Streumunition: Verstößt Deutschland gegen seine eigenen Verträge?
Deutschland gibt sich als Gegner von Streumunition. Doch im Ukraine-Krieg ist plötzlich alles anders. Was steckt dahinter? Ein Gastbeitrag.
Die Bundesrepublik hat sich öffentlich gegen die Lieferung von verbotener Streumunition ausgesprochen. Neue Beweise deuten jedoch darauf hin, dass solche Lieferungen möglicherweise über Deutschland erfolgen. Dies widerspräche Deutschlands langjähriger Unterstützung des Übereinkommens über Streumunition von 2008, das diese Waffen verbietet.
Ähnlich wie Landminen: Warum Streumunition geächtet wird
Streumunition wird von Flugzeugen abgeworfen oder von Raketen, Geschossen und Artilleriegranaten verschossen. Sie öffnet sich in der Luft und verteilt mehrere Submunitionen über ein großes Gebiet, von denen viele nicht wie beabsichtigt detonieren und eine langfristige Gefahr darstellen, ähnlich wie Landminen.
Wiederholte russische Angriffe mit Streumunition haben seit 2022 Hunderte von ukrainischen Zivilisten getötet und verletzt, während die ukrainischen Streitkräfte ebenfalls Streumunition eingesetzt und dabei zivile Opfer verursacht haben.
Seit Juli 2023 hat US-Präsident Joseph Biden fünf Lieferungen von US-Streumunition genehmigt, die mit 155-mm-Artilleriegeschossen und ballistischen Raketen verschossen wurden.
Russland, die Ukraine und die USA haben die Konvention über die Ächtung von Streumunition nicht unterzeichnet. Dennoch haben 112 Staaten, darunter Deutschland, die Konvention ratifiziert, um vorhersehbare Schäden für die Zivilbevölkerung zu verhindern. Mindestens 35 Vertragsstaaten betrachten den Transit und die Lagerung von Streumunition im Ausland als durch die Konvention verboten.
US-Verteidigungsministerium hüllt sich in Schweigen
Als die US-Lieferungen erstmals angekündigt wurden, brachten mehr als zwei Dutzend Staats- und Regierungschefs ihre Besorgnis zum Ausdruck. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock erklärte, dass Deutschland als Mitglied des Übereinkommens über Streumunition "die Lieferung von Streumunition in die Ukraine ablehnt."
Diese prinzipielle Haltung wurde nach einer Dokumentation der ARD-Sendung Panorama vom 25. Juli in Frage gestellt. Ein Sprecher der US-Armee für Europa und Afrika hat gegenüber der ARD schriftlich bestätigt, dass im Munitionsdepot der US-Armee im rheinland-pfälzischen Miesau US-Streumunition vom Typ M864 und M483A1 gelagert wird. Von dort wurden sie laut dem ARD-Bericht im Rahmen der US-Militärhilfe über Deutschland und Polen in die Ukraine transportiert.
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Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, Charlie Dietz, antwortete Responsible Statecraft auf die Frage nach einer Stellungnahme zu dem ARD-Bericht, dass es der allgemeinen US-Politik entspreche, aus Sicherheitsgründen keine spezifischen Details über militärische Logistik oder Munitionsbewegungen zu diskutieren.
Er bestritt nicht, dass auf dem US-Stützpunkt in Deutschland gelagerte US-Streumunition an die Ukraine geliefert worden sei, und sagte: "Die Bewegung von Munition und allen anderen Gegenständen durch das US-Militär erfolgt in Übereinstimmung mit den Verpflichtungen der Vereinigten Staaten gemäß geltenden internationalen Abkommen, US-Gesetzen, Vorschriften und Sicherheitsstandards des US-Verteidigungsministeriums".
Flexible Rechtslage
Das "Status of Forces Agreement" zwischen Deutschland und den USA regelt die Stationierung von US-Truppen auf deutschem Territorium. Das Abkommen ist wenig transparent, scheint aber in Bezug auf Streumunition entgegenkommend zu sein.
Dies ist darauf zurückzuführen, dass US-Bestände an Streumunition, die auf US-Militärbasen in Deutschland gelagert werden, nicht als unter deutscher Rechtsprechung und Kontrolle stehend betrachtet werden.
Der deutsche Verteidigungsminister und andere Beamte erklärten gegenüber der ARD, sie könnten nicht bestätigen, dass sich US-Streumunition auf Militärbasen in Deutschland befinde, und dass sie keine Kenntnis darüber hätten, ob US-Streumunition deutsches Territorium oder deutschen Luftraum durchquert habe.
Der Sprecher der US-Armee sagte der ARD jedoch, dass die deutschen Streitkräfte "Dokumentationen über den Inhalt der Lieferungen" von Munition erhalten, die von der US-Basis in Miesau verschickt werden.
Tragischer Wandel
Diese Nachricht ist bestürzend angesichts der vorbildlichen Führungsrolle Deutschlands bei der Konvention. Deutschland gehörte zu den ersten 30 Ratifizierern, die das Inkrafttreten der Konvention am 1. August 2010 auslösten. 2009 hat die Bundesrepublik eine große internationale Konferenz zur Vernichtung von Streumunitionsbeständen in Berlin ausgerichtet und 2015 die Vernichtung ihrer Streumunitionsbestände abgeschlossen. 2017 hatte Deutschland den Vorsitz des Übereinkommens inne.
Im Gegensatz dazu nahmen die USA nicht einmal als Beobachter am Oslo-Prozess 2007-2008 teil, der zur Konvention führte. Aus den von Wikileaks veröffentlichten Geheimdokumenten des US-Außenministeriums geht jedoch hervor, dass Washington während des Prozesses versucht hat, auf seine Verbündeten, Partner und andere Staaten einzuwirken, um das Ergebnis der Verhandlungen zu beeinflussen.
Die USA haben 2010 ihre Streumunitionsbestände von ihren Stützpunkten in Norwegen und Großbritannien abgezogen. Die von Wikileaks veröffentlichten Dokumente zeigen jedoch, dass sie möglicherweise weiterhin Streumunition in Vertragsstaaten wie Deutschland, Italien und Spanien lagern.
Dabei hat die US-Regierung die wiederholten Bitten zivilgesellschaftlicher Gruppen ignoriert, Einzelheiten über die spezifischen Typen, Mengen und Blindgängerraten der an die Ukraine gelieferten Streumunition oder über die Transitpunkte und das voraussichtliche Enddatum der Lieferungen zu veröffentlichen.
Deutschland sollte klare Ansage an die USA richten
Die Biden-Administration sollte die Lieferung von Streumunition angesichts der erheblichen kurz- und langfristigen humanitären und menschenrechtlichen Risiken für Zivilisten sofort stoppen. Stattdessen sollte Washington Schritte unternehmen, um dem Übereinkommen über Streumunition unverzüglich beizutreten.
In der Zwischenzeit sollte Deutschland die USA auffordern, ihre Bestände an Streumunition unverzüglich zu beseitigen. Deutschland sollte deutlich machen, dass es jeden Transit von Streumunition durch sein Territorium, seinen Luftraum oder seine Gewässer ablehnt.
Alle Vertragsstaaten des Übereinkommens sollten die Beendigung der Durchfuhr und Lagerung von Streumunition im Ausland fordern. Sie sollten nicht absichtlich oder wissentlich Aktivitäten unterstützen, fördern oder ermutigen, die durch das Übereinkommen über Streumunition verboten sind.
Mary Wareham ist stellvertretende Direktorin für Krisen, Konflikte und Waffen bei Human Rights Watch und Gründungskoordinatorin des Landminen und Clustermunitions-Monitors, einer Forschungsinitiative, die sich für die weltweite Ächtung von Streumunition einsetzt.
Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnerportal Responsible Statecraft auf Englisch.