Staudamm-Bruch in der Ukraine: Folgen für Getreidepreis und Ökosysteme
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms können Felder nicht mehr mit Wasser versorgt werden. Experten rechnen mit Dürrekatastrophe. Droht nun ein weltweiter Mangel?
Die Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms sind bisher nur teilweise absehbar. Wie viele Menschen am Unterlauf des Dnipro in der Südukraine direkt durch die Wassermassen zu Tode kamen, ist noch immer unklar. Vier Menschen seien umgekommen, dreizehn Personen würden vermisst, elf seien verletzt worden, teilte das ukrainische Innenministerium am Freitagnachmittag mit. Nach Angaben der von Russland eingesetzten Behörden waren es da bereits acht Tote.
Tausende wurden und werden evakuiert. Auf dem ukrainisch kontrollierten Ufer seien bis Freitagnachmittag rund 2.400 Menschen evakuiert worden - offenbar unter Beschuss, es habe Tote und Verletzte gegeben.
In der Region Mykolajiw, 75 Kilometer nördlich von Cherson, wurden Straßen, Wege, Felder, ganze Dörfer und Brücken überschwemmt. Laut Vize-Bürgermeister Vitaji Lukow war die Versorgung mit Trinkwasser für die Stadt Mykolajiw seit Langem ein Problem. Nach der Rückeroberung von Cherson lag ein Teil der Trinkwasserversorgungsanlage auf besetztem Gebiet. Das habe die Versorgung erschwert.
Durch die Überflutung sei die ohnehin anfällige Pumpstation überschwemmt, deren Strom vor rund drei Wochen ausgefallen sei. Weil alles unter Wasser stehe, könne die Station nicht repariert werden.
Am rechten Ufer des Dnipro wurden mindestens 17.000 Menschen evakuiert. Auf der von Russland kontrollierten linken Flussseite sind rund 25.000 Menschen in Gefahr. Die Stadt Nowa Kachowka mit rund 45.000 Einwohnern stand zu großen Teilen unter Wasser. Auch hier werden Menschen vermisst. Die Überschwemmung wird wohl auch die Rückeroberung der Gebiete auf der südlichen Dnipro-Seite deutlich erschweren, wie es heißt, denn die Panzer können nicht in die sumpfigen Gebiete vorrücken.
Der Damm war 30 Meter hoch und 3,2 Kilometer lang. Der riesige Stausee wurde 1956 als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka gebaut – 240 Kilometer lang, bis zu 23 Kilometer breit, versorgte er die Halbinsel Krim und das Kernkraftwerk Saporischschja mit Wasser. Seit er vor wenigen Tagen brach, strömt das Wasser unkontrolliert aus dem riesigen Stausee und überflutet mehr als 80 Ortschaften in der umkämpften Region.
Das gefährdet die Trinkwasserversorgung in der gesamten Region, auch auf der Halbinsel Krim. In der landwirtschaftlich geprägten Region rund um Cherson mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern wurde vor dem Krieg vor allem Getreide angebaut. Mit dem Wasser aus dem Staudamm wurden auch die Getreidefelder bewässert. Dieses Reservoir werde in Zukunft fehlen, fürchten Experten.
In den nächsten Jahren könnten sich Felder in Wüsten verwandeln
Die Zerstörung des Stausees werde die Wasserversorgung von 31 Feldbewässerungssystemen in den Regionen Dnipropetrowsk, Cherson und Saporischschja zum Erliegen bringen, erklärte das ukrainische Agrarministerium. Insgesamt sollen rund 920 Quadratkilometer überschwemmt worden sein. Rund 10. 000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche dürften allein am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson betroffen sein, weitaus mehr jedoch im derzeit russisch besetzten Gebiet:
Wie Satellitenbilder zeigen, wurde der Getreidespeicher in Kosazke auf der nördlichen Seite direkt unterhalb des Dammes fast komplett überflutet.
Weltweit hängen bis zu 400 Millionen Menschen von den Lebensmittellieferungen aus der Ukraine ab. Bisher gelang es, mit Hilfe eines Getreideabkommens einen Teil der Ausfuhren aus dem Land zu sichern. Nun könnte die Agrarproduktion einen harten Rückschlag erleben.
Die Überschwemmung werde die Agrarindustrie der Ukraine hart treffen, befürchten Experten. Damit werde eine der Haupteinnahmequellen aus dem Export von Getreide und die Versorgung am Binnenmarkt ausgeschaltet. Die Getreidepreise am europäischen Terminmarkt steigen bereits deutlich an.
Es droht eine massive ökologische Katastrophe
Offenbar waren im zerstörten Kraftwerk auch 150 Tonnen Öl gelagert. Diese werden nun mit dem Wasser an Land gespült. Auch Chemikalien von Fabriken werden an die Ufer geschwemmt. Darüber hinaus sind Millionen Fische, Vögel und andere Tiere bedroht. Nach Angaben des ukrainischen Gesundheitsministeriums wird in den kommenden Tagen der Wasserstand sinken, was zu einem Massenfischsterben führen könnte.
Um das Risiko von Botulismus, einer lebensbedrohlichen Nervenvergiftung, vorzubeugen, sei der Verzehr von Fischen verboten. Damit ist auch die Fischerei von der Katastrophe betroffen. Auch der nationale Naturpark Oleschki-Sande sowie das Biosphärenreservat an der Mündung des Dnipro zum Schwarzen Meer, Lebensraum für Wildpferde, geschützte Schlangen und Falken, ist betroffen.
Die Überschwemmungen dürften über Jahre hinweg die Landschaft und Ökoysteme, vor allem an den Ufern des Dnipro, grundlegend verändern und Menschen zur Umsiedlung zwingen. Die Behörden warnen auch vor Minen, die an den Ufern des Dnipro positioniert und an neue, unbekannte Orte geschwemmt werden.
Dadurch werden sie zur großen Gefahr für Mensch und Tier. Zudem könnten sich durch das Hochwasser Krankheiten und Seuchen ausbreiten, warnen Experten des Gesundheitsministeriums. Diese analysieren bereits Wasserproben, Vorräte an Antibiotika sollen aufgestockt werden, um mehr Menschen bei Darminfektionen behandeln zu können.
Sollte der Wasserstand im Stausee unter vierzehn Meter sinken, drohe rund 200. 000 Menschen auch ausserhalb des Gebiets Cherson Wasserknappheit, erklärte das Hilfswerk Caritas, das im Hochwassergebiet Schutzzentren für Flüchtlinge einräumte.
In Saporischschja ist die Lage stabil
Im Kernkraftwerk rund 200 Kilometer oberhalb des Staudamms, dessen Kühlwasser aus dem Stausee stammt, sei der Wasserstand im Kühlbecken unverändert, wie der Direktor des von Russland kontrollierten Kernkraftwerks mitteilte.
Das Wasser für die Kühlung der Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente befände sich in einem geschlossenen Kreislauf und habe keinen direkten Kontakt mit dem Wasser aus dem Stausee. Auch das Wärmeabfuhrsystem sei nicht vom Wasser aus dem Stausee abhängig. Es bestehe kein unmittelbares nukleares Sicherheitsrisiko, versicherte auch die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), die die Situation rund am Staudamm genau beobachtet.
Sie forderte Russland und die Ukraine laut Angaben der Nachrichtenagentur Reuters dazu auf, den Kühlteich des AKW zu verschonen. Denn das Kernkraftwerk sollte über genügend Wasser verfügen, um seine Reaktoren für einige Monate aus dem Teich zu kühlen.
Ursache war vermutlich "kriminelle Fahrlässigkeit"
Der Dammbruch sei willentlich durch von den Russen ausgelöste Explosionen verursacht worden, hieß es tagelang von offizieller Seite. Der Staudamm sei nicht durch einen Angriff, sondern durch "kriminelle Fahrlässigkeit der russischen Streitkräfte" zerstört worden, erklären nun unabhängige Ermittler der russischen Organisation Conflict Intelligence Team (CIT). Durch die Auswertung von Satellitenbildern untersuchten sie die Vorkommnisse rund um die Einsätze der russischen Armee.
Die Schäden am Damm seien im Laufe der letzten Kriegsmonate entstanden, lautet die Schlussfolgerung. Der Dammbruch sei durch Minen verursacht worden, die bereits vor Monaten von der russischen Armee am Staudamm angebracht worden waren und die schließlich von den Wassermassen mitgerissen wurden, schätzen die Analysten.
Bereits beim Rückzug der russischen Streitkräfte im November hinterließen Explosionen massive Schäden an den Schleusentoren. Die Portalkräne, mit denen die Tore geöffnet werden, seien seit Mitte November 2022 nicht mehr bewegt worden. Bis zum 5. Juni hätten sie sich an derselben Stelle befunden. Die Analysten folgern daraus, dass die russischen Streitkräfte seit dem 15. November den Wasserstand im Stausee in keiner Weise reguliert hatten.
Die Schäden an den Schleusentoren hätten zu starken Wasserstandsschwankungen in den vergangenen Monaten und einem Rekordwasserstand Ende Mai im Staubecken geführt. Nach starken Regenfällen und der Schneeschmelze kam es im April zu Überschwemmungen im Land.
Der Kachowka-Staudamm könne "nicht im vollen technologischen Modus betrieben" werden, warnte der Leiter der Katastrophenschutzabteilung der Kiewer Verwaltung, Roman Tkachuk, bereits im April. Schließlich hielt der beschädigte Damm dem Wasserdruck nicht mehr stand. Wie Satellitenbilder zeigen, stürzte zunächst ein Straßenabschnitt über den geöffneten Toren ein.
In den folgenden Tagen weitete sich der Schaden immer mehr aus. Infolgedessen stürzte der Damm in der Nacht vom 5. auf den 6. Juni ein. "Zuerst brach das Wasser im Bereich der offenen Tore durch den Damm, dann stürzte unter dem Druck des Wasserstroms ein Teil der Turbinenhalle ein".