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"Studierende schreiben, dass die Thematisierung von Corona interessant war"

Dokumentation: Interview des Deutschlandfunks mit dem Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie VI der Universität Regensburg, Prof. Dr. Christof Kuhbandner

Telepolis dokumentiert im Folgenden die Abschrift eines Telefoninterview des Deutschlandfunks mit dem Regensburger Psychologen Christof Kuhbandner. Anlass für das Gespräch war die anonyme Meldung einer Studentin aus einem Seminars Kuhbandners beim Deutschlandfunk. Die Studentin beschwerte sich nach Angaben des Senders über eine mutmaßliche Einflussnahme des Lehrstuhlinhabers, der als Kritiker von Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bekannt ist.

Kuhbandner seinerseits übte nach Ausstrahlung des Beitrags unter dem Titel "Wissenschaftler, die Corona leugnen" [1] Kritik an dem Journalisten Michael Watzke und dem Sender: Zum einen werde er durch den Titel diffamierend und unwahr als "Corona-Leugner" dargestellt. Zum anderen habe Watzke seine Zitate so ausgewählt, dass die wichtige Entgegnungen auf die Kritik an seiner Lehrtätigkeit ausgespart wurde.

Die Fragen des Journalisten wurden zum Teil aus dem Gedächtnis rekonstruiert, die Antworten entsprechen den originalen O-Tönen im Wortlaut. Die Zwischenüberschriften wurden von Telepolis eingefügt. Den redaktionellen Beitrag zu dieser Dokumentation finden Sie hier [2].

Wie bewerten Sie die Vorwürfe des oder der Studierenden?
Christof Kuhbandner: Von den konkreten Vorwürfen der oder des Studierenden habe ich tatsächlich zum ersten Mal von Ihnen erfahren, und ich war tatsächlich völlig überrascht. In diesem Seminar geht es eigentlich darum, den Studierenden genau das Gegenteil zu vermitteln: Es geht darum, das wissenschaftliche Denken zu schärfen, es geht darum, psychologische Theorien anzuwenden, um das Handeln von Menschen zu erklären, und vor allem geht es darum, eine hohe wissenschaftliche Methodenkompetenz zu erwerben. Und deswegen war ich tatsächlich überrascht.
Im Seminar ist es dann so, dass die Studierenden die Aufgabe bekommen – um das eben zu üben –, dass sie methodische Fehler in publizierten Fachartikeln finden müssen. Da mehrere prominente Corona-Studien methodische Fehler aufweisen, die wirklich auch in der Fachliteratur publiziert und nachgewiesen sind, haben die Studierenden die Aufgabe bekommen, solche methodischen Fehler in solchen Studien zu finden.
Der Grund war, dass ich einfach gerne aktuelle Themen verwende. Und es gibt einen zweiten Grund. Ich vermittle Studierenden auch immer gerne, dass man auch bei hochrangigen Forscherinnen und Forschern deren Arbeit kritisch prüfen muss. Das ist ein zweiter Grund. Und was mir ganz wichtig ist: An der Stelle geht es nie darum, dahinterstehende Theorien in Frage zu stellen oder zu testen oder zu begründen, es geht wirklich nur darum, methodische Fehler zu finden.
Und deswegen war ich tatsächlich sehr überrascht über diese Vorwürfe. Und weil ich so überrascht war, habe ich diesen Vorfall auch mit den Studierenden in meinem Seminar geteilt – das Seminar läuft ja aktuell noch. Und ich habe die Studierenden gebeten, mir auf freiwilliger Basis – notfalls anonym – eine Rückmeldung zu geben, ob es denn ein Einzelfall ist, oder ob es viele Studierende im Seminar so empfunden haben. Und nach den bisherigen Rückmeldungen scheint das nicht der Fall zu sein.
Viele haben sich regelrecht geschockt gezeigt über den Vorfall, die Studierenden schreiben, dass das Seminar vielmehr den methodenkritischen Blick geschult hat, dass die Thematisierung von Corona interessant war und eine hochaktuelle Anwendung des Gelernten war. Also da kam für mich ein gegenteiliger Eindruck rüber.
Bei diesem Studierenden oder der Studierenden (gemeint ist die Studentin, die sich beim Deutschlandfunk gemeldet hat, d. Red.) habe ich eher den Eindruck, dass bestimmte Grundprinzipien, die vorher im Seminar vermittelt wurden, nicht wirklich verstanden wurden und deswegen vielleicht diese Geschichte ein bisschen falsch wahrgenommen wurde.
Was für mich auch noch interessant ist, ist noch ein ganz anderer Aspekt an diesem Vorfall: Vor wenigen Tagen haben sich 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengeschlossen zu einem "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit". Und interessanterweise wurde dieses Netzwerk genau deswegen gegründet, weil man die Gefahr sieht, dass die Wissenschaftler ihre eigentliche Forschungs- und Lehrfreiheit zunehmend selbst beschränken, weil man befürchtet, von außen moralisch diskreditiert zu werden, wenn man bestimmte Äußerungen macht oder bestimmte Themen aufgreift.
Und für mich ist es tatsächlich ein Beispiel dafür, was ich da gerade erlebe. Nur weil man wissenschaftliche Corona-Studien methodenkritisch hinterfragt – und das sind auch tatsächlich publizierte Kritiken – läuft man Gefahr, öffentlich für seine Lehre diskreditiert zu werden. Das ist für mich tatsächlich ein beispielhafter Fall, wozu dieses Netzwerk gegründet wurde.

Vom Folter-Experiment zur Maskenpflicht?

Warum haben Sie die Corona-Situation in Deutschland mit dem Milgram-Experiment verglichen?
Christof Kuhbandner: Zunächst vielleicht kurz zu einem der Hauptziele in der Lehre zur Pädagogischen Psychologie: Da geht es darum, die Studierenden dazu zu befähigen, das Handeln von Menschen mit verschiedenen psychologischen Theorien zu beleuchten und zu erklären. Und da ist ein wichtiger Kernsatz, den man mit vermittelt: Jede Theorie beleuchtet einen bestimmten Aspekt des psychischen Geschehens, und keine einzelne Theorie hat einen Wahrheitsanspruch, sondern liefert nur eine bestimmte Perspektive.
Und wenn man das Handeln von Menschen wirklich umfassend verstehen und erklären will, muss man praktisch mit verschiedenen psychologischen Theorien auf das Geschehen blicken. Und genau das wird praktisch in meinem Seminar geübt.
Der Grund, warum gerade Milgram ausgewählt wurde, ging tatsächlich ein Stück weit, sag ich mal, von den Studierenden aus. Ich habe da eine Umfrage gestartet, welche Experimente der Psychologie findet ihr besonders spannend. Und dann kam am häufigsten das Milgram-Experiment, so dass ich das dann genutzt habe, um zu üben, mit dieser Geschichte, mit diesem Experiment auf das Geschehen zu blicken. Und wie gesagt, ich nehme gerne aktuelle Themen, deswegen habe ich die Corona-Krise ausgewählt.
Vielleicht kurz zu Milgram, ich weiß nicht, ob das jedem bekannt ist: Das läuft so ab, dass ein kompetent wirkender Wissenschaftler eine Versuchsperson auffordert, eine Lehrmethode bei einer weiteren Person durchzuführen. Die Lehrmethode besteht darin, dass diese Person, die da lernt, bei Fehlern zunehmend stärkere Stromschläge verpasst bekommen muss von der Versuchsperson.
Die Beobachtung von Milgram war, dass tatsächlich viele Personen der Aufforderung dieses Wissenschaftlers nachgekommen sind, selbst wenn die lernende Person angefangen hat, vor Schmerzen beispielsweise zu schreien. Und interessant ist vielleicht, was Milgram selber zu seinem Experiment sagt. Er sagt, er hat hier ein einfaches Experiment durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach, weil ihn ein Wissenschaftler dazu auffordert. Das ist praktisch ein Zitat von ihm selber.
Und diese Beobachtung in diesem Milgram-Experiment haben wir dann benutzt, um auf das Corona-Geschehen zu blicken. Und da muss man fast Ihre Frage ein bisschen präzisieren. Wir haben natürlich nicht auf die Corona-Situation in Deutschland geblickt, sondern wir haben auf eine ganz besondere Situation geblickt, nämlich das Maskentragen von Kindern. Das hatte auch einen Grund, weil hier ist empirisch nachgewiesen, inzwischen wirklich sehr überzeugend, dass manche Kinder hier wirklich sehr stark darunter leiden.
Es gibt inzwischen einen Preprint von einer Forschergruppe der Universität Witten-Herdecke. Dort wurden in einem ein Online-Register Nebenwirkungen des Maskentragens gesammelt, ähnlich wie es bei Medikamenten der Fall ist. Und binnen einer Woche wurden über 25.000 Fälle mit Nebenwirkungen geschildert: 14.000 mal Kopfschmerzen, 7.000 mal Schwindel, 5.000 Ohnmachtsanfälle, 4.000 mal Übelkeit, 8.000 Kinder wollen nicht mehr in die Schule gehen zum Beispiel.
Und das haben wir benutzt, diese Situation, um mit der Milgram-Brille sozusagen auf das Geschehen zu blicken. Der Grund ist, weil eine Lehrkraft hier vor einer recht ähnlichen Situation steht: Das heißt, die Lehrkraft wird konfrontiert damit, dass man manche Kinder hat, die wirklich offensichtlich darunter leiden. Das ist praktisch die eine Geschichte von Milgram.
Und die zweite Geschichte ist, dass eine Person, oder besser gesagt an der Stelle Wissenschaftler da sind, die sagen: In dieser Situation ist es aber wichtig, dieses Leid zu ignorieren, wenn man so will, weil es bestimmte andere Gründe gibt, dass dieses Maskentragen die richtige Handlungsweise ist.
Wichtig ist hier zu betonen, dass das Milgram-Experiment hier nur einen Baustein liefert, um jetzt irgendwie zu erklären, warum handelt eine Lehrkraft so und nicht anders. Das ist auch ein klares Lernziel im Seminar. Wenn man wirklich umfassend verstehen will, wie eine Person handelt, dann braucht man weitere psychologische Theorien. Man muss praktisch wirklich gucken, was ist sonst noch im Kopf der Lehrkraft zum Beispiel drinnen, um hier wirklich Verhalten zu erklären und vorherzusagen. Das ist ein fundamentaler Lernaspekt, der im Seminar aber auch klar so kommuniziert wurde.
Halten Sie es als vertretbar, das Thema Corona auf eine solche Weise in der Lehre zu thematisieren?
Christof Kuhbandner: Das ist wirklich eine spannende Frage, die man sich gut überlegen muss. Für mich ist es an der Stelle wichtig, sich über die Rolle der Psychologie in der Corona-Krise klarzuwerden. Und ich glaube, eine wichtige Rolle, die wir Psychologen und Psychologinnen einnehmen, ist, mit psychologischen Theorien darauf zu schauen: Was haben wir gerade für ein Geschehen, und wie läuft das ab?
Und da ist Milgram eine Perspektive und es gibt noch viele weitere Perspektiven. Es gibt eine ganze Reihe von Wahrnehmungsverzerrungen zum Beispiel, es gibt eine ganze Reihe, wie wirkt sich zum Beispiel Angst auf Urteilen, Wahrnehmen, Denken und Handeln aus, und so weiter. Und das ist eine wichtige Rolle, die wir Psychologen einnehmen.
Und wenn man gerade in einer historischen Situation ist, wo ein so wichtiges Thema hier ist, dann ist es meiner Meinung nach sehr wichtig, die Studierenden auch darin zu schulen einerseits mit schwierigen Themen umzugehen, weil damit wird man als Psychologe/Psychologin oft in Zukunft in der beruflichen Tätigkeit zu tun haben. Und zum anderen ist es wirklich wichtig, auch an aktuellen Themen sozusagen sein wissenschaftliches Denken zu schulen.
Was allerdings ein wichtiger Punkt vielleicht noch ist: Wenn man jetzt bemerken würde, dass bestimmte Studierende aufgrund der Thematik hochängstlich werden, dass man dann vorsichtig sein muss, ob man bestimmte Dinge in einem bestimmten Lehrkontext ansprechen kann. Diesen Eindruck hatte ich jetzt nicht von der Seminargruppe.
Aber wenn man den Eindruck hätte, dann würde man das noch als einen zweiten Maßstab mit dazu nehmen. Also an sich finde ich es extrem wichtig, die Lehre wirklich an aktuellen Themen festzumachen, weil genau darin wollen wir unsere zukünftigen Psychologen und Psychologinnen ja schulen. Aber wie gesagt, individuell je nach Kontext muss man dann vielleicht nochmal abwägen.
Halten Sie die angeblich im Seminar verwendeten Quellen – Reitschuster, "Kraft der Gedanken" – für wissenschaftlich fundiert?
Christof Kuhbandner: Hier ist es wichtig, sich klarzumachen, was ich aus diesen Quellen benutzt habe. Letztendlich ging es ja darum, ein Fallbeispiel zu benutzen, um didaktisch in ein Thema einzuführen. Das ist ganz wichtig, denke ich, in der Lehre, denn sonst bleiben Theorien in einem luftleeren Raum hängen. Und es ist ganz häufig so, dass ich Fallbeispiele benutze in der Lehre, um in ein Thema einzuführen.
In dem Fall ist es so: Ich habe wirklich selber einige Fallbeispiele kennengelernt, weil sich Leute an mich gewendet haben. Erst heute Nachmittag habe ich eine E-Mail erhalten von einer Erzieherin, die sagt, ihre Kinder ziehen sich immer mehr zurück, fallen in der Entwicklung zurück, sprechen zum Teil kaum mehr, also da hätte ich sogar aus eigener Anschauung viele Fallbeispiele gehabt. In dem Fall wollte ich aber gerne ein publiziertes Fallbeispiel nehmen, und auf der Seite reitschuster.de gibt es praktisch eine Sammlung von solchen Fallbeispielen.
An der Stelle ist denke ich klar, oder vielleicht ist es vielen Hörern klar, dass Reitschuster im Zusammenhang oft mit rechtspopulistischen Ideen genannt wird. Und ich denke, jeder der mich kennt, der weiß, dass ich mich da mit jeder Faser meines Körpers und meines Denkens davon abgrenze.
Aber es ist für mich ganz wichtig, immer hier zwei Dinge zu trennen. Letztendlich muss das nicht heißen, dass die journalistische Qualität von Reitschuster deswegen schlecht ist. Und deswegen würde ich dieser Quelle in diesem Fall einigermaßen vertrauen, also, dass es wirklich ein echtes Fallbeispiel ist. Da würde es dann eher um die journalistische Qualität von Reitschuster gehen.
Wobei auch hier – und das ist gerade in Bezug auf das wissenschaftliche Denken immer wichtig: Man muss natürlich solche Fallbeispiele immer prüfen. Also auch in dem Fall, wenn man das wirklich wissenschaftlich benutzen wollte, müsste man nicht journalistischen Quellen glauben, sondern man müsste diesen Fall dann verifizieren.
Also zum Beispiel, wenn ich eine E-Mail kriege von irgendeinem Fall, dann wird auf alle Fälle zunächst mal mit der Person telefoniert, dann wird versucht alles zu verifizieren, was da erzählt wird, und das würde man in dem Fall natürlich dann auch so machen. Das wurde dann auch denke ich so im Seminar thematisiert, dass man immer gucken muss, ob diese Quelle solide ist. Deswegen, wie gesagt war das eher von der Didaktik her, dass man sagt, man braucht ein Fallbeispiel, und es war gar jetzt nicht die Idee das wissenschaftlich zu üben, wie man das prüft.

"Habe Querdenkerszene nicht analysiert"

Würden Sie auf einer Querdenker-Demo sprechen?
Christof Kuhbandner: Ich bin zum Beispiel schon eingeladen worden auf Querdenker-Demos, um dort zu sprechen, und ich bin tatsächlich noch nie auf irgendwelche Demos gegangen, um dort zu sprechen. Das hat aber verschiedene Seiten, muss ich tatsächlich sagen. Ich bin jetzt da tatsächlich nicht so, dass ich die Querdenkerszene analysiert hätte.
Aber zum einen finde ich es tatsächlich ein bisschen schade, weil ich dann tatsächlich wirklich glaubwürdige Anfragen kriege aus der Querdenker-Ecke, zum Beispiel: Wollen Sie in Regensburg auf einer Veranstaltung sprechen, ich kann Ihnen versichern, wir sind nicht so, wie es hier oft rüberkommt und so weiter. Und wenn das stimmen sollte, wäre es natürlich schade.
Also an der Stelle gibt es immer ein großes Problem, finde ich jetzt in der aktuellen Situation, mit dem man selber tatsächlich dann auch immer zu kämpfen hat: Gerade wenn man sagt, man versucht als Wissenschaftler wirklich, ich nenne es jetzt mal: Dinge wissenschaftlich neutral zu betrachten und unter Umständen dann auch die Regierungsmeinung evidenzbasiert zu versuchen kritisch zu hinterfragen, dann wird man sehr schnell in eine gewisse Ecke geschoben von außen. Und es ist wirklich total schwierig, wie man damit umgeht.
Also, bei mir ist es so, dass ich mich dann permanent distanziere von diesen Dingen, auf bestimmten Veranstaltungen nicht auftreten würde, und ein Stück weit, wie gesagt, ist es dann schade, weil einem damit was genommen wird, in der Öffentlichkeit gehört zu werden. Das ist eine ganz schwierige Situation.
Und ich finde es gerade deswegen problematisch, da kommen wir vielleicht auch noch dazu: Wir haben hier praktisch eine Spaltung ein stückweit in der Gesellschaft erzeugt, die daherkommt, dass im öffentlichen Diskurs nicht wirklich ein komplettes Meinungsbild abgedeckt wird.
Wenn man relativ neutral berichten würde über die verschiedenen Sichtweisen, die es irgendwo gibt, dann würde man sofort den problematischen Querdenkern und problematischen sonstigen Gruppierungen wie zum Beispiel den Verschwörungstheoretikern den Saft abdrehen. Dann wäre das einfach weg, dann gäbe es keinen Grund mehr.
Also ein Stück weit ist das selbst erzeugt, dass man hier praktisch, was ein Wissenschaftler immer kritisch sehen würde, eine Meinung – so muss man das nennen – in den Vordergrund stellt, und diese praktisch dann von vielen als die Wahrheit empfunden wird, obwohl es aus einer wissenschaftlichen Perspektive immer verscheiden Sichtweisen auf dasselbe Thema gibt.
Haben Sie bei der Hausaufgabe zur Widerlegung der Drosten-Studie ausreichend auf Ausgewogenheit geachtet, indem Sie beispielsweise neben ablehnenden auch zustimmende Aussagen genannt haben?
Christof Kuhbandner: In Bezug auf die Drosten-Studie – das ist ja die Drosten-Studie wo es um die Viruslast bei Kindern geht – ist es einfach so, dass diese Studie einen wirklich sehr bekannten statistischen Fehler enthält. Wenn man die Ergebnisse betrachtet und die Kindergruppe mit der Erwachsenengruppe dort vergleicht, dann bemerkt man rein auf der Mittelwertebene – also was war die mittlere Viruslast: Dann haben die Kinder eine um 73 Prozent geringere Viruslast. Das ist die Mittelwertperspektive.
Dieser Unterschied wird aber nicht signifikant, das ist praktisch dann der statistische Test, den man da rechnet. Und das wird deswegen nicht signifikant, weil die Anzahl der Kinder sehr klein ist und die Erwachsenen in lauter kleine Subgruppen unterteilt wurden, sodass in den Subgruppen die Anzahl der Personen auch sehr klein ist.
Und was dann passiert, ist ein statistisch bekanntes Problem: Dann wird die sogenannte Power sehr klein – also die Wahrscheinlichkeit, einen in Wirklichkeit existierenden Mittelwertunterschied signifikant nachzuweisen. Unter so einer Bedingung, wo man praktisch – man würde das "deskriptiv" nennen – wirklich einen Mittelwertunterschied zahlenmäßig beobachtet, und nur die Power nicht ausreicht damit das signifikant wird, darf man nicht auf die Nullhypothese schließen, also darauf, dass es in Wirklichkeit keinen Unterschied zwischen den Gruppen gäbe.
Also das ist wirklich ein ganz bekannter statistischer Fehler, da sind sich auch alle Fachwissenschaftler denke ich einig. Sogar die Arbeitsgruppe um Drosten hat den Artikel ja praktisch umgeschrieben in Reaktion auf diese Kritiken und hat diese Analyse geändert. Also an der Stelle ist, glaube ich, der Punkt, dass es gar keine Alternative gibt, weil es einfach ein Fehler ist, der letztendlich von allen so gesehen wird.
Haben Sie daraus geschlossen, dass von Kindern dann keine Gefahr ausgeht?
Christof Kuhbandner: Der Punkt ist: Um diese Frage ging es an der Stelle – das habe ich glaube ich vorhin schon mal erwähnt – im Seminar gar nicht. Es ging nur darum, den methodischen Fehler zu finden. Es ging auch gar nicht um die Frage, haben den nun eigentlich Kinder eine größere oder kleinere Viruslast. Das didaktische Ziel war hier wirklich nur den methodischen Fehler zu finden.
Wenn man jetzt diese Frage beantworten möchte - das würde vielleicht dieses Interview sprengen – dann wird man zunächst festhalten können, dass jetzt zum Beispiel ganz große Studie gezeigt hat mit über 25.000 positiv getesteten Personen, dass die Viruslast bei Kindern wirklich deutlich geringer ist als bei Erwachsenen.
Und jetzt müsste man ganz viele Befunde durchgehen, das ist eine riesige Menge an Befunden, inwiefern praktisch Kinder zum einen sich weniger anstecken, das Virus vielleicht auch weniger weitergeben. Da müssten wir Studien durchgehen, wie gut schützt die Maske und so weiter und so sofort. Das können wir sehr gerne machen. Und genau so würde man auch einen wissenschaftlichen Diskurs dann führen mit Fachkollegen und Fachkolleginnen. Und so etwas würde man dann in einem Seminar, wenn es um das Thema ginge, dann auch erlebbar machen.
Dann würde man sich zum Beispiel die Stellungnahmen vom großen Fachgesellschaften anschauen, die vor kurzem vor ungefähr zwei Wochen erneut bestätigt haben: Man kann die Schulen unter bestimmten Hygienemaßnahmen öffnen, die Kollateralschäden sind viel zu hoch, die Risiken, die wir hier eingehen, die Anzahl der psychischen Störungen unter den Kindern schießt in die Höhe, benachteiligte Kinder werden extrem benachteiligt, manche Kinder sprechen nicht mehr.
Also das sind alles Dinge, die man jetzt sozusagen durchgehen könnte, und dann könnte man so einen wissenschaftlichen Diskurs abbilden. Darum geht es nur in diesem Seminar nicht. In diesem Seminar geht es nur darum, Methodenkompetenz an der Stelle zu entwickeln. Deswegen wird das in dem Seminar gar nicht vertieft. Und die Frage wird auch tatsächlich gar nicht gestellt.

"Befähigen, ihre eigene Meinung zu finden"

Wollten Sie, wie der oder die Studierende behauptet, den Seminar-Teilnehmern Ihre Corona-kritische Sichtweise aufdrücken?
Christof Kuhbandner: Also, da kann ich nur sagen, dass das wirklich überhaupt nicht der Fall ist. Ein Grundsatz in meiner Lehre ist, dass ich niemals Studierenden eine persönliche Sichtweise aufdrücken würde.
Ganz im Gegenteil, als pädagogischer Psychologe würde ich extrem das Ideal vertreten, dass man Individuen dazu befähigt, ihre eigene Meinung zu finden. Und wenn es um die Meinung als Wissenschaftler geht sozusagen, dann geht es in dem Seminar zum Beispiel darum, dass man wirklich lernen muss, wissenschaftliche Sachverhalte zu bewerten: wie man Theorien präzise prüft, ob also eine Theorie präzise und logisch korrekt formuliert ist, und wie man prüft, ob die Theorie mit qualitativ hochwertigen Methoden geprüft ist. Und das sind die einzigen Kriterien, die in der Wissenschaft zählen.
Vielmehr ist es so: als Wissenschaftler weiß man – und das wird dezidiert in dem Seminar vermittelt, dazu gibt es sogar eine ganze eigene Sitzung vorher –, dass es in der Wissenschaft und gerade in der Psychologie, wo es um komplexe Sachverhalte geht, generell keine Wahrheiten gibt. Jede Theorie beleuchteten einen bestimmten Ausschnitt des Geschehens und unterschiedliche Theorien machen unterschiedliche Handlungsvorschläge.
Und aus dieser Perspektive, gerade weil die Corona-Krise in ihrer Gesamtwirkung – also nicht nur auf das Krankheitsgeschehen, sondern auch auf die Gesellschaft bezogen – ein komplexes Phänomen ist, ist es für mich eher so, dass es ganz wichtig ist, davon wegzukommen von Sätzen, die man manchmal hört, wie: Das Virus zwingt uns dazu, etwas zu tun.
Jeder, der Ahnung von Wissenschaft hat, der weiß, dass wissenschaftliche Theorien, wenn es ein komplexes Phänomen ist, nur unsichere Vorhersagen liefern können, und dass in einer differenzierten Gesellschaft unterschiedliche Interessen und Maßstäbe vorherrschen.
Und da kann eine Wissenschaft nicht technokratisch Handlungsweisen vorgeben. Das wurde auch ja von Angela Merkel bei ihrer letzten Pressekonferenz gesagt, wenn sie sagt, es war keine wissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung.
Und vielleicht noch dazu: Für mich wäre es bei einer politischen Entscheidung wichtig, dass man in einer Demokratie wirklich dahin kommt, dass man verschiedene Perspektiven gemeinsam einnimmt, sich über die verschiedenen Interessen und Normen verständigt, und dann sich gemeinsam einigen muss, welche Risiken man als Gesellschaft zu welchem Preis auf sich nehmen möchte. Also das ist ganz wichtig hier zu trennen zwischen wissenschaftlichen Sichtweisen und politischen Entscheidungen. Das sind zwei unterschiedliche Handlungsfelder.
Wie bewerten Sie das Schreiben der Universitäts-Leitung? Fühlen Sie sich angesprochen?
Christof Kuhbandner: Zum damaligen Zeitpunkt, als dieses Schreiben erschienen ist, da wusste ich ja von dem Vorwurf des oder der Studenten oder Studentin nichts, und deswegen habe ich mich damals tatsächlich gar nicht angesprochen gefühlt.
Und prinzipiell ist es bei mir so, dass ich mich öffentlich eigentlich nur zu Sachverhalten äußere, bei denen ich mich als Wissenschaftler wirklich kompetent fühle. Also ich würde mich niemals dazu äußern, keine Ahnung, zu irgendwelchen Impfschäden zum Beispiel, oder wo das Virus in der Lunge andockt und so weiter.
Wozu mich äußern kann, das sind diagnostische Fragen, das sind methodische statistische Fragen, das sind Fragen zu Wirkungen, typischerweise psychologisch, und in dem Bereich habe ich tatsächlich auch peer-reviewed in einer medizinischen Fachzeitschrift schon publiziert. Also zu bestimmten Themen kann ich sehr kompetent antworten, und das ist für mich eine ganz wichtige Richtschnur.
Und für mich vielleicht dann noch wichtiger, gerade wenn es darum geht, bei solchen Themen auf die Öffentlichkeit zuzugehen: Ich habe immer ein Problem damit, wenn – und ich formuliere es mal ein bisschen überspitzt – nur mit einem weißen Kittel argumentiert wird, also damit: Hier ist der Wissenschaftler mit der Kompetenz, und was diese Person sagt, stimmt.
Viel wichtiger ist es für mich wirklich gerade in so einer Situation, wo es darum gehen würde Bürgerinnen und Bürger sozusagen mündig zu machen an solchen Entscheidungsprozessen mitzumachen, diese Dinge so zu transportieren, dass jede Person sich auf den Weg machen kann, diese Dinge durch eigenes Denken nachzuvollziehen.
Und nur solche Artikel versuche ich dann zu schreiben, die wirklich jede Person absolut aus sich heraus nachzuvollziehen kann, und wo man nicht auf irgendwelche Titel setzen muss oder sonstiges, die eine Person mitbringt. Das ist für mich als pädagogischer Psychologe, wo es darum geht, Wissen so zu vermitteln, dass es jeder gut verstehen kann, eines meiner Grundprinzipien.
Fühlen Sie sich als ein Opfer der sogenannten Cancel Culture?
Christof Kuhbandner: Es ist eine spannende Frage mit dieser Cancel Culture. Ich könnte jetzt mehrere Beispiele nennen, die mir zugetragen wurden. Ich hatte ja ganz am Anfang schon, ich glaube, das war Ende März, einen Artikel geschrieben, wo die Aufarbeitung der Zahlen durch das Robert-Koch-Institut kritisiert wurde. Und ich habe da wirklich unfassbar viel positives Feedback – was bei mir persönlich ankam – bekommen.
Und es kamen, was dann wirklich spannend war, von Fachkollegen tatsächlich E-Mails an, wo man sich zum Beispiel bedankt hat für meinen Mut. Oder man hört dann, ich habe mich das jetzt nicht so formulieren trauen in der Öffentlichkeit, weil ich Angst hatte, in der Presse verrissen zu werden. Oder ich kenne auch Journalisten, wo ich das schon so gehört habe: Wenn wir hier zu kritisch berichtet würden, dann kriegen wir einen Shitstorm von den Lesern ab.
Und das sind für mich ganz ungute Entwicklungen in einer Demokratie, wo man sich eigentlich wirklich verschiede Sichtweisen anschauen muss. Bei verschiedenen Sichtweisen ist es ganz wichtig, dass es nicht darum geht, sich jetzt Sichtweisen anzuschauen, die nicht begründbar sind, die vielleicht eigenartig sind, zum Beispiel Verschwörungstheorien, da würde ich mich komplett dagegen wehren, dass das jetzt irgendwie Sichtweisen sind, die man sich anschauen muss, weil, das sind irgendwelche wilden Spekulationen.
Aber wenn es um verschiedene Sichtweisen geht, die wirklich mit Daten und mit Zahlen ganz einfach belegt sind und sich jeder anschauen kann: Wenn man sich solche Sichtweisen nicht mehr anschauen kann, dann haben wir tatsächlich ein Problem.
Also wenn es irgendwo darum geht: Ich finde als Wissenschaftler Dinge – jetzt mal so ausgedrückt – die nicht konform sind mit der Mehrheitsmeinung, dass man dann sich nicht mehr traut, mit diesen einfach objektiven Befunden an die Öffentlichkeit zu gehen. Dann haben wir tatsächlich, finde ich, ein großes Problem in unserer Gesellschaft erzeugt.

Gesellschaft muss über Risiken entscheiden

Halten Sie die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung für übertrieben?
Christof Kuhbandner: Solche Fragen werden mir tatsächlich öfters gestellt. Und dann muss ich immer einen ganz wichtigen Punkt klarmachen: Eine Person allein sollte sich nie herausnehmen, hier irgendein definitives Urteil zu fällen. Also ich würde mich nie hinstellen und sagen: So ist es. Es ist genau andersrum.
Vielmehr ist es wichtig, dass verschiedene Personen aus verschiedenen Fachrichtungen ein Geschehen beleuchten und ihre jeweiligen Sichtweisen einbringen. Aber jetzt nicht mit dem Impetus: Das ist jetzt richtig und so muss es umgesetzt werden. Sondern mit einer ganz anderen Haltung, nämlich: Aus meiner Perspektive als pädagogische Psychologie, als Methodiker und Statistiker bringe ich jetzt diese Sichtweise ein, es ist die Sichtweise aus dieser Perspektive, aus anderen Perspektiven gibt es andere Sichtweisen.
Und deswegen muss ich immer dazu sagen: Das ist die Sichtweise gemessen aus dieser Perspektive. Und dann müssen wir als Gesellschaft gemeinsam zusammenkommen und müssen wie gesagt entscheiden, welche Risiken nehmen wir auf sich, welchen möglichen Preis nehmen wir auf sich. Es ist dann eine gesellschaftliche Entscheidung. Also ich persönlich würde da keine konkreten Empfehlungen in dem Sinn abgeben: So ist es.
Wenn ich dann die diese Perspektive einnehme, dann finde ich es zunächst mal höchstproblematisch, dass – das war ja groß in den Medien – bei der bei der letzten Regierungsrunde zum Beispiel Wissenschaftler wie Klaus Stöhr oder Hendrik Streeck trotz des Wunsches mancher Ministerpräsidenten nicht gehört wurden.
Das widerspricht genau dem Prinzip, das ich vorher geschildert habe, dass man eigentlich nur dann zu einer guten Entscheidung kommt, wenn man immer wirklich verschiedene Perspektiven als gesellschaftliche demokratische Instanz einnimmt.
Was besonders frappierend ist: Dass bei diesen ganzen Regierungstreffen Psychologen und Psychologinnen, soweit ich weiß, nie dabei waren, obwohl die Psyche, gerade wenn es um Kollateralschäden geht, eine ganz große Rolle spielt. Und gerade als pädagogischer Psychologie: Gerade, dass Kinder, dass diese aus der Perspektive praktisch völlig herausgefallen sind: Das ist zum einen schlimm für die Kinder, man hat vielleicht die Berichte in den letzten Tagen gehört, wo es eine Triage gibt in den Kinder- und Jugendpsychiatrien zum Beispiel.
Aber was fast noch frappierender ist: es ist sogar völkerrechtsverletzend, dass diese Perspektive herausfällt. Nach der UN-Kinderrechtskonvention ist eigentlich bei allen Maßnahmen das Wohl des Kindes – so ist es dort formuliert – vorrangig mit zu berücksichtigen. Und das ist praktisch tatsächlich nie passiert.
Wenn man die Perspektive einnimmt der evidenzbasierten Medizin, dann müsste man immer so auf Maßnahmen schauen, dass man sagt: Zum einen, was ist der Nutzen, was wissen wir darüber empirisch gezeigt, und was wissen wir eigentlich über die Kosten, über die Kollateralschäden.
Aber das Problem ist, dass nach wie vor der Nutzen von Maßnahmen nicht mit hochwertigen Studien belegt ist. Da müsste man nun auch wieder in einen Diskurs reingehen, da gibt es ganz, ganz viel Forschung, das Bildes ist einfach unklar. Da haben wir wieder viele Methodenprobleme, wie wir es vorher schon hatten.
Viele Studien zeigen keinen Effekt, manche Studien zeigen dann einen Effekt. Das ist einfach ein Wirrwarr, man weiß es einfach nicht. Das ist ein großes Problem. Das andere Problem ist, dass meinem Eindruck nach viele Kollateralschäden zu wenig einbezogen sind.
Und gerade aus psychologischer Perspektive gibt es dafür einen interessanten Grund, meiner Meinung nach, warum Kollateralschäden wenig einbezogen werden. Es gibt so einen Mechanismus, wie wir Menschen denken und urteilen, und zwar ist es so: wir beziehen in unsere Entscheidungen die sofortigen Konsequenzen stärker ein und übergewichten diese, und Konsequenzen, die erst irgendwann später auftreten, die untergewichten wir. Das wurde in hunderten von Experimenten gezeigt.
Das hat den Nachteil: wenn ich solchen irrationalen Denkweisen anheimfalle, dann übergewichtige ich die momentanen Konsequenzen und untergewichte das, was dann in mehreren Jahren dann vielleicht drohen wird. Und das kann natürlich langfristig für uns Menschen nicht die beste Art der Entscheidung sein.
Da würde ich mir immer wünschen, dass man solche Verzerrungen des Denkens kennt, zurückkehrt zu einer rationalen Perspektive und nicht solchen möglichen psychologischen Verzerrungen beim Entscheiden anheimfällt. Das wäre zum Beispiel eine wichtige Rolle von uns Psychologen, so etwas hier einzubringen.
Wird die Gefahr von Corona in Deutschland überschätzt?
Christof Kuhbandner: Das Spannende sage ich jetzt mal an dieser Frage ist, dass es da wirklich ja wirklich ein fundamentales Problem gibt, das haben wirklich verschieden Experten wie zum Beispiel Gerd Antes oder Matthias Schrappe – wenn Ihnen das etwas sagt – immer wieder angemerkt: Dass die vom RKI erhobenen Zahlen so diagnostisch unzuverlässig sind, dass man diese Frage gar nicht valide beantworten kann. Wir haben zum Beispiel in Deutschland nach wie vor – obwohl wir jetzt schon solang diese Pandemie haben – keine repräsentative Stichprobe, sodass wir sehen könnten, wie ist denn gerade das Virus in der Bevölkerung verteilt.
Wir testen immer noch wechselnden Regeln bestimmte Leute, und damit wissen wir tatsächlich als aus einer wissenschaftlichen Perspektiven nicht: Wie viele Infizierte haben wir gerade? Wie hoch ist die Dunkelziffer? Das wissen wir einfach nicht. Oder ein anderes Problem, bei der Anzahl der Todesfälle: wir wissen nach wie vor nicht, wie viele Personen sind jetzt wirklich an und wie viele sind jetzt nur mit dem Corona-Virus verstorben. Wissen wir nicht.

Übersterblichkeit erst später zu bewerten

Aber gab es nicht eine Übersterblichkeit im Jahr 2020 in Deutschland?
Christof Kuhbandner: Die Frage nach der Übersterblichkeit ist ein spannender Punkt. Jetzt würde man ja sagen, die Zahlen wie zum Beispiel täglichen Fallzahlen oder Todesfallzahlen, die sind wirklich schwierig zu interpretieren. Bei der Übersterblichkeit ist es tatsächlich anders. Da löst man viele Probleme.
Das ist deswegen so spannend, weil ja gerade so eine Diskussion ist: Gibt es eine Übersterblichkeit? Ich weiß nicht, inwiefern das jetzt schon in der Öffentlichkeit groß kursiert ist: Es gibt eine Statistiker- Gruppe der LMU München, die Gruppe berechnet zum Beispiel für das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit den R-Wert und das Nowcasting machen die in Bayern. Also das ist eine der hochrangigsten Gruppen, die wir in Bayern so haben.
Und diese Gruppe hat jetzt tatsächlich eine Veröffentlichung rausgebracht vor ein bis zwei Tagen: dass, wenn man das Bevölkerungswachstum einrechnet und wenn man die Verschiebung der Alterspyramide einrechnet für das komplette Jahr 2020, dann sind sogar weniger Menschen verstorben als in den Vorjahren.
Das ist wirklich sehr überraschend. Um die Frage geht es jetzt gar nicht, Maßnahmen, haben die gewirkt oder nicht. Das ist allein schon deswegen überraschend, weil laut RKI grob 40.000 Menschen im Jahr 2020 mit und am Corona-Virus verstorben sind. Aber diese Zahl von 40.000 findet man nicht in der Übersterblichkeit, und das ist wirklich absolut bemerkenswert. Das ist auch nicht irgendein Verschwörungstheoretiker, der diese Zahlen veröffentlich hat, sondern da ist sogar der Dekan der Fakultät dabei und die Statistiker-Gruppe der LMU.
Und jetzt ist es natürlich spannend: Was heißt das eigentlich? Und wenn man jetzt da drauf schaut – das ist ein bisschen eine verfrühte Interpretation: Irgendwo muss ja irgendwas gegen gegengerechnet werden, das heißt, eine Erklärungsmöglichkeit könnte es sein, dass Corona – in diesem Alter, wo die Leute versterben, die sind ja typischerweise hochbetagt und haben viele Vorerkrankungen und leben schwerpunktmäßig in ein Pflegeheim – andere typische Todesursachen ersetzt hat. Anders kann es fast nicht sein, weil irgendwie muss es sich ja gegenrechnen.
Die 40.000 müssen ja irgendwo anders fehlen. Wenn das so wäre, dann würde man tatsächlich die von Corona ausgehende Gefahr ein stückweit anders bewerten müssen, weil offenbar andere Todesursachen weggefallen sind. Ich möchte aber wirklich eigentlich nicht wirklich viel dazu sagen, weil, das hatte ich ja vorhin schon angemerkt, wenn es dann speziell um Todesursachen geht, da würde ich mich auch nicht kompetent dazu genug fühlen.
Und vielleicht noch ein zweiter Punkt dazu: Definitive Aussagen dazu wird man erst treffen können, wenn wir wirklich die genauen Todesursachen kennen. Also bisher kriegt man vom Statistischen Bundesamt – die Zahlen habe ich mir selber angeschaut – nur: So und so viele Leute sind verstorben, dann gibt es noch die Zahlen, wie viele sind am Corona-Virus verstorben. Aber zu den anderen Todesursachen weiß man noch nichts, das ist noch unbekannt.
Und erst, wenn man die kennt, keine Ahnung, vielleicht dann Mitte des nächsten Jahres, wird man es dann wirklich definitiv wissen. Aber das war wirklich, muss ich sagen, sehr überraschend, auch für mich sehr überraschend, dass, wenn man das Bevölkerungswachstum und die Verschiebung der Alterspyramide einrechnet, wie man es machen muss, dass dann tatsächlich keine Übersterblichkeit im Jahr 2020 zu beobachten war.

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https://www.heise.de/-5988228

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[1] https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-wissenschaftler-die-corona-leugnen.680.de.html?dram:article_id=493048
[2] https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-Pandemie-Wissenschaft-und-Lehre-bedroht-5993915.html