Studieren in Deutschland macht arm
Laut Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands leben rund 40 Prozent der alleinstehenden Hochschüler unter dem soziokulturellen Existenzminimum. Auch das "neue Bafög" dürfte kaum Abhilfe schaffen
Vor einer Woche sprach Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) anlässlich der ersten Lesung zur 27. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes im Bundestag diesen Satz: "Das BAföG muss sich dem Leben anpassen, nicht umgekehrt." Schön wär's, denn bisher und absehbar auch in Zukunft läuft es genau umgekehrt. Nach einer am Dienstag vom Paritätischen Wohlfahrtsverband veröffentlichten Studie leben 45 Prozent aller Studierenden mit BAföG-Bezug in Armut.
Anpassung heißt für sie: Jeden Euro zweimal umdrehen, sich nur mit dem Allernötigsten und Allerbilligsten versorgen und die Vorstellung von einem Studentenleben in Saus und Braus begraben. Für Party reicht nämlich das Budget nicht. Wie die Paritätische Forschungsstelle ermittelt hat, muss sich die Hälfte aller Studierenden, die alleine wohnen, mit weniger als 825 Euro monatlich durchschlagen. 25 Prozent stehen sogar unter 600 Euro zur Verfügung. Damit führten 40 Prozent der alleinstehenden Hochschüler ein Leben "mithin unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums", konstatieren die Autoren.
802 Euro zum Leben
Überschrieben ist die Kurzexpertise mit: "Armut von Studierenden in Deutschland. Aktuelle empirische Befunde zu einer bedarfsorientierten Reform der Berufsausbildungsförderung in Deutschland." Ausgewertet wurden dafür Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), einer repräsentativen Wiederholungsbefragung von Privathaushalten in Deutschland. Berücksichtigt wurden hierbei die Angaben von rund 1.000 Studierenden.
Alles in allem, so das zentrale Ergebnis, fristet rund ein Drittel der hierzulande knapp 2,9 Millionen Studierenden ein Dasein unterhalb der Armutsschwelle. Die lag für das Jahr 2020, auf das sich die Erhebung bezieht, bei 1.266 Euro für Alleinstehende, während sich das Medieneinkommen der von Armut betroffenen Studierenden auf 802 Euro belief (beide Werte gerundet). Die Armutslücke betrage demnach im Schnitt 463 Euro, befanden die Forscher. Die ermittelte Armutsquote war mit 30,3 Prozent nahezu doppelt so hoch wie die der Gesamtbevölkerung mit 16,8 Prozent.
Dabei könnte sich die Lage mittlerweile noch zugespitzt haben. Die Zahlen errechnen sich auf Basis des Einkommensjahrs 2019, weshalb laut Untersuchung "sogar noch das Risiko einer Untererfassung" bestehe. So spiegelten die ohnehin schon "dramatischen Befunde" nicht die "drastischen Einschnitte" wider, die mit Beginn und während der Corona-Krise eingetreten seien.
Heiteres Studentenleben war einmal
Bekanntlich waren während zweier mehrmonatiger Lockdowns zahllose Studentenjobs weggebrochen. Weil aber laut Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW), Stand 2016, alleinwirtschaftende Hochschüler ihren Lebensunterhalt im Schnitt zu 26 Prozent durch Erwerbsarbeit bestreiten, sei eine "noch höhere Armutsbetroffenheit sowie ein größerer Abstand zu einem armutsfesten Gesamteinkommen zu erwarten", führen die Autoren aus.
"Das Versprechen von Fortschritt, Chancengleichheit und gleichen Möglichkeiten für alle junge Menschen ist nicht viel wert, wenn es nicht gelingt, Studierende wirksam vor Armut zu schützen und ihnen den Rücken für eine Ausbildung, frei von existenzieller Not, zu stärken", äußerte sich Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, gestern per Medienmitteilung. "Die altbackenen Klischees des fröhlichen Studentenlebens bei wenig Geld, aber viel Freizeit, sind absolut überholt und haben mit der Lebenswirklichkeit und dem Studiendruck heutzutage nichts mehr zu tun."
Es lässt sich darüber streiten, ob man Studierende so einfach mit Hartz-IV-Empfängern, Wohngeldbeziehern oder Senioren mit Minirente vergleichen kann. Für viele sozial Bedürftige ist Armut eine Falle auf Lebenszeit. Hochschulabsolventen winkt dagegen in der Regel ein lukrativer Job. Und für die Aussicht auf finanzielle Sicherheit kann man sich durchaus ein paar Jahre in Bescheidenheit üben. Die Frage ist bloß, wo die Grenzen der Zumutbarkeit verlaufen und wie sich der tägliche Kampf, irgendwie über die Runden zu kommen, selbst auf die Zukunftschancen auswirkt.
Wer alleine lebt, hat es schwerer
Schließlich geht es auch anders: Kinder aus gut betuchtem Elternhaus müssen sich für gewöhnlich während der Ausbildung nicht nebenbei ums Geldverdienen kümmern und können ihre Konzentration ganz auf das Studium richten. Daraus erwachsen Vorteile beim späteren Wetteifern um die beste Anstellung, während das Arbeiterkind mit 20-Stunden-Gastro-Job mitunter länger und weniger erfolgreich studiert oder sein Studium aus blanker Geldnot hinschmeißen muss. Studentische Armut ist deshalb auch und vor allem Indiz eines zunehmenden Gerechtigkeitsdefizits in der Gesellschaft.
Besonders herausfordernd ist dabei die Situation für diejenigen, die alleine wohnen. Von ihnen waren gemäß der Analyse 2020 fast 79,2 Prozent von Armut betroffen, also fast vier von fünf. Demgegenüber lag die Armutsquote bei denen, die bei ihren Eltern leben, bei nur 7,1 Prozent. Nicht nur müssen diese in der Regel ihr Essen nicht selbst bezahlen. Vor allem sparen sie sich die horrenden Mietkosten, die heutzutage in fast allen Hochschulstädten fällig werden. In München etwa werden inzwischen 600 Euro und mehr für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft aufgerufen.
Zwar will die Bundesregierung die BAföG-Wohnpauschale von 325 auf 360 heraufsetzen. Allerdings erscheint dieser Zuschlag bei den überhitzten Wohnungsmärkten für viele wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal ohnehin nur die wenigsten staatliche Ausbildungshilfen erhalten. Zuletzt waren es gerade einmal elf Prozent aller Studierenden. 2010 lag die Quote noch bei über 18 Prozent.
BAföG ist kein Sicherheitsgarant
Ein Grund für die Einbrüche: Das BAföG selbst ist längst kein Garant mehr für ein sorgenfreies Studium. Fast die Hälfte der Begünstigten gilt laut Studie als arm. Auf jene, die keine öffentlichen Zuwendungen beanspruchen, trifft dies nur zu knapp 30 Prozent zu. 2019 lag der BAföG-Höchstsatz bei 853 Euro, womit zu einem armutssicheren Auskommen 413 Euro fehlten. Unter den Befragten, die noch nie BAföG beantragt haben, gaben 83 Prozent an, ihre Studienfinanzierung sei sichergestellt. Studierende mit elternabhängigem BAföG stimmten dieser Aussage mit 56 Prozent zu, jene mit elternunabhängigem BAföG zu 46 Prozent.
Für die Bundesregierung kommen solche "Neuigkeiten", die eigentlich gar keine sind, zur Unzeit. Am heutigen Mittwochvormittag hat der Bundestagsausschuss für Bildung Stark-Watzingers (FDP) Gesetzesvorlage für eine BAföG-Reform behandelt. Wie hier bereits berichtet, stoßen die Pläne bei Gewerkschaften und Studierendenvertretern auf ein gemischtes Echo. Während sie die kräftige Erhöhung der Elternfreibeträge um 20 Prozent zum kommenden Wintersemester 2022/23 begrüßen, halten sie die Aufstockung der Bedarfssätze um fünf Prozent auf maximal 449 Euro für völlig unzureichend.
Inflation frisst Zuschläge auf
Die Zugabe gleiche nicht einmal die realen Kaufkraftverluste durch die aktuelle Inflation aus, beklagte denn auch Schneider vom Paritätischen. Wegen der Preisrally an den Energie- und Lebensmittelmärkten aufgrund des Ukraine-Kriegs drohten "weitere harte Belastungen, Verschuldung und Studienabbrüche für viele arme Studierende". Nötig sei deshalb unter anderem eine bedarfsgerechte Anhebung der Leistungshöhe sowie eine automatische und regelmäßige Anpassung der Bezüge.
Passiert das nicht, dürfte es mit der von Stark-Watzinger beschworenen "Trendumkehr" bei den Gefördertenzahlen nichts werden und eher das wahr werden, wovor am Dienstag Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke warnte: "Auch das 'neue' BAföG wird unterhalb der Armutsgrenze und unter Hartz-IV-Niveau liegen."