Adipositas auch für eine Reihe weiterer lebensstilbedingter chronischer Krankheiten mehr Gleichheit deutliche Vorteile bringt.
So zeigte sich in einer 2006 veröffentlichten Studie zum Beispiel, dass die Häufigkeit von Diabetes, Bluthochdruck, Krebs und Lungen- und Herzkrankheiten auf jeder Bildungsstufe in England deutlich niedriger ist als in den USA mit einem höheren Grad der Ungleichheit.
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