Tatsachen als Problem der Verständigung

Bild: Joao Cruz/Unsplash

Es ist erstaunlich, wie oft relevante Tatsachen in der öffentlichen Debatte unbekannt sind. Sie sind Voraussetzung, um rational verhandelbare Bewertungen vorzunehmen. Hürden der Aufklärung, (Teil 2).

Das "Tatsachen/Meinungs"-Problem der gesellschaftlichen Verständigung (siehe Teil 1: Was ist und soll eigentlich (unsere) Demokratie?) zeigt sich deutlich bei den zaghaften Ansätzen, Irrungen und Wirrungen der Corona-Politik allmählich aufzuarbeiten: Masken sind nutzlos, Masken sind der beste Schutz; Impfung schützt vor Infektion; Corona lässt sich ausrotten; Lockdowns bringen nichts etc..

Die vielen Positionswechsel werden derzeit besonders häufig ausgerechnet mit der Wissenschaft begründet, die sich ja schließlich "empor irre". Dabei wird aber verkannt, dass sich dieses wissenschaftliche Irren nur auf Annahmen bezieht, auf Hypothesen, also Tatsachenvermutungen.

Tatsachen selbst aber sind natürlich unveränderlich, unzutreffende Aussagen über sie können nur zwei Fehlerursachen haben: Entweder war der Versuch, Tatsachen zu erkennen, ungeeignet (Messfehler etc.) oder aber – und das dürfte der häufigste Grund sein – es wurden Interpretationen und Bewertungen zu Tatsachen erhoben.

Kein seriöser Hausarzt sollte je etwas gesagt haben wie "die Covid-Impfung schützt Sie zuverlässig" (und natürlich auch nicht das Gegenteil). Er konnte nur sagen, was die Hersteller versprechen, was laufende Studien ergeben haben, was Behörden sagen, was er in seinen Fachzeitschriften gelesen hat. Das "Emporirren" bei der Impfung hat keine alten, falschen Tatsachen über Bord geworfen, weil es solche nicht geben kann. Es hat vielmehr Hypothesen falsifiziert.

Leider haben viele Menschen solche Hypothesen als Erkenntnisse betrachtet, Vermutungen über Tatsachen also zu Tatsachen selbst gemacht. Das ist kein gradueller, sondern ein elementarer Unterschied. Denn wer Vermutungen als Wissen ausgegeben hat, hat Unfug verbreitet und sich selbst die Suche nach der Wahrheit verbaut (was selbstverständlich auch für viele Kritiker der Pandemiepolitik gilt, die ihrerseits Mutmaßungen und teilweise sogar Glauben zu Fakten erhoben und damit der Diskussion entzogen haben).

Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein bestimmtes Verhalten aufgrund von Mutmaßungen verlangt wird und mithin die Irrtumsmöglichkeit immer eingeräumt wird, oder ob "fiktive Fakten" erfunden werden. Mit Verwunderung kann man Filmberichte über chinesische Desinfektionstrupps sehen, die Wohnungen und ganze Straßenzüge mit antiviralen Mitteln besprühen.

Doch auch in Europa wurden öffentliche Plätze, Züge oder Altenheime ("von russischen Spezialisten"!) desinfiziert. Für die Reinigung von Treppengeländern wurden Hygienepläne geschrieben, beim Betreten und Verlassen einer Arztpraxis muss man sich bis heute z.T. die Hände desinfizieren. Gab es dafür eine Faktenbasis?

Nein, es gab und gibt Vermutungen – und eine Vielzahl von Experimenten, die keinerlei Virusübertragung durch Flächenkontakte zeigten, sie aber auch nicht für jede Situation einhundertprozentig ausschließen konnten. Dass großflächiges und weit verbreitetes Desinfizieren allerdings auch Nebenwirkungen haben wird, war als Tatsache klar – über den Umfang wiederum gibt es bis heute nur Hypothesen.

Wenn Bill Gates zwei Jahre nach Pandemiebeginn zutreffend sagt, was man damals alles nicht wusste, einschließlich der Ähnlichkeit von Covid-19 mit der Grippe, gilt es zu prüfen, was seinerzeit dennoch als Wissen ausgegeben wurde, nämlich unter anderem die völlige Unvergleichbarkeit beider Krankheiten.

Grundlegende Wissensdefizite

Es ist erstaunlich, zu wie vielen allgegenwärtigen Themen zumindest in der öffentlichen Debatte relevante Tatsachen unbekannt sind, um rational verhandelbare Bewertungen vorzunehmen. Was beispielsweise sind die Folgen von Wirtschaftssanktionen?

Sie wurden früher vor allem von der Friedensbewegung als Alternative zum Krieg gepriesen, derzeit sind sie das Mittel der Wahl, um Russland zur Beendigung des Ukraine-Kriegs zu zwingen. Dass diese Politik reichlich Nebenwirkungen noch nicht wirklich absehbaren Ausmaßes haben, ist bereits offenbar; welche Wirkung sie jedoch auf das Handeln der russischen Führung haben, ist noch völlig im Bereich des Spekulativen und fundierte Analysen vergangener Sanktionen fehlen, obwohl mit der amerikanischen Blockade Kubas sogar eine Langzeitbeobachtung möglich ist.

Doch wie soll man politisch über Sanktionen diskutieren, wenn gar nicht klar ist, wie sie wirken? Ja wenn unklar ist, ob Sanktionen überhaupt jemals den gewünschten Erfolg erzielt haben und welcher Preis für das Bemühen vom wem zu zahlen war.

Sind Staatsschulden sinnvoll, notwendig oder eine ungebührliche Belastung künftiger Generationen? Müssen Schulden überhaupt zurückgezahlt werden? Weil es selbst über solch grundlegende Dinge keine Verständigung gibt, ist Politik inkonsequent, wechselhaft, und zwar eben nicht nur in ihren Beurteilungen (dazu ist Politik da), sondern in ihrer Behauptung von und Mutmaßung über Tatsachen.

Und so werden immer wieder dieselben Themen durchgekaut: Atomenergie ja oder nein (weil die Fakten über Sicherheit, Produktionskosten etc. nach Belieben mit Wertungen und Falschbehauptungen vermischt werden), Löhne rauf oder runter in der Krise usw.

Tatsachen verstehen

Soweit Tatsachen korrekt erkannt und benannt sind, gibt es noch erhebliche Problemchancen beim Verstehen. Falschverstandenes führt nicht nur zwangsläufig zu unpassenden Bewertungen, sondern oft auch zur Falschbehauptung von Tatsachen, die aus Vorhandenem konstruiert werden. Statistiken bieten dafür ein weites Feld. Ein Beispiel der sich selbst "Fact Destination" nennenden Firma Statista.

: Quelle: Statista

Unter der Überschrift "Bild ist deutscher Rügen-Meister" bietet sie eine Grafik an, die in Balken anzeigt, wie viele öffentliche Rüffel des Presserats einzelne Zeitungen (und eine Zeitschrift) seit 1986 bekommen haben. Für die Bild-Zeitung sind 219 Stück angezeigt, die zweitplatzierte BZ bekam nur 21. Obwohl beide Boulevardzeitungen im Axel-Springer-Verlag erscheinen, unterscheiden sie sich also offensichtlich qualitativ erheblich. Doch was wird hier miteinander verglichen?

Der Presserat entscheidet über Beschwerden von Lesern. Er könnte zwar nach seiner Satzung auch selbst aktiv werden, tut dies aber nicht, weil er sich "nicht als Monitoring-Stelle oder umfassende Medien-Aufsicht" versteht.

Daher: Wo kein Kläger, da kein Richter. Weil nur ein sehr kleiner Teil der Leserschaft jemals eine Presseratsbeschwerde einreichen würde, wenn es Anlass dazu gäbe, hängt das Beschwerdeaufkommen stark von der Verbreitung des Mediums ab: Mehr Leser bedeuten mehr potentielle Beschwerdeführer.

Bekanntlich ist die Bild-Zeitung immer noch Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung. Ihre Reichweite ist ungefähr 30-Mal so groß wie die der BZ, die Auflage ist 14-mal höher. Dies könnte das zehnmal höhere Rügenaufkommen mindestens zum Teil erklären.

Allerdings müssen Beschwerdeführer natürlich gar keine echten Kunden des jeweils kritisierten Mediums sein. Auf Social Media verbreitete Überschriften können das Interesse gerade von Kritikern wecken, nicht selten erfolgt eine Weiterverbreitung mit entsprechender Kommentierung. Die Selbstselektion der Beschwerdeführer verhindert eine Gleichverteilung: Sie entscheiden selbst, gegen welche Berichterstattung sie ggf. Beschwerde einreichen.

Dies könnte z.B. dazu führen, dass Abonnenten einer überregionalen Tageszeitung sich zwar niemals über diese, wohl aber über die Bild-Zeitung beschweren, die sie nur im Augenwinkel wahrgenommen haben.

In vielen weiteren Punkten unterscheiden sich Zeitungen, etwa Bild und taz (Platz 11 des Rügen-Rankings): Mit dem Umfang der Berichterstattung wächst das Fehlerpotential. Bestimmte Problembereiche, wie die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, kommen im Politikjournalismus so gut wie gar nicht, im Boulevardjournalismus hingegen besonders gehäuft vor.

Als zu Pfingsten 2018 Medien in Deutschland flächendeckend eine völlige aufgebauschte und verzerrte Geschichte von einer neuen Stufe der Gewalt gegen Polizisten gebracht hatten, gab es beim Presserat nur eine einzige Beschwerde.

Wie sich später zeigen sollte, hätte man vermutlich gegen die meisten Tageszeitungen erfolgreich Beschwerde erheben können, was die Statistik deutlich verändert hätte. Doch es hatte offenbar niemand die Muse dazu (zum Hintergrund siehe: "Ein Jahr nach Hitzacker").

Kurz: Will man die journalistische Leistung von Zeitungen vergleichen, ist die absolute Zahl öffentlicher Presseratsrügen ein denkbar schlechter Indikator. Auf eine Anfrage dazu hat Statista nicht reagiert.

Man kann alles miteinander vergleichen, insbesondere Äpfel und Birnen – aber man sollte beides nicht gleichsetzen, sondern zur Kenntnis nehmen, dass es sich um zwei verschiedene Pflanzengattungen einer Familie handelt.

Zu erwarten, dass eine Birne nach Apfel schmeckt und ihr dann eine schlechte Geschmacksnote zu erteilen, ist reichlich sinnfrei. Doch solche falschen Erwartungen sind bei (statistischen) Vergleichen allgegenwärtig.

Das Erkrankungsrisiko

So wurde eine Zeit lang mit viel Mühe das Covid-19-Erkrankungsrisiko von geimpften und ungeimpften Personen berechnet und von "beiden Seiten" zur Argumentation angeführt, je nachdem, welche Zahlen aus welchem Krankenhaus oder aus welchem RKI-Bericht man gerade hatte.

Dabei wurde stets ein peinlicher Anfängerfehler gemacht: Es wurde nämlich unterstellt, dass sich die Grundgesamtheiten der beiden Stichproben mit Ausnahme des Impfstatus gleichen und sich deshalb Unterschiede in der Morbidität unmittelbar auf diesen zurückführen lassen. Doch die beiden Gruppen wurden ja nicht aus der Gesamtbevölkerung ausgelost, sie haben sich – teils freiwillig, teils unfreiwillig – selbst diskriminiert.

Möglicherweise sind sich derjenige, der sich für eine möglichst schnelle Impfung auch illegaler Methoden bedient, und jemand, der lieber ins Ausland abwandert, als sich impfen zu lassen, ähnlicher als sie glauben, weil sie beide sehr um ihre Gesundheit besorgt sind; allerdings wählen sie offenbar deutlich unterschiedliche Wege zur Gesunderhaltung.

Noch augenfälliger dürfte der Unterschied sein zwischen einem fünffach Geimpften und jemandem, der klar bekennt, dass ihm seine Gesundheit völlig egal sei. Wiederum kurz: Es ist gerade nicht zu erwarten, dass sich die Bevölkerung zufällig in Geimpfte und Ungeimpfte aufgeteilt hat, sondern es dürfte Gründe für die jeweilige Entscheidung geben, die wenigstens teilweise in der gesundheitlichen Konstitution liegen.

Ähnliches haben wir bei Ländervergleichen, auch wenn dabei häufiger auf Unterschiede der jeweiligen Grundgesamtheiten hingewiesen wurde: die Bevölkerungs- oder Siedlungsdichte, das Alter einer Bevölkerung, ihr sozio-ökonomischer Status, die (medizinische) Infrastruktur, Ernährungs- und Lebensgewohnheiten etc.

Zum Problem, das Richtige aus ein paar simplen Zahlenangaben zu folgern und damit die dahinter liegende Tatsache zu erkennen, sei ein Beispiel aus dem Buch "Der Hund, der Eier legt" von Hans-Hermann Dubben und Hans-Peter Beck-Bornholdt nacherzählt.

Es geht um die Früherkennung einer Infektionskrankheit, die man sich im Urlaub zugezogen haben könnte. Der benutzte Test erkennt 99 von 100 Infizierten korrekt und 98 von 100 Nichtinfizierten. Die Krankheit trifft in dem entsprechenden Gebiet nur etwa jeden tausendsten Touristen und bleibt zunächst symptomlos. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist jemand mit positivem Test tatsächlich infiziert?

Die richtige Antwort gaben auf Tagungen und Seminaren laut den Autoren auch Ärzte, Apotheker und Medizinstudenten nur sehr selten: knapp fünf Prozent. Ihre Rechnung:

Angenommen werden 100.100 Reiserückkehrer, die sich dem Vorsorgetest unterziehen. Da sich im Schnitt nur einer von tausend angesteckt hat, haben wir ungefähr 100.000 Gesunde und 100 Infizierte. Von den Gesunden stuft der Test fälschlich zwei Prozent als infiziert ein, also 2.000 Personen. 99 der 100 Infizierten werden korrekt erkannt.

Also bekommen insgesamt 2099 Menschen ein positives Testergebnis, obwohl wir tatsächlich nur 100 Infizierte haben. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, bei positivem Test tatsächlich infiziert zu sein 99/2099 = 0,047, also knapp fünf Prozent.

Interessant wird es nun, wenn sich an den positiven Test Maßnahmen anschließen, insbesondere wenn diese – wie diverse medizinische Untersuchungen – ihrerseits mit einem Gesundheitsrisiko verbunden sind. Am Beispiel von Krebsvorsorgeuntersuchungen rechnen dies die Autoren vor.

Zahlreiche Verständigungsprobleme entstehen bei der Bewertung von Fakten, nicht nur, aber ganz besonders auch bei Statistiken.

Unter anderem darum soll es in Teil 3 gehen.