Stockholmsyndrom? Wenn Wähler ihre Ausbeuter lieben

Joachim Schappert

Welche Parteien eine Umverteilung nach oben planen und was Normalverdiener zu erwarten haben. Rechenbeispiele, Analyse und Kommentar.

Wie Telepolis berichtete, hat das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die aktuellen Reformvorschläge aller Bundestagsparteien durchgerechnet. Einbezogen wurden nicht nur die Einkommensteuer, sondern auch Solidaritätszuschlag, Vermögensteuer, Bürgergeld, Mindestlohn und Klimageld.

CDU, AfD und FDP schlagen Modelle vor, nach denen die Top-Einkommensklasse (250.000 Euro bis 2.000.000 Euro Jahresbrutto) auch der Top-Gewinner ist. Wer am meisten verdient, soll die größten Geschenke bekommen.

32-fach höherer Einkommenszuwachs für Spitzeneinkommen

Das Median-Einkommen lag in Deutschland 2024 bei 43.750 Euro (Jahresbrutto). Laut ZEW-Gutachten möchte die CDU dieser Durchschnittsverdiener-Gruppe einen Einkommenszuwachs von 414 Euro pro Jahr gewähren.

Für Spitzenverdiener ist der 32-fache Einkommenszuwachs (13.248 Euro pro Jahr) vorgesehen. Die AfD- und FDP-Konzepte planen Ähnliches.

Dass die FDP als kleine Spartenpartei Interessenpolitik für sehr reiche Menschen macht, entspricht ihrem Image.

CDU und AfD hingegen sind Massenparteien, die derzeit etwa die Hälfte der gesamten Wählerschaft erreichen. 30 Millionen Wahlberechtigte scheint es also nicht zu stören, mit ein paar Euro abgespeist zu werden, während die geplanten Vorteile für Spitzeneinkommen um ein Vielfaches höher sind.

Wahlanalysen zur EU-Parlamentswahl im Juni 2024 zeigen, dass die AfD bei der Wählergruppe mit niedrigem Einkommen die mit Abstand beliebteste Partei war. Voraussichtlich werden diese Menschen in knapp zwei Wochen eine AfD wählen, die sich in keiner Weise für ihre steuerpolitischen Interessen einsetzt.

Die Linke ist laut ZEW-Gutachten die einzige Partei, die die unterste Einkommensgruppe bevorzugt fördert, die oberste Einkommensgruppe am meisten belastet und insgesamt eine solide Gegenfinanzierung ihrer Pläne vorlegt. Diese Partei hat damit zu kämpfen, überhaupt wieder in den Bundestag einzuziehen.

Vor dem Hintergrund, dass persönlicher Wohlstand in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, erscheint dieses Wahlverhalten reichlich schräg. Warum tolerieren eine CDU-Wählerin und oder ein AfD-Wähler mit mittlerem Einkommen, dass ein Einkommensmillionär bevorzugt entlastet wird?

Ist den Menschen klar, dass sie automatisch einen größeren Anteil an der Staatsfinanzierung übernehmen, sobald die Entlastung von Spitzenverdienern überproportional steigt?

Auch Angehörige der zweithöchsten Einkommensklasse "150.000 bis 250.000 Euro Jahresbrutto" unterstützen mit ihren Stimmen für CDU, FDP und AfD den Plan, dass die noch besser Verdienenden einen wesentlich höheren Benefit haben als sie selbst.

Was Merz, Weidel und Lindner wohl in die Karten spielt: Nicht jeder interessiert sich für Steuerkonzepte und ist entsprechend informiert.

Verteilungsgerechtigkeit über Steuern und Abgaben funktioniert nur ansatzweise

Friedrich Merz und Alice Weidel werben nicht lautstark mit Privilegien für Einkommensmillionäre. Aber sie tun derzeit alles, um ein anderes Thema in der öffentlichen Aufmerksamkeit ganz oben zu halten: Migration.

Es ist offensichtlich, dass elementare Fragen, zu denen auch die Steuergerechtigkeit gehört, derzeit von der Migrationsdebatte verdrängt werden.

Auch für Deutschland mag zutreffen, was der Historiker Yuval Harari zur US-Wahl vorausgesagt hatte:

"Die Wahl wird gewonnen über die Themen, denen die Menschen ihre Aufmerksamkeit schenken."

Das ZEW-Steuergutachten war in einigen Medien zwar Diskussionsgegenstand. Dabei wurde jedoch kaum herausgearbeitet, dass das tatsächlich verfügbare Einkommen bei den Spitzenverdienern seit vielen Jahren sowieso schon überproportional steigt Das progressive Steuer- und Abgaben-System wurde in Deutschland bereits progressiv geschliffen.

Steuerprogression soll Verteilungsgerechtigkeit schaffen: Man nimmt diejenigen, die mehr haben, mit höheren Steuersätzen in die Pflicht und schafft mit niedrigeren Sätzen für die, die weniger haben, einen Ausgleich.

Eingangssteuersatz 14 Prozent, Spitzensteuersatz 42 Prozent plus 5,5 Prozent Soli für Höherverdiener – die aktuellen Eckdaten lassen eine funktionierende Anpassung vermuten.

Betrachtet man jedoch nicht nur die Einkommensteuer, sondern auch die Verbrauchssteuern (z. B. Umsatzsteuer), bleibt von der Progression wenig übrig: Im ärmsten Einkommens-Zehntel fallen insgesamt etwa 23 Prozent Steuern an, beim reichsten Einkommens-Zehntel sind es mit 31 Prozent nur wenig mehr.

Bezieht man die Sozialabgaben mit ein, kann sich der Progressionsgedanke sogar umkehren. Berechnungen des Netzwerks Steuergerechtigkeit ergeben im Vergleich zweier Modellhaushalte Folgendes:

Auf 110.000 Euro Gesamteinkünfte einer vierköpfigen Familie (typischerweise Lohneinkünfte) entfällt eine Steuer- und Abgabenquote von 43 Prozent.

Auf 1,6 Millionen Euro Gesamteinkünfte einer vierköpfigen Familie (typischerweise Einkünfte aus Lohn plus Gewinnbeteiligungen, Aktien, Vermietungen etc.) entfällt die viel niedrigere Quote von 24 Prozent.

Privilegien für Superreiche mit Steuerkonzepten von vorgestern

Alice Weidel versuchte von der sozialen Schieflage ihres Steuerkonzepts mit dem Argument abzulenken, die AfD entlaste "die Allgemeinheit" durch Abschaffung des Solidaritätszuschlags:

"Wenn der Soli wegfällt, würde das jeden betreffen."

Klingt gut, ist aber schlicht gelogen: Als Finanzexpertin weiß Frau Weidel, dass der Soli erst ab einem Bruttomonatseinkommen von 6.647 Euro fällig wird (bei Familien ab 12.130 Euro monatlich).

Marco Buschmann (FDP) behauptete in seiner Kritik des ZEW-Gutachtens, dass kleine und mittlere Einkommen "relativ am meisten" von den Steuerplänen der FDP profitierten.

Davon abgesehen, dass er sich dabei auf eine Berechnung bezieht, die ausdrücklich keine Gesamtsteuerkonzepte betrachtet – seine Nebelkerze, "relatives" Profitieren, verkauft die Leute für dumm:

Wenn ein 50.000-Euro-Gehalt (relativ) um ein Prozent steigt, bringt das 500 Euro mehr aufs Konto. Wenn ein 2000-Euro-Gehalt (relativ) um ein Prozent steigt, bringt das nur 20 Euro mehr aufs Konto.

Nicht die relativen, sondern die absoluten Beträge sind entscheidend; sowohl fürs Portemonnaie als auch für fehlende Staatseinnahmen.

Buschmann bringt einen weiteren Klassiker ins Spiel. Er beklagt, das ZEW-Gutachten berücksichtige nicht, "dass eine Regierungsbeteiligung der FDP das Wirtschaftswachstum in Deutschland anheben würde".

Im Kern bemüht er damit das alte Pferdeäpfel-Argument: Gibt man den Pferden ordentlich zu fressen, dann kommt auch für die Spatzen genug hinten raus. Also einfach die Reichsten noch reicher machen, dann ergeben sich Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze, hohe Löhne und Steuereinnahmen fast von selbst.

Auch Friedrich Merz (CDU) glaubt angeblich an dieses Konzept: "Die Steuern müssen runter", weil "ein Prozent mehr Wirtschaftsleistung zu 40 Milliarden Euro mehr Einkommen und zehn Milliarden Euro höheren Steuereinnahmen führen würde".

Dieser sogenannte Trickle-Down-Effekt ist über Jahrzehnte in unser aller Bewusstsein eingesickert, hat aber ein Problem: Er funktioniert nicht.

Eine britische Studie hat in 18 OECD-Staaten die wirtschaftliche Entwicklung im Kontext nationaler Steuerpolitik untersucht. Beobachtungszeitraum: 1965 bis 2015. Fazit:

Während der letzten 50 Jahren sind die Steuern für Reiche in den fortgeschrittenen Demokratien dramatisch gesunken. (…) Wir stellen fest, dass Steuersenkungen für Reiche sowohl kurz- als auch mittelfristig zu einer höheren Einkommensungleichheit führen. (…) Unsere Ergebnisse widerlegen mit hoher Evidenz die einflussreiche wirtschaftspolitische Vorstellung, dass Steuersenkungen für Reiche die Gesamtwirtschaft ankurbeln.

Studie von Hope und Limberg

Im November 2024 ist eine Bundesregierung zerbrochen, weil sie in einer Gemengelage aus Geldnot und Schuldenbremse nicht mehr handlungsfähig war.

Gleichzeitig haben wir in Deutschland eine Situation, in der die ärmere Bevölkerungshälfte lediglich drei Prozent des deutschen Gesamtvermögens besitzt.

20 Prozent der Bevölkerung sind laut Statistischem Bundesamt von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.

Es ist offensichtlich, dass in Deutschland ein schwerwiegendes Verteilungsproblem vorliegt, mit negativen Folgen fürs soziale, politische und wirtschaftliche Klima. Zwei mächtige Hebel, die Abhilfe schaffen könnten, sind die Wiedereinsetzung der derzeit ruhenden Vermögenssteuer sowie eine Reform der Erbschaftssteuer.

Beides kann so ausgestaltet werden, dass es nur die Allerreichsten trifft und die Gefahr der Steuerflucht minimiert; beides wird von CDU, AfD und FDP grundsätzlich abgelehnt – mit Argumenten aus der Trickle-down-Mottenkiste.

"Ich lasse mir mein Weltbild nicht von Fakten kaputt machen!"

Ulrike Herrmann hat in ihrem Buch "Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht" sozialpsychologisch untersucht, warum breite Wählergruppen immer wieder Steuerkonzepte durchwinken, die Reiche noch reicher machen. Sie finden es offensichtlich normal und akzeptabel, dass deren Stück vom Kuchen im Vergleich zum Rest der Gesellschaft immer größer wird.

Diese sehr starke Verachtung und Abgrenzung gegenüber der Unterschicht führt dazu, dass die Mittelschicht dann fälschlicherweise immer glaubt, sie sei eigentlich schon fast Elite oder Teil der Elite. Und das führt dann wiederum dazu, dass die Mittelschicht zum Beispiel Steuersenkungen durchwinkt, die eigentlich nur der Elite nutzen. (…)

Statt vom Reichtum, vom Status der Oberschicht zu träumen, sollte sie die Gefahr erkennen, dass ihr Wohlstand durch das soziale Ungleichgewicht gefährdet werde, also durch die wachsende Hypothek aus mangelhafter Bildung, Arbeitslosigkeit und Armut der Unterschicht.

Ulrike Herrmann

Es ist ein Alptraum der Superreichen, dass die Parteien, die ihnen die Privilegien sichern, abgewählt werden – von Menschen, die sich Schichten-übergreifend solidarisieren. Es sieht jedoch nicht danach aus, dass diese Solidarität zustande kommt.

Zum einen geht es bei Wahlen nicht nur um soziale Gerechtigkeit. Zum anderen will es eine Mehrheit offenbar nicht wahrhaben, dass gerade die sozialen Ungleichgewichte (mit allen Folgen für Staatsfinanzen, Bildungssystem, Kaufkraft etc.) den eigenen Wohlstand bedrohen.

In Bewunderung der oberen Zehntausend wird das Sich-Gemeinmachen mit Menschen in prekären Lebensumständen vermieden. Wer will schon daran erinnert werden, dass eigene Armut realistisch betrachtet näher liegt als eigener Reichtum?

Abgrenzung nach unten sowie ein nach oben orientiertes, individualistisches Denken werden uns seit Jahrzehnten angepriesen und entfalten große Attraktivität: "Folge deinen Träumen!", "Be your own star!"

Bei der britischen Ex-Premierministerin Margaret Thatcher klang es 1987 weniger freundlich: "There is no such thing as society!"

Armut ist kein gesellschaftliches, sondern ein privates Problem! Ob du arm oder reich bist, liegt in deiner eigenen Verantwortung. Die Erfolgreichen haben es sich verdient, die Nicht-Erfolgreichen sind selbst schuld.

Wer diese Moral verinnerlicht hat, findet Parteien, die für sozialen Ausgleich kämpfen, unsexy.

Wenig überraschend, dass Friedrich Merz und Alice Weidel Margaret Thatcher als Vorbild verehren und mit ihren Steuerkonzepten Reichtum belohnen möchten. Dass die neoliberale Ideologie in der Praxis jedoch eklatante Widersprüche aufweist, wird von beiden mit Ablenkungsmanövern verschleiert.

Herr Merz macht Stimmung auf Kosten von Menschen, die Bürgergeld beziehen und fordert "Leistungsgerechtigkeit"; pampert jedoch Superreiche, die ihre Riesenvermögen zumeist leistungslos als Erbschaft übernommen haben.

Frau Weidel liefert ihrer mehrheitlich einkommensschwachen Wählerschaft die Sündenböcke: Geflüchtete, die noch ärmer dran sind als sie selbst. Dabei verliert sie kein Wort über Steuerflüchtlinge, die den deutschen Staat jährlich etwa 40 Milliarden Euro kosten.

Der Blick auf die USA und eine weltweit zu beobachtende oligarchische Konzentration von Geld und Einfluss wirft auch für Deutschland die zentrale Zukunftsfrage auf, ob und wie soziale Gerechtigkeit mit demokratischen Wahlen verteidigt werden kann.