Streit zwischen Ukraine und Polen: Was Kiew daraus lernen sollte

Seite 2: Eine zerstörte Ukraine wird niemals der EU beitreten können

Außerdem hatten die EU-Länder (sowohl in West- als auch in Mitteleuropa) stets Angst vor billigen ukrainischen Lebensmittelimporten. Das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU verbot ausdrücklich die meisten ukrainischen Getreideexporte als Teil der EU-Strategie zum Schutz der europäischen Landwirte durch ihre Gemeinsame Agrarpolitik (GAP).

Dieses Verbot wurde von Brüssel erst als Reaktion auf die russische Invasion und Blockade aufgehoben. Polen hat es nun wieder eingeführt.

Im März dieses Jahres schätzte die Weltbank die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg bis dahin auf rund 411 Milliarden Dollar. Diese Kosten werden natürlich weiter steigen, je länger der Krieg andauert.

Die gesamten EU-Ausgaben für die Krisengebiete innerhalb der EU belaufen sich in den sieben Jahren von 2014 bis 2021 auf 200 Milliarden Dollar. Nach den jüngsten Schritten Polens zu urteilen, scheint es unwahrscheinlich, dass eine künftige polnische Regierung von ihren Wählern verlangen wird, den polnischen Anteil an diesen Kosten zu übernehmen. Und wenn Polen nicht will, wer dann?

Ein weiterer Punkt, den die Ukrainer beachten sollten, ist, dass, wie Polens jüngste Reaktionen zeigen, Hass auf Russland und echte Sympathie für die Ukraine keineswegs dasselbe sind und sich sogar widersprechen können. Am polnischen Hass auf Russland kann kein Zweifel bestehen. Aber hinter der bemerkenswert harten Rhetorik der letzten Zeit zeigt sich, dass Polen und Ukrainer auch historisch gesehen erbitterte Feinde waren.

Das polnische Königreich und die polnische Republik zwischen 1919 und 1939 versuchten, ihre ukrainischen Bürger zu polonisieren, so wie die Russen versuchten, die ihren zu russifizieren. Bei ukrainischen Aufständen gegen die polnische Herrschaft wurden sowohl Polen als auch Juden massakriert.

Politische Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern um die Kontrolle über Galizien trugen in den Jahren vor 1914 zur Untergrabung der österreichisch-ungarischen Monarchie bei. Nach 1918 annektierte Polen die ukrainischen Gebiete Galiziens gewaltsam und behielt sie, bis sie im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Pakts von Josef Stalin an die Sowjetukraine abgetreten wurden – weshalb sie heute in der Ukraine und nicht in Polen liegen.

Während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg massakrierten ukrainische nationalistische Partisanen Zehntausende von ethnischen Polen, und Ukrainer, die in der 1. galizischen Division der Waffen-SS dienten, nahmen an rücksichtslosen deutschen Operationen gegen den polnischen Widerstand teil.

In den letzten Jahren haben sowohl Kiew als auch Warschau versucht, diese Geschichte herunterzuspielen, aber die Erinnerungen daran sind auf beiden Seiten immer noch sehr lebendig.

Diese Geschichte gilt insbesondere für Polen und die Ukraine. Aber auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten sollten sich die Ukrainer fragen, wie viel von der US-Unterstützung für die Ukraine durch echte Sympathie motiviert ist. Und was nur darauf abzielt, so viele Russen wie möglich zu töten und Russland so weit es geht zu schwächen, egal, wie viele Ukrainer dabei sterben oder wie sehr die Ukraine dabei geschwächt wird – wie einige Äußerungen von US-Politikern und -Vertretern zu vermuten scheinen.

So prahlte Senator Mitch McConnell kürzlich: "Wir vernichten die russische Armee, ohne einen einzigen amerikanischen Soldaten zu verlieren."

Andere Hardliner-Kommentatoren in den USA haben argumentiert, dass es notwendig sei, Russland in der Ukraine zu besiegen, um China zu schwächen – was aber nicht der Grund ist, warum die ukrainischen Soldaten glauben, kämpfen und sterben zu müssen.

Ein Krieg auf unbestimmte Zeit, bei dem es keinen eindeutigen Sieger gibt, wird Russland in der Tat schwächen, aber er wird auch die unabhängige Ukraine ruinieren – etwas, das jetzt ein zentrales russisches Kriegsziel zu sein scheint. Zudem wird eine zugrunde gerichtete Ukraine niemals in der Lage sein, der EU beizutreten.

Wenn das eintritt, werden die westlichen Versprechungen und Feststellungen über den westlichen Weg der Ukraine letztlich nichts zählen. Die Ukraine wird – wie sie es den größten Teil der Geschichte über war – ein verarmtes Grenzland zwischen Polen und Russland bleiben.

Das ist kein Ergebnis, auf das der Westen hinarbeiten sollte, wie sehr Russland dabei auch geschädigt werden mag.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).