Sprachpolizei: der "angemessene Ton" beim Tagesspiegel
Der Fall Martenstein ist ein Symptom für die fortschreitende Erosion des öffentlichen Diskurses
Man sollte nicht Handlanger eines ideologischen Lagers sein, und man darf keine Angst vor Wutstürmen haben. Genau dazu ist die Meinungsfreiheit ja da: um Dinge zu sagen, die manche nicht hören möchten.
Harald Martenstein, 20. Februar 2022
Die einzige Kirche, der ich angehören möchte, ist die, die man im Dorf lässt.
Hermann L. Gremliza (1940-2019), konkret-Chefredakteur
Harald Martenstein ist nicht irgendwer. Einer der prominentesten deutschen Journalisten, Buchautor, Zeit-Kolumnist, und vielfach mit den renommiertesten deutschen Journalistenpreisen ausgezeichnet (Egon-Erwin-Kisch-Preis, Theodor-Wolff-Preis, Henri-Nannen-Preis, Curt-Goetz-Ring, Georg-K.-Glaser-Preis, 'Journalist des Jahres 2004'), war er in der Vergangenheit bereits öfter zum Angriffsziel konkurrierender Journalisten-"Kollegen" geworden.
Fast 35 Jahre lang, mit kurzer Unterbrechung, war Martenstein auch der einzige Autor von Rang bei der Berliner Lokalzeitung Tagesspiegel. Nun verlässt er die Zeitung – im kalten Zorn darf man wohl sagen. Vorausgegangen war ein Eklat um einen Text Martensteins in dessen regelmäßiger Sonntags-Kolumne.
Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, hatte die Tagesspiegel-Chefredaktion in der vergangenen Woche, anstatt die Freiheit des Autors zu verteidigen, eine Kolumne ihrer Edelfeder nach Protesten aus dem Netz genommen - und dies ohne Rücksprache mit dem Autor.
"Nicht alles, was rechtlich betrachtet gesagt werden darf, ist dem Ton des Tagesspiegels angemessen", heißt es dazu in der Erklärung der Chefredaktion wörtlich. Auch Meinungsstücke wie Glossen, Kolumnen und Kommentare dürften "scharf" sein, "persönlich verletzen sollten sie nicht". Zynismus, gezielte Provokation und "Graubereiche, die zu Missverständnissen einladen oder verleiten", seien zu vermeiden.
Martensteins Missverständnisse
Was war genau geschehen? Martenstein hatte im Tagesspiegel am 6. Februar 2022 über Nazivergleiche geschrieben, und über Menschen, die sich selbst einen "Judenstern" anstecken. Der Autor schreibt dort unter anderem:
Dass Donald Trump, Wladimir Putin, Sebastian Kurz oder die AfD heute mit Hitler oder der NSDAP verglichen oder gar gleichgesetzt werden, versteht sich von selbst, obwohl sich dabei Historikern die Fußnägel hochrollen und man so etwas durchaus 'Verharmlosung des Holocaust' nennen könnte. (…)
Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden.
Jetzt werden auf Corona-Demos häufig Judensterne mit der Aufschrift "ungeimpft" getragen. Von denen, die das "antisemitisch" nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.
Harald Martenstein
Der Text ist inhaltlich angreifbar. Und zwar nicht, weil er irgendetwas Schlimmes enthält, sondern weil Martenstein eines übersieht: Dass es den neuen Trägern des "Judensterns" auf Corona-Demos nicht so sehr darum geht, sich mit Opfern zu identifizieren, sondern darum, den Staat der Pandemie-Politik, also demokratisch legitimierte Personen und Institutionen, mit den Nazis gleichzusetzen, und darum, indirekt die Rede von einer "Corona-Diktatur" zu legitimieren, die unter anderem von Rechtsextremisten wie dem AfD-Politiker Alexander Gauland zu hören ist.
Eine hausinterne Abrechnung?
Man kann Martensteins Text also mit guten Gründen kritisieren. Aber ist er grenzüberschreitend? Auch nur missverständlich? Gar "persönlich verletzend"?
Und selbst wenn: Warum nimmt man einen Text aus dem Netz, ohne den Autor, zumal einen langjährigen guten Autor, dazu zu konsultieren?
Vielleicht liegt die eigentliche Ursache dieses Eklats aber ganz woanders. Denn im vergangenen Jahr war Martenstein der einzige Tagesspiegel-Autor, der seine eigene Zeitung öffentlich dafür kritisierte, wie diese mit der Aktion einiger Dutzend deutscher Filmemacher und Schauspieler umging, die unter dem Hashtag #allesdichtmachen der deutschen Corona-Politik widersprochen hatten.
Der Tagesspiegel, der sich in der Corona-Politik mehr als regierungsnah und übervorsichtig, mit jeder Art von Einschränkungen sympathisierend, positionierte, hatte sich unter anderem dazu hinreißen lassen, die Beteiligten mit Rechtsextremisten gleichzusetzen. Mehrfach musste er Texte im Nachhinein verändern und mit Korrekturen versehen – offenbar nicht zuletzt aufgrund juristischer Bedenken und Ansprüche.
Auch in einer späteren öffentlichen Diskussion hatte Martenstein der eigenen Redaktion widersprochen, und dabei insbesondere die überaus einseitige Positionierung des Tagesspiegel-Medienredakteurs Joachim Huber angegriffen.
Handelt es sich also eigentlich um eine hausinterne Abrechnung mit einem Autor, der sich nicht auf Linie bringen ließ?
Der Verdacht liegt jedenfalls nahe.
"Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz"
Harald Martenstein schrieb nach dem Vorfall in seiner nächsten Kolumne, die leider nicht frei lesbar ist, aber jetzt vielfach in den sozialen Netzwerken und auf seiner eigenen Homepage zitiert wird:
Am 2. Mai 1988 habe ich beim Tagesspiegel angefangen, also kurz nach der Mondlandung. Mit Ironie sollte man übrigens vorsichtig umgehen, so hat es mir damals der Redaktionsleiter Günter Matthes eingeschärft: "Die Leser verstehen das nicht." Von allen großartigen Journalisten, die ich beim Tagesspiegel kennenlernen durfte, war er, ein unbeugsamer Liberaler, einer der eindrucksvollsten. Er war nicht links, er war nicht rechts. Er war geradeaus.
Bis heute denke ich, wenn ich mich an ein Thema setze, manchmal: "Was würde wohl Matthes dazu sagen?" Mein Kollege Bernd Matthies schrieb über ihn, er habe "ein paar Mal die Empörung der halben Stadt West-Berlin derart auf sich gezogen, dass die ganze Stadt davon geredet hat – er war in seinen prononcierten Meinungen von politischen Lagern ebenso unabhängig wie von der eigenen Anzeigenabteilung."
Das war meine Schule. Nur so kann man als Journalist glaubwürdig sein. Man sollte nicht Handlanger eines ideologischen Lagers sein, und man darf keine Angst vor Wutstürmen haben. Genau dazu ist die Meinungsfreiheit ja da: um Dinge zu sagen, die manche nicht hören möchten. Es zu tun, habe ich an dieser Stelle viele Jahre lang versucht, mal besser, mal schlechter, manchmal fehlerhaft. Ich danke all den Leserinnen und Lesern, die mich wieder und wieder ermutigt haben. Ich entschuldige mich bei denen, deren Briefe ich nicht beantworten konnte, weil die Zeit fehlte.
Dies ist meine letzte Kolumne für diese Zeitung, mit der ich fast genau mein halbes Leben verbracht habe. Ich war, was für ein Zufall, etwa genau so lange Autor des Tagesspiegels wie Günter Matthes. Wer meinen Sound gemocht hat, sollte regelmäßig die Wochenzeitung Die Zeit aufschlagen, dort findet man mich im Magazin.
Es ist kein Geheimnis, dass die Chefredaktion des Tagesspiegels sich in aller Form von einem meiner Texte distanziert und ihn gelöscht hat. Ich war in diese Entscheidung nicht eingebunden. So etwas bedeutet in der Regel, dass man sich trennt, den Entschluss dazu habe ich gefällt. Ich finde, jeder sollte in der Lage sein, sich zu diesem Text selbst ein Urteil zu bilden. Er steht auf meiner Facebook-Seite und meiner Website harald-martenstein.de.
Wie immer habe ich geschrieben, was ich denke. Leute, die Judensterne benutzen, um sich zu Opfern zu stilisieren, sind dumm und geschichtsvergessen. Leute, die auf ihren Demos zur Vernichtung Israels aufrufen, sind etwas gefährlicher. Ich habe meine Meinung nicht geändert. Vielleicht irre ich. Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz.
Sollte die Redaktion die Größe besitzen, mir diese Abschiedsworte zu gestatten und sie nicht zu löschen, danke ich ihr dafür.
Harald Martenstein
Cancel-Culture, Diskursverengung, Intoleranz
Die Vorgehensweise des Tagesspiegel ist Symptom für die fortschreitende Erosion der deutschen Debattenkultur und eines tatsächlich – und nicht nur relativ! – freien öffentlichen Diskurses in den demokratischen Gesellschaften. Sprachpolizei, Cancel-Culture und die diskursverengende, zur Willkür einladende Rede vom "angemessenen Ton" stehen für seine Zerstörung und einen neuen Extremismus der Mitte.
Es sind genau diese freiheitsfeindlichen, intoleranten und letztlich in Zensur mündenden Tendenzen, die ich auch in den letzten zwei Jahren an diesem Ort immer wieder im Zusammenhang mit Corona beobachtet und angegriffen habe – auch zum Ärger mancher Leser, die glauben, man würde nur seinen eigenen Spleen ausleben, oder auf etwas vollkommen Nebensächlichem herumreiten. Der Fall Martenstein zeigt: Es geht nicht um etwas Nebensächliches, sondern um das Herz der Demokratie.
Wie Martenstein schreibt: Vielleicht irrt er. Aber in demokratischen Gesellschaften gibt es unter anderem auch ein Recht auf Irrtum. Und weiter Martenstein: "Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz."
Im Impressum des Tagespsiegle wird Martenstein übrigens weiterhin als "Autor" geführt. Wie lange noch?
"Medienbeobachtung" - unter diesem Reihentitel erscheinen hier in loser Folge Notizen aus der Welt der Medien, aktuelle Beobachtungen, Analysen und Kritiken von Rüdiger Suchsland. Eine Art "Die letzten Tage von Pompeji - Seelenruhe in der Informationsgesellschaft"
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