Sozialstaat am Abgrund: Warum Deutschland seinen Zusammenhalt verspielt

Gabriele Heller

Bundeskanzler Olaf Scholz, 2023. Bild: miss.cabul /shutterstock.com

Kanzler Scholz betont die Stärke des Zusammenhalts. Die Realität sieht anders aus: Soziale Einrichtungen werden radikal gekürzt. Wer soll den Zusammenhalt noch stemmen? Eine Analyse.

In sonntäglichen Festtagsreden wird regelmäßig an das notwendige Miteinander der Menschen in Deutschland erinnert. In seiner letzten Neujahrsrede etwa betonte Bundeskanzler Scholz, wie sehr der Zusammenhalt die Menschen stark mache.

Dass das Gemeinwohl im Interesse aller liegt, wird niemand ernsthaft bestreiten. In der Konkretisierung, was unter sozialem Zusammenhalt zu verstehen sei, beginnen jedoch die Auseinandersetzungen.

Zusammenhalt an den Schulen

Wie soll eine inklusive Gesellschaft realisiert werden, wenn bundesweit die Integrations- und Sprachkurse für Zugewanderte halbiert werden, wie 2025 geplant? Gesellschaftliche Integration und damit Zusammenhalt entstehen gerade durch Erlernen der Sprache und Kennenlernen der Kultur.

Schon jetzt gibt es lange Wartezeiten für Sprachkurse. Auch in Berliner Schulen wurden die Kosten für die Willkommensklassen gekürzt. Wie soll den Kindern eine Teilnahme am gemeinsamen Unterricht ermöglicht werden, wenn die Sprachförderung nicht ausreicht?

Wie sollen krisengeschüttelte Familien ins Boot des Zusammenhalts geholt werden, wenn Familienzentren durch Kürzungen v.a. in Berlin und NRW ihre Arbeit reduzieren oder gar schließen müssen? Wichtige Kooperationspartner für die Bildungsinstitutionen fallen dadurch weg.

Eine durch Mangel geprägte Institution

Auch die Jugendämter sind für die Schulen kaum mehr ansprechbar. Die Stellen sind oft unterbesetzt. Die Zahl der zu betreuenden Familien liegt pro Sozialarbeiter doppelt so hoch, wie die Gewerkschaft empfiehlt. Bis zu 137 Fälle müssen von einer Person betreut werden, so ein Tagesschau-Bericht vom 08.01.2025.

Kommt es dennoch zu einem Besprechungstermin mit einer Schule, werden nicht selten keinerlei Maßnahmen ergriffen, da die Vorfälle zu geringfügig seien. Nur die absoluten Notfälle haben noch eine Chance, so die nachvollziehbare Logik in einer durch Mangel geprägten Institution.

Wie und wer soll einen Zusammenhalt an Berliner Brennpunktschulen realisieren, wenn nun die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter durch geplante Kürzungen nicht mehr genügend Stunden haben werden?

Die Lehrkräfte, die zum Teil bis zu neun Integrationskinder in einer Klasse betreuen müssen und deren Brennpunktzulage zudem gestrichen wurde, können das nicht alleine übernehmen.

Problem Integrationsstunden

Eine gemeinsame Schule für alle Kinder, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, ist die direkte Konsequenz aus der Idee des Zusammenhalts. Aber schon die Zumessung von Stunden für Kinder, deren Integrationsbedarf festgestellt wurde, ist äußerst mangelhaft.

Zugleich werden diese Integrationsstunden in der Regel nicht erteilt, da die Integrationslehrkräfte stattdessen Vertretungsunterricht leisten müssen. So kommt es, dass einerseits ein, zwei, drei Kinder unterrichtet werden müssten, die noch mit anschaulichen Mitteln im Zahlenraum bis 20 hantieren. Während der Rest der Klasse auf symbolischer Ebene im Zahlenraum bis 1.000 vorangebracht werden muss.

Das ist zeitgleich von einer Person nicht zu leisten. Häufig werden deshalb die Integrationskinder mit Arbeitsblättern "ruhig gestellt". Die sogenannte Inklusion droht unter einem Spardiktat, sich in ihr Gegenteil zu verkehren.

Scheinlösungen auf Kosten der Schwächeren

Die AfD fordert ein Ende des "Ideologieprojekts" und eine Rückkehr zu Förderschulen. Sie verspricht, dadurch Kosten einzusparen. Aber mit dem Argument, sie seien zu teuer, wurden genau deshalb die früheren Sonderschulen nach und nach abgebaut.

Allenfalls Förderschulen, die Abschiebebahnhöfen gleichen, können billiger sein. Wiederholt wird eine soziale Schieflage instrumentalisiert, um Scheinlösungen auf Kosten der Schwächeren durchzusetzen. Zusammenhalt verkehrt sich zum Bündnis der Stärkeren.

Auf der Webseite der Bild-Initiative "Ein Herz für Kinder" steht: "Wir wollen, dass jedes Kind auf der Welt eine Chance hat, ein gesundes, kindgerechtes und friedliches Leben zu führen." Die Spendengala 2024 im ZDF hat über 23 Millionen Euro eingesammelt.

Auch Spitzenpolitiker traten öffentlich als Spender auf. Verschiedene weltweite Projekte für Kinder werden dadurch gefördert, u.a. eine Nachhilfe-Einrichtung in Berlin-Steglitz. Keines der Projekte will die Autorin dieses Beitrags inhaltlich kritisieren.

Aber warum soll medienwirksam eine einzige Nachhilfe-Einrichtung durch private Spenden ermöglicht werden, wenn zugleich alle anderen in der Stadt ihre Angebote reduzieren oder schließen müssen?

Man muss vermuten, dass die Ein-Herz-für-Kinder-Projekte vorrangig der Imagepflege eines Medienunternehmens dienen. Veröffentlichungen des Mediums Bild untergraben regelmäßig im konkurrenzgetriebenen Alltagsgeschäft das soziale Mitgefühl massiv.

Soziale Voraussetzungen für eine gemeinsame Basis

Denn eine Aufmerksamkeits-Quote ist leichter mit Hetze gegen Schwächere zu steigern. Auch im medialen Bereich treffen wir auf eine Diskrepanz zwischen den regelmäßigen feierlichen Botschaften und der tatsächlichen Praxis. E.W. Böckenförde, ein Verfassungsrechtler, betonte schon 1964:

"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."1

Böckenförde bewegte die Frage, welche sozialen Voraussetzungen gegeben sein müssen, um eine gemeinsame Basis in einer Demokratie herzustellen. Denn der Staat kann Werte durch seine freiheitlich-säkulare Ausrichtung nicht selbst setzen.

Er ist darauf angewiesen, dass die Bürger die Demokratie selbst wollen und immer wieder erneuern.

"Demokratie als System der Mehrheitsentscheidungen setzt die Einigkeit über das Unabstimmbare voraus."2

Böckenförde ging nicht davon aus, dass die demokratischen Verfahren wie Gewaltenteilung und Wahlen ein ausreichendes Minimum an Konsens herstellen können. Die Religion als verbindende Wertegemeinschaft fällt in der Moderne aber weg.

Austeritätspolitik und Zunahme von Demokratieskepsis

Angesichts der Finanzmarktkrise 2008 forderte Böckenförde, dass der Staat der kapitalistischen Ökonomie einen sozialen Ausgleich abringen muss. Zahlreiche Untersuchungen haben zwischenzeitlich bestätigt, dass es einen Zusammenhang zwischen Austeritätspolitik und der Zunahme von Demokratieskepsis gibt. Das Anwachsen rechtsextremer Stimmen in nahezu allen Industriestaaten bestätigen diese Ergebnisse.

Ein Engagement im persönlichen Umfeld für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht unbedeutend, daran erinnert auch der Bundeskanzler in seiner Neujahrsrede. Ehrenämter etwa sind ein wichtiger Beitrag für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber das genügt bei weitem nicht.

Es muss unterstützende soziale Strukturen geben, damit ein solidarisches Miteinander entsteht. In der Realität werden aber genau jene Institutionen und Strukturen des Sozialstaats massiv geschwächt, die genau das leisten können.

Die Entwertung des Sozialstaats

Aktuelle Forderungen nach einem "disruptiven Politikwechsel" treiben die Entwertung des Sozialstaats noch weiter voran. Das feierliche Plädoyer für Zusammenhalt entpuppt sich als reine Kompensation für die Realität der zunehmenden Spaltung. Aufrufe zum Zusammenhalt werden als oberflächlicher Kitt für das tatsächliche Gegeneinander benutzt. Ursachen und Widersprüche sind dadurch nur verdeckt.

Im Horizont einer kapitalistischen Marktwirtschaft gilt, dass nur eine produktive Wirtschaft das soziale Gemeinwohl ermöglichen kann. Öffentliche Leistungen und die produzierende Wirtschaft stecken in einem konflikthaften Verhältnis.

Gemeinwohl und Zusammenhalt wird unter der Notwendigkeit einer florierenden Wirtschaft schnell uminterpretiert. Kürzungen können dann als notwendige Maßnahme erklärt werden, um die nationale Wirtschaft von Abgaben zu befreien und in der internationalen Konkurrenz zu stärken.

Das Finden einer Balance

In diesem Konflikt sind wir auch persönlich gefangen. Einerseits wollen wir Nutznießer der qualitätsvollen Leistungen des Sozialstaats sein. Andererseits ärgert man sich über zu hohe Steuerabgaben. Inwiefern eine Balance gefunden werden kann, wie groß der politische Gestaltungsraum ist, bleibt Frage und Aufgabe unserer Zeit.

Diese Aufgabe stellt sich umso mehr angesichts des Wissens, dass bei sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit der gesellschaftliche Zusammenhalt durch eine freiwillige moralische Bindung, wie sie Böckenförde beschrieben hat, sich nicht entwickeln wird.

Vertrauen in die demokratischen Institutionen und Regulierungen sind notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzungen für den Aufbau von Gemeinsinn.

Ja, Zusammenhalt macht stark. Aber nicht als reines Lippenbekenntnis bei Feierlichkeiten. Zusammenhalt entsteht nicht, wenn komplexe Zusammenhänge vereinfacht und vermeintliche Ursachen auf die sozial Schwächeren projiziert werden.

Zusammenhalt macht dann stark, wenn wir gegen soziale Ungerechtigkeit sensibel bleiben, Ursachen wirklich verstehen und uns für solidarische Bedingungen und Strukturen einsetzen.

Die Autorin Gabriele Heller ist Grundschullehrerin / Fachseminarleiterin in Berlin.