Strafe vor Erziehung oder Therapie

Die pädagogische Mottenkiste der niedersächsischen Landesregierung

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Niedersachsen entwickelt sich zum Vorreiter von neuen Strafkonzepten im Umgang mit kriminellen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Lehrer sollen kleinere Vergehen nicht mehr schulintern mit den Schülern regeln, sondern gleich Strafantrag stellen. Sollte sich die kriminelle Karriere auch noch ins Erwachsenenalter fortsetzen und der Richter eine Therapiemaßnahme anordnen, müssen die Kranken nach dem Willen der Landesregierung erst in den Strafvollzug. Strafe geht eben vor Therapie, besonders wenn die Kassen leer sind. Dann lässt sich politischer Wille als Konzept verkaufen und Resozialisierung wird ein Fremdwort.

Mottenkiste "Kriminalisierung von Schülern"

Mit der Kooperation von Polizei und Justiz will man der Gewalt an niedersächsischen Schulen vorbeugend entgegen treten. Lehrer sollen nicht mehr wegsehen, wie beim Geburtstagsprügelskandal in Stadthagen. Dort bekam jeder Schüler, der Geburtstag hatte, von seinen Mitschülern - fast ritualgleich - einen Satz Prügel. Selbst kleinere Messerstechereien sollen nicht mehr mit den Schülern ausdiskutiert werden. Jetzt sind alle Lehrer an niedersächsischen Schulen durch einen gemeinsamen Runderlass der Ministerien Kultus, Inneres und Justiz verpflichtet, alle Straftaten von Schülern anzuzeigen.

Als vorrangige Delikte nannte Kultusminister Busemann Prügeleien mit Körperverletzung, Sachbeschädigung, Beleidigung und auch das so genannte "Abziehen" von Kleidung oder Mobiltelefonen. Mit einem Beispiel betonte er die Definition des Erlasses:

Wenn zwei Schüler einen anderen in die Mangel nehmen, ist das Körperverletzung und muss angezeigt werden.

Inzwischen veröffentlichte die hannoversche Polizei auch statistische Angaben, um die Fakten zur Gewalt von Schülern zu unterstreichen. So wurden der Polizei im Jahr 2002 von Lehrern, Eltern und Schülern 593 Vergehen und Verbrechen gemeldet. Im Vergleich zum Vorjahr sind damit 85 Fälle mehr bekannt geworden, so der hannoversche Polizeidirektor Hans-Dieter Klosa. Doch die Statistik offenbart auch, dass es sich in mehr als 50 Prozent der Fälle um Diebstähle handelte. Gewaltdelikte tauchen mit jeweils 79 Fällen in Form von einfacher Körperverletzung auf, bei 30 Vergehen handelte es sich um schwere Körperverletzung. Dennoch bemüht sich der Polizeipräsident, auf eine mögliche Dunkelziffer als Grund für stärkeren Handlungsbedarf aufmerksam zu machen. Er rechnet nicht zwangsläufig mit mehr Strafanzeigen, betont jedoch, dass die Schule nun auch über Straftaten informiert werde, die die Schüler außerhalb des "beschützten" Raums Schule begangen haben. Für den Sprecher der Hauptschulen, Gisbert Selke geht das noch nicht weit genug, er fordert sogar noch weniger Datenschutz. Zweifel an der beabsichtigten Umsetzung des Erlasses kommen ihm hinsichtlich des Daten- und Vertrauensschutzes offensichtlich nicht:

"Die enge Zusammenarbeit mit Schule, Polizei und Staatsanwaltschaft ist auch eine große Chance für die jungen Täter selbst! Denn aus der Summe der Erkenntnisse von Schule und Polizei ergibt sich für Staatsanwaltschaft und Jugendgericht ein besonders aufschlussreiches Bild von ihrer Persönlichkeit und ihren Lebensumständen", sagte Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann; das sei für die Strafzumessung sehr wichtig. "Außerdem können im Jugendstrafverfahren erzieherische Maßnahmen mit der Schule abgestimmt werden. Die pädagogische Wirkung der Strafe könnte so erheblich gesteigert werden. Und die Besserung eines straffällig gewordenen Jugendlichen ist gleichzeitig der beste Opferschutz", betonte die Justizministerin.

Aus der Pressemeldung zum gemeinsamen Erlass gegen Gewalt an Schulen

Noch ist von Seiten der Lehrer oder gar der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW kein Statement vorhanden, auch aus Kreisen der niedersächsischen Erziehungswissenschaftler ist kein Widerstand spürbar. Vielmehr müssen diese insbesondere in Hannover um die Lehrerausbildung bangen und verhalten sich vielleicht daher eher duckmäuserisch.

Stattdessen lassen sich Lehrer einfach zum Handlager von Justiz und Polizei degradieren. Sie begrüßen diese Maßnahmen, die einen erzieherischen Handlungsspielraum in Konfliktsituationen kaum noch zulassen. Ob sie in Zukunft noch unbefangen mit ihren Schützlingen umgehen können, wenn der Datenschutz ausgehebelt wird und ihnen alle Straftaten bekannt werden, darf angezweifelt werden. Lediglich die Landtagsgrünen bezeichnen den von der Landesregierung vorgestellten Erlass zur Zusammenarbeit von Schule, Polizei und Staatsanwaltschaften als "unangemessene Reaktion auf Gewalt in der Schule". Die schulpolitische Sprecherin Ina Korter zu dem Erlass: "Der Polizeiruf 110 kann aber die pädagogische Bearbeitung von Konflikten nicht ersetzen."

Mottenkiste "Medienverwahrlosung"

Auch in Sachen der Erklärungsmuster für die Entstehung von Gewalt bei Schülern zeigen niedersächsische Wissenschaftler wenig Fantasie. Mit dem Schlagwort der "Medienverwahrlosung" stigmatisieren sie wieder einmal Kinder und Jugendliche.

Scheinbar logisch und einfach werden die Argumente aneinander gereiht und miteinander verknüpft: Jungen würden die Väter und somit die Vorbilder fehlen. Jungen nähmen stattdessen die Vorbilder aus den Gewaltfilmen oder Ballerspielen am PC. Männliche Lehrer sind an den Grundschulen kaum noch anzutreffen und Jungs können von den Lehrerinnen scheinbar nichts lernen. Wie anders sollte man diese Gewaltermittlungsforschung deuten, denn in den Kindergärten und in der Grundschule begegnen Kinder ausschließlich Frauen. Offenbar ist es Frauen in öffentlichen Einrichtungen während der Erziehungs- und Lernphasen in den ersten zehn Lebensjahren nicht möglich, Anti-Gewaltkonzepte zu vermitteln. Diese Jungen sind zudem auch noch Müttersöhnchen, denn den Kindern aus alleinerziehenden Familien fehlt - zweifelsohne - der Vater und somit das männliche Vorbild. Männer werden aus den Grundjahren des Erziehungsprozesses ausgegrenzt bzw. wollen diese Aufgaben nicht übernehmen.

Aus dieser Not würden die Kinder auf andere Vorbilder ausweichen. Und richtig, nun kommt die Hauptthese: Diese Vorbilder holen sich Kinder und Jugendliche aus dem massiven Medienkonsum in Form der Absorbierung des Fernsehens und der Computerspiele. Hier sind die Hauptpersonen immer noch männlich, erfolgreich und lösen ihre Konflikte mit dem Faustrecht. Gewalt wird - so die verbreitete These - von den Kindern und Jugendlichen als brauchbares und anerkanntes Konfliktlösungsmuster angesehen. Dass viele Väter und Mütter ähnliche Ansichten haben, wird vollkommen ausgeklammert.

Gleichsam wird auf das verminderte Lernen eingegangen. Alles, was Schüler in der Schule lernen, verankert sich zuerst nur im Kurzzeitgedächtnis. Schauen die Kids unmittelbar nach dem Unterricht Fernsehen oder spielen am Computer - so die These aus dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen - kann sich dieses Gelernte nicht im Langzeitgedächtnis verfestigen. Wer nichts lernt, der wird nichts, hat kein Selbstwertgefühl, kann ggf. kriminell werden und schuld sind die Medien!

Mottenkiste "Strafe vor Therapie"

Die regierenden Niedersachsen sind erdverbunden und konservativ, daher wundert auch nicht der neuste Gedankengang, Straftätern nicht sofort eine Therapie zu ermöglichen, sondern sie gleich in den Knast zu schicken. Die niedersächsische Sozialministerin Leyen macht das Bild der künftigen Abschreckungskampagne gegenüber Straftätern erst vollständig. Um ihren Vorschlag "Erst Knast dann Therapie" zu begründen, zieht sie finanzielle Aspekte heran.

Die Plätze im so genannten Maßregelvollzug für psychisch kranke Straftäter sind in Niedersachsen hoffnungslos überfüllt und die Unterbringung erfolgt inzwischen auch schon in provisorischen Unterkünften. Weil sie das für unverantwortlich hält, sollen bis zum Jahre 2008 insgesamt 61 Millionen Euro investiert werden. Insofern hofft man nun auf eine Bundesratsinitiative, die vorschlägt, dass "Täter, die zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt wurden, künftig zuerst ihre Strafe im Gefängnis absitzen sollen, bevor sie eine Therapie beginnen".

Mottenkiste "Strafe statt Pädagogik"

Und spätestens hier wird deutlich, dass man in Niedersachsen auf dem besten Wege ist, das Strafrecht zu reformieren, denn Kranke können im Gefängnis nicht therapiert werden. Letztlich will man ein Gesamtbild der Täterabschreckung schaffen und bedient sich dabei einem Leitbild der 50er Jahre. Es entspringt einem Menschenbild, dass der Mensch an sich schlecht sei und nur Strafe vor Gewalttaten schütze. Man verschärft das Gesamtkonzept, indem man nun auch Kinder und Jugendliche stärker kriminalisiert und ihnen die Chance auf eine pädagogische Begleitung nimmt. Gerade Lehrer sollten aber lernen, dass Vertrauen ihrer Schützlinge zu gewinnen und einen Teil ihres Erziehungsauftrages wieder in die Hände zu nehmen.