zurück zum Artikel

Streit um ukrainisches Getreide eskaliert – und gefährdet Solidarität mit Kiew

(Bild: Heike Tönnemann, Pixabay)

Polen und andere Länder verhängen Importstopp für Agrarprodukte. Kiew klagt, Druck aus EU-Ländern. Warum Polen nicht anders kann, um der Ukraine weiterhin zu helfen.

Der Umgang mit Getreide aus der Ukraine wird zur Belastungsprobe für die Europäische Union. Während die EU-Kommission in Brüssel das Importverbot nicht verlängerte, verhängten Ungarn, Polen und die Slowakei eigene Einfuhrverbote zum Schutz der heimischen Bauern. Der Konflikt untergräbt nicht nur die Autorität der EU-Kommission, auch die Regierung in Kiew hat Schritte gegen ihre Nachbarn angekündigt.

Am Montag reichte die ukrainische Regierung bei der Welthandelsorganisation (WTO) Beschwerde gegen die drei Staaten ein, berichtet Reuters [1]. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Julia Swyrydenko sagte demnach, die Ukraine sehe in den Importverboten eine Verletzung der internationalen Verpflichtungen der EU-Länder.

"Für uns ist es entscheidend zu beweisen, dass einzelne Mitgliedsstaaten die Einfuhr ukrainischer Waren nicht verbieten können. Deshalb haben wir Klage bei der WTO eingereicht", erklärte sie auf einer Regierungswebsite.

Die Regierung in Warschau zuckte nach diesem Schritt nur mit den Achseln. "Ich habe gehört, dass Polen verklagt werden soll, weil es seine Landwirte unterstützt, aber das ist lächerlich", sagte der polnische Landwirtschaftsminister Robert Telus im Gespräch mit Euractiv [2]. Er fügte hinzu, dass er nicht verstehe, "was die Rechtsgrundlage für diese Klage sein" solle.

Auch mit Blick auf Brüssel gab sich Telus gelassen. Ein nationales Importverbot könnte gegen geltendes Recht verstoßen, denn der EU komme die ausschließliche Zuständigkeit für den Handel zu. Telus winkte allerdings nur ab.

"Es passiert nichts", sagte er demnach. Und wenn er gute Dinge für die polnischen Bauern und die europäische Landwirtschaft tue, dann könne er "keine Angst vor Vorschriften haben, die in die falsche Richtung gehen". In Warschau wäre man aber glücklicher gewesen, wenn die EU das Importverbot verlängert hätte, das entspräche dem wahren Solidaritätsansatz der Europäischen Union.

In Kiew will man es offenbar nicht bei einer Klage belassen, die wohl kaum Chancen auf Erfolg hätte. Der stellvertretende Wirtschaftsminister der Ukraine, Taras Kachka, erklärte laut Bloomberg [3], Kiew erwäge Gegenmaßnahmen. Sollte das Importverbot von ukrainischen Agrarprodukten bis Freitag nicht aufgehoben werden, dann könnte man die Einfuhr von Zwiebeln und Äpfeln aus Polen einschränken. Man erwäge auch einen Einfuhrstopp für Autos aus Ungarn.

Die einseitige Entscheidung der osteuropäischen Regierungen wurde von anderen EU-Mitgliedern, deren Landwirtschaftsminister am Montag in Brüssel zusammenkamen, verurteilt.

"Ich würde sagen, das ist Teilzeitsolidarität", sagte der deutsche Minister Cem Özdemir gegenüber Reportern. "Wenn sie Lust haben, zeigen sie sich solidarisch – wenn nicht, dann nicht". Frankreichs Landwirtschaftsminister Marc Fesneau forderte die Europäische Kommission auf, "dringend und mit Nachdruck" zu handeln.

Wahl in Polen entscheidet auch über weitere Ukraine-Hilfen

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Polens harte Haltung auch durch innenpolitische Erwägungen begründet ist. Am 15. Oktober wird dort gewählt und die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) könnte es schwierig haben, eine Mehrheit für eine dritte Amtszeit zu erhalten. Und die polnischen Landwirte gehören in erheblichem Maße zur PiS-Basis.

Dass sie ihre Proteste lautstark auf die Straße tragen können, haben die Bauern in der Vergangenheit schon gezeigt. In Bulgarien, einem weiteren Anrainerstaat zur Ukraine, blockierten die Landwirte jetzt erst Straßen mit ihren Traktoren und auch Grenzkontrollstellen. Sie fordern von der Regierung in Sofia, das Importverbot für Getreide, Sonnenblumenöl, Trockenmilch und Tiefkühlfrüchte aus der Ukraine zu verlängern.

Die Regierung in Polen hätte im Falle eines Nachgebens nicht nur mit solchen Protesten zu tun, sondern auch mit einem nachhaltigen Rechtstrend. Dort hat die rechtsextreme Partei "Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit" gute Chancen, an Stimmen zuzulegen. Und das könnte zu einer noch größeren Belastungsprobe für das Verhältnis Polens zur EU und zur Ukraine werden.

Auf die Ankündigung Kiews, Polen verklagen zu wollen, schlug der Vorsitzende der Konföderation, Slawomir Mentzen, laut Reuters sarkastisch vor [4], Warschau werde jetzt wahrscheinlich das Kindergeld der Ukrainer erhöhen und "kostenlose Kredite für den Kauf von Wohnungen in Polen anbieten".

Dass Kiew gegenüber Polen nicht zu weit gehen sollte, zeigt auch der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Gegenüber ukrainischen Flüchtlingen sei man in Polen bislang insgesamt positiv eingestellt gewesen, heißt es bei Reuters. Man habe auch die Kriegsanstrengungen Kiews fast einhellig unterstützt. Doch Untersuchungen zeigten nun, dass sich kritische Ansichten immer mehr durchsetzten.

Umfragen hätten aber auch gezeigt, dass die PiS nach den Wahlen wohl stärkste Kraft im Parlament bleiben wird. Sollte sie aber Stimmen an die Konföderation verlieren, deren Wähler ähnliche Werte teilen wie die PiS-Wähler, dann könnte es aber nicht für eine Mehrheit reichen. Ihr gegenüber stünde dann ein Block aus EU-freundlichen und liberalen Parteien. Als Option für eine Regierungsbildung bliebe der PiS dann wohl nur noch, die rechtsextreme Konföderation einzubinden.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Unterstützung der Ukraine durch Polen von einem erfolgreichen Wahlkampf der PiS abhängen dürfte.

"Der Ton der Kommunikation im Regierungslager hat sich geändert, aber die Hauptbotschaft bleibt unverändert: Wir unterstützen die Ukraine", sagte ein Beamter gegenüber Reuters, der anonym bleiben wollte. Er sagte weiter:

So seltsam es auch klingen mag, die Änderung des Tons zielt darauf ab, die Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten, und ist notwendig, weil eine gewisse Ermüdung und bestimmte Kosten in der Gesellschaft zu spüren sind, und eine einseitige Botschaft würde diesen Stimmungsumschwung unterstützen, so dass ein Ausgleich nötig ist, um etwas Dampf abzulassen.

Und jetzt stehen Brüssel, Berlin und Kiew vor der Wahl: Versucht man weiterhin mit dem Kopf durch die Wand zu kommen, fördert man Rechtsextremisten und schwächt die Solidarität mit der Ukraine. Oder zeigt man sich kompromissbereit und nimmt man kurzfristig Einbußen in Kauf, um das Bündnis auf längere Sicht zu stärken.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9310485

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.reuters.com/world/ukraine-files-wto-complaints-against-poland-slovakia-hungary-over-food-export-2023-09-18/
[2] https://www.euractiv.de/section/landwirtschaft-und-ernahrung/news/einseitiges-importverbot-polen-befuerchtet-keine-wto-konsequenzen/
[3] https://www.bloomberg.com/news/articles/2023-09-18/ukraine-to-file-wto-complaint-as-eu-neighbors-impose-grain-ban
[4] https://www.reuters.com/world/europe/polands-pis-faces-far-right-challenge-over-ukraine-support-2023-09-19/