Steigt in Russland die Kriegsbegeisterung?

Seite 2: Prominente schwenken um oder emigrieren

Als der Krieg begann, stellte sich eine ganze Reihe von Musikern, Künstlern, Wissenschaftlern, Professoren und anderen Multiplikatoren gegen den blutigen Kreml-Feldzug. Ihnen folgten in großer Anzahl ihre Fans und ihr Umfeld – seien es Fans, Freunde oder Studierende.

Als der russische Staat in den Wochen nach Kriegsbeginn die Daumenschrauben anzog, bröckelte jedoch diese Front der offenen Kriegsgegner. Kritische Stimmen verstummten aus Angst vor Verhaftung, den Spitzen von bekannten Bildungs- und Forschungseinrichtungen wurden von oben Bekenntnisse zum Krieg abgerungen.

Die bekannteren Kriegsgegner sahen sich vor die Wahl gestellt: Prinzipientreu bleiben und das Land verlassen bzw. Job und Einkommen verlieren oder die Prinzipien aufgeben und sich anpassen. Nur durch oberflächliches Stillschweigen können Kriegsgegner in Russland etwa im öffentlichen Dienst ihren Job behalten.

Viele entschieden sich für diesen Weg oder gingen noch weiter. Etwa die bekannte TV-Moderatorin und Instagram-Influencerin Jana Rudkowskaja, die auch Produktionsleiterin des Eurovisions-Gewinners Dima Bilan ist. Am 24. Februar, dem Tag des Invasionsbeginns, zeigte sie sich schockiert angesichts zahlreicher Freunde und Verwandter in der Ukraine.

Bis Mai 2022 wandelten sich ihre öffentlichen Statements so, dass die russische Presse sie zum Kreis der Künstler zählt, die den Krieg offen unterstützen. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung eines solchen Wandels auf ihre 6,1 Millionen Follower.

Zur wandelbaren Jana Rudkowskaja gibt es aber durchaus standhafte Gegenbeispiele. Etwa die russische Singer- und Songwriterlegende Zemfira oder das avantgardistische Popduo Ic3peak, die in den letzten Wochen kriegskritische Songs veröffentlicht haben. Doch all diese Künstler mussten im Zuge dieser Veröffentlichungen wegen der repressiven Regierungspolitik das Land verlassen, um einer Verhaftung zu entgehen.

Es ist damit zu rechnen, dass Zemfiras Airplay in den linientreuen russischen Radiostationen massiv zurückgeht – Bands wie Ic3peak waren bereits vor dem Krieg nur in regierungskritischen, liberal gesinnten Kreisen populär. Aus dem Exil wirken solche Künstler auf das russische Publikum aktuell durch allerhand Websperren und ähnliche Mechanismen kaum noch, ihre Kraft als gewichtige Stimmen gegen den Krieg schwindet durch den Verlust des Kontakts zu ihren bisherigen Fans im Land nach und nach.

Kriegserfolge produzieren Kriegszustimmung

Ein weiterer Faktor, der die Unterstützung der russischen Bevölkerung für den Krieg steigert, ist der in den letzten Wochen günstige Verlauf für den russischen Invasoren. Die Eroberungen von Mariupol und Sewerodonezk beendeten eine lange Hängepartie voller Fehlentscheidungen und gescheiterter Offensiven, die zu Beginn einen schnellen Sieg verhinderte.

Der Krieg wandelte sich in der Folge in eine Materialschlacht "Panzer gegen Panzer", "Geschütz gegen Geschütz" wie es der israelische Militärhistoriker Martin von Crefeld gegenüber der Welt ausdrückt. Angesichts der Materialunterlegenheit der Ukrainer – 1:10 bei der Artillerie – könne ein solcher Verlauf nach seiner Meinung eigentlich nur eine ukrainische Niederlage zur Folge haben.

Der Westen könne auf langen Wegen nicht ausreichend Nachschub zur Verfügung stellen, um hier einen Ausgleich zu schaffen. Noch eindeutiger fallen solche Prognosen natürlich im russischen Propaganda-TV aus, mit denen die russische Bevölkerung aktuell dauerbeschallt werden.

Wer hier über die Russen die Nase rümpfen will, weil die Moral in einem offensichtlich "ungerechten" Krieg Russlands steigt, wenn die Invasionsarmee erfolgreich ist, sollte historische Parallelen nicht aus den Augen verlieren. So sank selbst während des Naziregimes die Kriegsmoral der Deutschen nicht etwa mit dem Beginn des Holocaust oder der deutschen Zerstörung seiner Nachbarländer.

Nein, erst mit dem sichtbaren Wechsel des Kriegsglücks 1944, mit einer massiven Verschlechterung der Versorgungslage und Zerstörung deutscher Städte kam es in breiteren Bevölkerungsgruppen und der Wehrmacht zu sichtbaren Unzufriedenheiten.

Stimmungswandel nur bei (bisher ausbleibendem) Wirtschaftskollaps

Diese historische Parallele deutet darauf hin, wie es in Russland überhaupt zu einem Stimmungswandel gegen den Krieg kommen kann. Bei einem günstigen Kriegsverlauf ist das nur möglich, wenn die Russen durch die Politik ihrer Regierung einen wirklich massiven Wohlstandsverlust hinnehmen müssen. Hierbei ist einzurechnen, dass die russische Bevölkerung sowohl als leidensfähig gilt als auch die Älteren von einer prowestlichen Regierung in den 1990er-Jahren Zeiten eines wirtschaftlichen Elends kennen.

So verbindet man mit einer Wendung hin zum Westen keinen Wohlstandsgewinn. Trotz massiver westlicher Sanktionen sind die Auswirkungen auf das Leben der normalen Russen bisher "ertragbar" – die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta beziffert den Rückgang der russischen Realeinkommen durch den Krieg auf zehn Prozent.

Die Angst der Russen vor den Sanktionsauswirkungen nimmt eher ab. Die Kriegskasse ist durch hohe Öl- und Gaspreise trotz Rückgang der Exportmenge gut gefüllt und lässt noch Aktionen zu, um eine in Russland drohende deflationäre Talfahrt der Wirtschaft sozial abzumildern. Die Front, an der der Kampf um die Köpfe und Herzen der Russen gewonnen oder verloren wird, befindet sich nicht nur in der Ukraine.