Sündenbock und Prügelknabe: Die Funktion des Straftäters in der Klassengesellschaft
Das Anpassungsgefüge der "kleinen Leute" gerät aus dem Gleichgewicht, wenn Verurteilte nicht leiden müssen.
Nach einer Untersuchung vor Ort hat der Europarat eine mangelnde psychiatrische Versorgung in deutschen Justizvollzugsanstalten kritisiert. Das Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe des Europarats (CPT) kritisierte auch die teilweise lange Einzelhaft. Das geht aus einem Bericht hervor, den das Gremium am Mittwoch veröffentlicht hat. Online gestellt wurden auch eine zusammenfassende Erklärung und eine Stellungnahme der deutschen Justizbehörden.
Telepolis hat Götz Eisenberg um eine Einschätzung gebeten. Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug.
Die Gesellschaft trifft überall – auf der Straße, in den Berufen, in der Familie usw. – auf eine Vielzahl von Problemen, und die Psychiater sind die Funktionäre der sozialen Ordnung. An ihnen ist es, diese Störungen zu beheben. Sie sind die Funktionäre der öffentlichen Hygiene. Das ist die eigentliche Bestimmung der Psychiatrie, ihr Milieu und ihr Entstehungshorizont.
Michel Foucault
Als ich Mitte der 1980er-Jahre anfing, beim Psychologischen Dienst eines hessischen Erwachsenengefängnisses zu arbeiten, waren dort Psychiater unbekannt. Psychiater hatten sich in manchen Fällen im Rahmen der Gerichtsverhandlung zur Frage der Schuldfähigkeit zu äußern, im Strafvollzug war für sie kein Platz. Der Straftäter war vom Gericht für schuldfähig erachtet und verurteilt worden, nun hatte er seine Strafe zu verbüßen. Das war alles.
Der Straftäter hatte das Recht negiert, nun negierte die Strafe seine Negation des Rechts und stellte auf diese Weise das gestörte Gleichgewicht wieder her. Der Straftäter wurde von einem Gericht für schuldfähig und verantwortlich erachtet und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, deren Länge das Äquivalent zur Schwere seiner Schuld bildete. Der Verbrecher hatte im Sinne Hegels ein Recht auf die Strafe, denn sie ehrte im ihm das verantwortliche und vernünftige Wesen, während ein unvernünftiges Tier nur gezüchtigt, aber nicht gestraft werden kann.
Therapie hätte im Hegelschen Sinne nur dann ihre Berechtigung, wenn das Urteil einen Unvernünftigen getroffen hätte, der nur begrenzt oder gar nicht die Verantwortung für seine Tat trägt. Dann aber hätte er in den Maßregelvollzug und nicht in den Strafvollzug eingewiesen werden müssen. Für den Fall, dass es mit Häftlingen dennoch Probleme gab, verfügten die Anstalten je nach Größe über ein oder zwei Gefängnispsychologen. In der JVA Butzbach gab es deren zwei für anfangs beinahe tausend Insassen.
Einsatz früher nur bei Suizidgefahr oder Renitenz
Die wurden gerufen, wenn jemand die Absicht äußerte, sich umzubringen oder sich aufsässig verhielt. Ansonsten ließ man die Gefangenen in Ruhe und behelligte sie nicht mit psychologischen Mätzchen. Arbeit galt als die beste Medizin.
Erst als sich die Fälle von Inhaftierten häuften, die im Gefängnis auffällig wurden und Psychosen und andere psychische Störungen ausbrüteten, wurde ein externer Psychiater angeheuert, der an den Wochenenden für ein paar Stunden in die Anstalt kam, um die ihm benannten Gefangenen in Augenschein zu nehmen und "medikamentös einzustellen". Die psychoaktiven Substanzen hielten Einzug in den Strafvollzug und werden seither einer wachsenden Zahl von Inhaftierten regelmäßig verabreicht.
Auch pharmakologisch lassen sich "Sicherheit und Ordnung" herstellen und aufrechterhalten. Die Macht begann, sich neuer, geschmeidigerer Befriedungs- und Normalisierungstechniken zu bedienen, um Konflikten vorzubeugen und Unruhe einzudämmen. Der Schlagstock wich mehr und mehr der Spritze und dem Tablettenröhrchen.
Die Trennlinie zwischen "Irren" und "Kriminellen" im Wandel der Zeit
Die im 19. Jahrhundert vollzogene Trennlinie zwischen "Irren" und "Kriminellen" wurde unscharf und von diesen Entwicklungen partiell aufgehoben. Die verschiedenen Formen abweichenden Verhaltens mischten sich erneut und waren nun wieder unter einem Dach anzutreffen. Der konsiliarisch tätige Psychiater bekam viel zu tun und verbrachte immer mehr Zeit an einem Ort, an dem es streng genommen keine "Klienten" für ihn geben dürfte.
Wenn ein Straftäter einmal rechtskräftig verurteilt ist und also für schuldfähig erachtet wurde, kann man ihn nur unter großen bürokratischen Mühen "in ein angemessenes therapeutisches Umfeld" verlegen, wie der Europarat bemängelt. Die Einweisung eines Straftäters in eine Haftanstalt mit entsprechenden Sicherungsmaßnahmen dient ja immer auch dem "Schutz der Allgemeinheit" vor einer dem Täter attestierten "Gefährlichkeit".
Dass diese nicht so ohne weiteres aufgehoben werden kann, hat von daher einen nachvollziehbaren Sinn. Ich kann aus eigenen Erfahrungen berichten, dass man mit der Energie, die es kostet, einen verurteilten Straftäter von einem Gefängnis in ein psychiatrisches Krankenhaus zu verlegen, früher ganze Königreiche revolutionieren konnte.
Absurde Einrichtungen
Gefängnisse sind nach wie vor absurde Einrichtungen, an denen aus verschiedenen Gründen verbissen festgehalten wird - auch dann, wenn seit Langem feststeht, dass sie ihre selbst gesetzten Zielsetzungen notorisch verfehlen. Einer der Gründe ist das Strafbedürfnis der sogenannten anständigen Leute. Straftäter und Gefängnisse erfüllen sozialpsychologisch eine wichtige Funktion. Jean-Paul Sartre hat diese in seiner bahnbrechenden Studie über Jean Genet so beschrieben: Traditionell stabilisierten sich Gesellschaften durch periodisch wiederkehrende kriegerische Ausbrüche.
Leider kann man sich nicht immer schlagen; von Zeit zu Zeit muss man schon Frieden schließen. Für die Friedenszeit hat die Gesellschaft in ihrer Weisheit, wenn ich so sagen darf, professionelle Böse geschaffen. Diese ‚bösen Menschen‘ sind für die guten Menschen ebenso notwendig, wie die Bordellmädchen für die anständigen Frauen: Sie sind Fixationsabszesse; wie viel friedliche, abgeklärte, beruhigte Gewissen kommen auf einen einzigen Sadisten?
Für die Anderen besteht die Funktion des Straftäters darin, ihre verbotenen Wünsche auf sich zu nehmen und sie ihnen widerzuspiegeln. Das Böse ist das Andere, das mit mir nichts zu tun hat und hinter hohen Mauern verschwindet. Die Bestrafung des Rechtsbrechers sichert den Nachtschlaf der "anständigen Bürger" und stillt ihr Bedürfnis nach Rache und Vergeltung. Niemand hat das klarer gesehen als Nietzsche: "Die Strafe hat den Zweck, den zu bessern, welcher straft – das ist die letzte Zuflucht für die Verteidiger der Strafe."
Die Rolle des Kriminellen als Sündenbock der Gesellschaft ist uralt. Der "kleine Mann" und die "kleine Frau", die sich ein Leben lang am Riemen reißen und ihre Begierden im Zaum halten, bestehen darauf, dass der, der es sich auf krummen Wegen und ohne hart zu arbeiten gut gehen lässt, seine Strafe findet. Er soll leiden und für seine Vergehen bezahlen, sonst gerät das Anpassungsgefüge des "kleinen Mannes" und der "kleinen Frau" ins Wanken.
Strafe ist und bleibt Rache. Alles andere ist bloße Rhetorik und Ausrede. Die Strafwut wird erst nachlassen, wenn wir die Gesellschaft so eingerichtet haben, dass den Menschen durch Erziehung und die allgemeinen Lebens- und Arbeitsumstände weniger Bosheit eingepresst wird. Dann würden sie keine Sündenböcke mehr benötigen, auf die sie ihre Misere verschieben können.