"Teile und Herrsche": Die Hamas ist eine Schöpfung Israels, um Palästinenser zu spalten
Seite 2: Die demografische Frage und das Projekt der ethnischen Säuberung
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Der Hamas-Angriff am 7. Oktober tötete 1.300 Israelis. Über 200 werden von der Hamas festgehalten, die meisten von ihnen sind nach Angaben der israelischen Regierung noch am Leben. Die israelische Regierung sagt, die Hamas benutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Der israelische Wirtschaftsminister Nir Barkat sagte in einem Interview mit ABC News, dass die Besorgnis über Geiseln und zivile Opfer zweitrangig sei, wenn es darum gehe, die Hamas zu vernichten, und dass das israelische Militär grünes Licht gegeben habe, in den Gazastreifen einzumarschieren, wann immer es bereit sei. Waren Sie von dem Angriff am 7. Oktober überrascht? Und sprechen Sie darüber, was Israel im Moment sagt und was in Gaza passiert.
Tareq Baconi: Der Angriff am 7. Oktober war sicherlich überraschend, auch für mich, der die Hamas seit Langem studiert. Aber ich denke, auch für viele Palästinenser im Gazastreifen und wahrscheinlich auch für die Führung der Hamas.
Überraschend war natürlich nicht der Zeitpunkt und auch nicht die Art der Offensive und die Weise, wie sie durchgeführt wurde. Überraschend war vor allem das Ausmaß der Offensive und die Fähigkeit der Hamas, wirklich in das von Israel kontrollierte Gebiet um den Gazastreifen einzudringen und so viel Zeit in israelischen Städten zu verbringen, wie es Kämpfern der Hamas und anderen möglich war.
Man muss sich klarmachen, dass für viele Palästinenser und darüber hinaus, der Mythos der israelischen Unbesiegbarkeit feststeht, dass Israel uneinnehmbar ist, zumindest vom Gazastreifen aus, und seine Armee unüberwindbar ist. Diese Erwartung hatte wahrscheinlich auch die Hamas-Führung im Hinterkopf, als sie diesen Angriff plante und durchführte.
Doch statt einer effektiven Verteidigung auf israelischer Seite wurde diese Illusion völlig zerstört. Es zeigte sich, dass Israels Armee nicht unbesiegbar, der Blockadeschirm des Gazastreifens durchlässig ist und die Hamas in der Lage war, Israels Mythos der Unbesiegbarkeit sehr, sehr schnell zu zerstören.
Das Ausmaß des Angriffs und die Zahl der Geiseln, die die Hamas gefangen nehmen und in den Gazastreifen bringen konnte, übertrafen wahrscheinlich ihre Vorstellungen, was auch bedeutet, dass die Vergeltungsmaßnahmen, die wir jetzt sehen, wahrscheinlich viel schlimmer sind, als die Hamas vielleicht erwartet hatte.
Das soll nicht heißen, dass die Hamas nicht mit Vergeltungsmaßnahmen gerechnet hat. Denn das war zumindest in den letzten 16 Jahren immer der Ausgleichsmechanismus zwischen der Hamas und Israel, dass die Hamas versuchen würde, Israel durch Raketen oder auf andere Weise unter Druck zu setzen. So sollte die Regierung bewegt werden, die Blockade aufzuheben bzw. zu lockern.
Denn die Abriegelung selbst ist eine Form der Gewalt, die zwei Millionen Palästinenser im Gazastreifen stranguliert. Israel reagierte auf die Hamas-Feuersalven mit unverhältnismäßiger militärischer Gewalt, die zum Tod von Tausenden Palästinensern im Gazastreifen geführt hat.
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Die israelische Seite ist immer davon ausgegangen, dass diese Situation aufrechterhalten werden kann. Sie hat die Militärdoktrin des "Rasenmähens" entwickelt und umgesetzt, die besagt, dass sie die Gewaltakte alle paar Jahre durchführt, wobei das Gleichgewicht dann auf unbestimmte Zeit bestehen bleibt.
Was wir am 7. Oktober erlebt haben, ist, dass die Hamas dieses Gleichgewicht umgestoßen hat und sagt: "Ihr könnt keine Ruhe und keine Sicherheit für eure Bürger schaffen, solange euer Stiefel auf unserem Nacken drückt. Die Palästinenser werden ihre Gefangenschaft nicht stillschweigend hinnehmen." Dieses Gleichgewicht ist nun also zerbrochen.
Sprechen Sie über Israels Beteiligung an der Machtübernahme der Hamas. Im Jahr 2009 sagte Avner Cohen, ein ehemaliger israelischer Repräsentant für religiöse Angelegenheiten, der über zwanzig Jahre lang in Gaza gearbeitet hat, dem Wall Street Journal, Zitat: "Die Hamas ist zu meinem großen Bedauern Israels Schöpfung." Ein anderer ehemaliger israelischer Beamter, Brigadegeneral Yitzhak Segev, sagte, dass ihm ein Budget zur Verfügung gestellt wurde, um islamistische Bewegungen im Gazastreifen zu finanzieren, um Jassir Arafat und seine Fatah-Bewegung zu bekämpfen. Ein anderer ehemaliger israelischer Militärbeamter, David Hacham, sagte, Zitat: "Wenn ich auf den Ablauf der Ereignisse zurückblicke, denke ich, dass wir einen Fehler gemacht haben. Aber zu der Zeit dachte niemand an die möglichen Folgen." Ihre Antwort, Tareq Baconi?
Tareq Baconi: Die Ursprünge dessen führen zu der Tatsache zurück, dass die Hamas als ein Ableger der Muslimbruderschaft im Gazastreifen entstanden ist. Und die Muslimbruderschaft war keine politische Partei. Es war eine soziale Partei.
Ihre Aktivitäten im Gazastreifen und in den gesamten palästinensischen Gebieten wurden von den israelischen Besatzungstruppen genehmigt, sodass die Muslimbruderschaft im Gazastreifen offen operieren konnte. Als die Hamas 1987 gegründet wurde und sich zu einer politischen und militärischen Partei entwickelte, die aktiven Widerstand gegen die israelische Besatzung leistete, änderte sich die Politik der israelischen Regierung, die der Hamas offensichtlich weniger offen gegenüberstand.
Das hielt die israelischen Behörden jedoch nicht davon ab, die Spaltungstaktik zwischen der islamistischen nationalen Bewegung, also der Hamas, und dem säkularen Nationalismus um die Fatah zu unterstützen und zu fördern.
Das war schon immer eine Taktik, die die Kolonialmächte weltweit angewandt haben, und der israelische Kolonialismus ist offensichtlich nicht anders. Er hat also direkt und auch verdeckt versucht, das Land zu spalten und dadurch zu beherrschen.
Das spitzte sich 2007 zu, als die Hamas nach dem Sieg bei den demokratischen Wahlen 2006 an die Macht kam und die israelischen Behörden zusammen mit den USA versuchten, einen Regimewechsel herbeizuführen, der einen Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah auslöste und der Hamas die Übernahme des Gazastreifens ermöglichte.
Seitdem haben sich die israelischen Behörden aktiv dafür eingesetzt, dass die Hamas als Regierungsbehörde im Gazastreifen akzeptiert wird. Ein Teil des Kalküls liegt in den zwei Millionen Palästinensern im Gazastreifen begründet.
Es ist eine demografische Frage. Israel wollte den Gazastreifen vom Rest des historischen Palästinas abtrennen, um seinen Anspruch zu untermauern, ein Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit zu sein. Indem es zwei Millionen Palästinenser entsorgt, von denen zwei Drittel Flüchtlinge sind, die zurückkehren wollen, kann Israel behaupten, sowohl ein jüdischer Staat als auch eine Demokratie zu sein, und sein Apartheidregime umstrukturieren.
Um das zu erreichen, hat es sich damit abgefunden, die Hamas an der Macht zu halten, und behauptet, es habe eine Blockade um den Gazastreifen errichtet, weil die Hamas an der Macht sei. Natürlich wurde das von der internationalen Gemeinschaft mit dem, worüber wir gerade gesprochen haben, erkauft, nämlich mit der Vorstellung, dass die Hamas eine terroristische Organisation ist, eine Achse des Bösen, und daher die Blockade notwendig ist.
Was die politischen Entscheidungsträger nicht verstehen, ist, dass Israel den Gazastreifen blockiert und versucht hat, die Bevölkerung des Gazastreifens loszuwerden, lange bevor die Hamas überhaupt als Partei gegründet wurde. Aber mit der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas entstand ein perfektes Feigenblatt für Israel, um den Gazastreifen als separaten Landstreifen zu erhalten.
Um das zu erreichen, musste es die Hamas dulden und in gewisser Weise sogar in die Lage versetzen, ihre Position als Regierungsbehörde aufrechtzuerhalten. Dadurch wurden auch ihre Bemühungen verstärkt, die Spaltung der palästinensischen Führung aufrechtzuerhalten und eine Politik der Teilung und Herrschaft zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Hamas zu betreiben.
Was würden Sie sich wünschen, was jetzt passieren sollte? Es sieht so aus, als stünde Israel kurz vor einer Bodeninvasion in Gaza. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen?
Tareq Baconi: Nun, am dringlichsten ist momentan eine Deeskalation. Die Staats- und Regierungschefs der Welt, insbesondere die USA und die Biden-Regierung, müssen verstehen, dass es keine Vergeltungsmaßnahme Israels gegenüber der Hamas ist.
Was wir jetzt sehen, ist das Bemühen Israels, eine ethnische Säuberungsoffensive durchzuführen und die Nakba fortzusetzen, die 1948 begann und seither in Schüben hier und da fortgesetzt wurde. Es ist ein massiver Schub in der täglichen ethnischen Säuberung, die die israelischen Behörden gegen die Palästinenser im Westjordanland und in Ost-Jerusalem sowie im Gazastreifen vollziehen.
Wir sehen, wie dieser Gewaltausbruch die kontinuierlich stattfindende ethnische Säuberung zu einer wesentlich gezielteren Operation erhoben hat, Millionen von Palästinenser loszuwerden. Wir müssen deeskalieren und dafür sorgen, dass humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangt, denn die Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist davon betroffen. Dies ist ein erster Schritt.
Der nächste Schritt muss sein, anzuerkennen, dass Israel ein Apartheidregime ist, das ein System der Vorherrschaft über Millionen von Palästinensern aufrechterhält. Es ist die einzige souveräne Macht im Land des historischen Palästina und gewährt nur israelisch-jüdischen Bürgern fundamentale Rechte, nicht aber Palästinensern.
Was am 7. Oktober geschah, ist ein Beweis dafür, dass es so nicht weitergehen kann. Damit wurde die Annahme der US-Regierung und der regionalen Mächte widerlegt, dass Israel weiterhin ungestraft und ohne Kosten für seine Bürger handeln kann. Ich glaube, dass wir nicht mehr zu diesem Paradigma zurückkehren können.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Tareq Baconi ist der Vorstandsvorsitzende der Organisation Al-Shabaka. Er ist ehemaliger leitender Analyst für Israel/Palästina und Economics of Conflict bei der International Crisis Group mit Sitz in Ramallah und Autor von "Hamas Contained: The Rise and Pacification of Palestinian Resistance" (Stanford University Press, 2018). Baconis Artikel sind unter anderem in der London Review of Books, der New York Review of Books und der Washington Post erschienen.