"Teile und Herrsche": Die Hamas ist eine Schöpfung Israels, um Palästinenser zu spalten

Tareq Baconi im Interview mit dem US-TV-Programm Democracy Now. Bild: Screenshot Democracy Now

Immer wieder heißt es, Hamas sei eine Terrororganisation. Warum hält Israel sie dann bis heute als Behörde am Leben? Und will man sie jetzt nicht total vernichten? Gastbeitrag.

Der Nahost-Kenner Tareq Baconi, ehemaliger Analyst der International Crisis Group, legt im Interview dar, dass Israel die Hamas unterstützt habe, während man sie als Terrororganisation bezeichnet, um Kontrolle über den Gazastreifen aufrechtzuerhalten. Die derzeitige Gaza-Bombardierung, Evakuierung und mögliche Invasion seien Elemente einer "ethnischen Säuberungsoffensive", sagt Baconi.

Sein aktueller Beitrag für die New York Review trägt die Überschrift "Gaza Without Pretenses": For years Israel and Hamas maintained an unstable equilibrium that kept the Gaza Strip contained. But it was always likely to be temporary" ("Gaza ohne Täuschungen: Jahrelang hielten Israel und die Hamas ein instabiles Gleichgewicht aufrecht, das den Gazastreifen in Schach hielt. Aber es war immer nur vorübergehend."). Das Interview führte Amy Goodman von Democracy Now.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation im Gazastreifen?

Tareq Baconi: Die Lage im Gazastreifen ist ziemlich schlimm, und was wir heute sehen, ist wirklich eine Fortsetzung der Bemühungen Israels, den Gazastreifen unter eine vollständige Blockade zu stellen. Und das geht nun schon seit 16 Jahren so.

Nach der Offensive der Hamas am 7. Oktober hat Israel den Gazastreifen unter eine sogenannte totale Belagerung gestellt. Das bedeutet, dass es die Einfuhr von Wasser, Treibstoff, Strom und Medikamenten in den Gazastreifen verhindert.

Das ist eine Form der kollektiven Bestrafung. Wir müssen verstehen, dass im Gazastreifen etwa 2,3 Millionen Palästinenser leben.

Etwa zwei Drittel von ihnen sind Flüchtlinge, vertrieben aus ihren Häusern im heutigen Israel. Und etwa die Hälfte davon sind Minderjährige und Kinder. Das ist eine Form der kollektiven Bestrafung und beruht im Wesentlichen auf einer völligen Entmenschlichung der Palästinenser in Gaza.

Was wir im Moment beobachten, ist, dass humanitäre Hilfe politisiert wird, dass humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza mit politischen Zielen verbunden wird. Der Fakt, dass die USA ihr Veto gegen die Resolution des UN-Sicherheitsrates eingelegt haben, ist ein Zeichen für ihre Bereitschaft, Israel zu erlauben, sowohl die Bombardierung des Gazastreifens als auch die Strangulierung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen durch die Blockade der humanitären Hilfe fortzusetzen.

Erklären Sie, was die Resolution beinhaltete, die die USA abgelehnt haben.

Tareq Baconi: Es war eine Resolution, die von Brasilien eingebracht wurde und die eine sofortige Deeskalation und einen Waffenstillstand forderte. Es handelte sich um einen humanitären Waffenstillstand, was bedeutete, dass die israelischen Behörden die Bombardierung einstellen und humanitäre Hilfe in den Gazastreifen bringen sowie die Beschränkungen lockern müssten.

Zunächst einmal haben die USA die Resolution blockiert. Und dann, als vereinbart wurde, dass, wie Sie sagten, 20 Lkw-Ladungen in den Gazastreifen fahren dürfen, was weit weniger ist als das Minimum, das zur Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen erforderlich ist, gab es lange immer noch Hindernisse für die Einfahrt dieser Lkw.

Wir müssen auch verstehen, dass die Bevölkerung des Gazastreifens von den israelischen Behörden gezwungen wurde, den Großteil des nördlichen Teils des Streifens zu evakuieren. Das hat zu einer Zwangsumsiedlung von etwa 1,1 Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern geführt – bzw. der Befehl lautete auf Zwangsumsiedlung.

Nun ist der Gazastreifen einer der am dichtesten besiedelten Landstriche der Welt. Jede Form der Evakuierung ist eigentlich unmöglich. Die Palästinenser können nirgendwo hingehen.

Das bedeutet, dass jede Art von Bombardierung, die die israelischen Behörden im Gazastreifen durchführen, Tausende von Palästinensern tötet. Und anders als bei früheren militärischen Angriffen hat Israel hier ausdrücklich die zivile Infrastruktur, Krankenwagen, Gesundheitszentren und Kliniken ins Visier genommen. Und die Bombardierung ist wahllos, wie Palästinenser in Gaza berichten, mit Absicht.

Hier ein Auszug aus dem, was der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu am Dienstag über die Hamas sagte: "Sie ist Teil einer Achse des Bösen, die aus dem Iran, der Hisbollah und der Hamas besteht. Ihr offenes Ziel ist es, den Staat Israel auszulöschen. Das offene Ziel der Hamas ist es, so viele Juden zu töten, wie sie können. Der einzige Unterschied ist, dass sie jeden einzelnen von uns getötet hätten, jeden einzelnen von uns ermordet hätten, wenn sie dazu in der Lage wären. Sie haben einfach nicht die Kapazität dazu. Aber sie haben außerordentlich viele, 1.300 Zivilisten ermordet, was im Vergleich zu den USA viele 9/11-Anschläge wären." Tareq Baconi, Sie haben das Buch "Hamas Contained" geschrieben. Können Sie darauf antworten?

Tareq Baconi: Diese Sprache, die die Israelis und die US-amerikanischen Offiziellen benutzen, um die Hamas zu dämonisieren, basiert vollständig auf dem Versuch, den palästinensischen Kampf zu entpolitisieren und jede Form des bewaffneten Widerstands gegen ein gewalttätiges Apartheidregime als eine Form des Terrorismus darzustellen.

Damit wird versucht, Israel einen Freibrief zu geben, die Palästina-Frage, das Streben des palästinensischen Volkes nach seinen unveräußerlichen Rechten, weiterhin mit Gewalt und einer Sicherheitsdoktrin zu behandeln. Dass US-Präsident Biden den Angriff vom 7. Oktober mit dem 11. September 2001 in Verbindung gebracht hat, ist ein Freibrief für Israel, im Gazastreifen zu tun, was es will.

Und es ist eine Bestätigung dafür, dass alle Lektionen, die nach dem 11. September in den USA hätten gelernt werden können, wirklich verloren gegangen sind.

Die Sprache ist nicht neu. Die sich abwechselnden israelischen Regierungen haben den palästinensischen Widerstand im Allgemeinen und die Hamas im Besonderen mit dem 11. September 2001 und dem Terrorismus in Verbindung gebracht. Sie haben diese Verbindung genutzt, um ihre Besatzung zu verstärken und zu festigen.

Was wir verstehen müssen, ist aber, dass das kein Versuch ist, die Hamas zu unterdrücken oder zu zerstören. Es handelt sich vielmehr um eine ethnische Säuberungskampagne im Gazastreifen. Wir sehen auch, wie die Gewalt im Westjordanland zunimmt.

Der Versuch, den Angriff der Hamas mit dem 11. September in Verbindung zu bringen, dient in Wirklichkeit als Deckmantel für die Verfolgung völkermörderischer Tendenzen, die das israelische politische Establishment schon lange vor dem 7. Oktober artikuliert hat.