Angriff auf SPD-Politiker in Dresden: Unser Land zerbricht innerlich
Die Täter von Dresden haben sich gestellt – gut! Nun braucht es eine Debatte um die Tat. Doch die Chancen dafür stehen schlecht. Ein Telepolis-Leitartikel.
Nach dem Überfall auf den SPD-Europakandidaten Matthias Ecke am vergangenen Freitag in Dresden ist die Aufregung groß. Der Politiker wurde mitten im Wahlkampf Opfer einer brutalen Attacke und muss noch immer im Krankenhaus behandelt werden. Der Vorfall ist der bislang schwerste in einer Reihe von Anfeindungen und tätlichen Angriffen auf Mandatsträger und Helfer in diesem Wahljahr.
Am Wochenende kam es unter anderem in Dresden zu spontanen Protesten. Diese Demonstrationen wurden "gegen rechts" angemeldet. Sie richteten sich also nicht gegen Gewalt an sich, sondern gegen eine bestimmte Art von Gewalt, von einer bestimmten Seite, gegen bestimmte Akteure.
Das ist – unabhängig von dem Angriff auf den SPD-Mann Ecke – rechtsstaatlich problematisch. Es ist aber auch Ausdruck eines politischen Zeitgeistes in diesem Land. Politische Gewalt wird vor allem von einer Seite und nur in einer Weise wahrgenommen.
Wer sich aber ehrlich um die Demokratie sorgt, muss das Problem grundsätzlicher angehen, mit allen Fragen und Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Gerade auch unangenehmen. Gerade auch als politischer Gegner der neuen Rechten.
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Man kann das Thema soziologisch angehen und die strukturelle Gewalt des Staates seit den sozialdemokratischen Hartz-IV-Reformen thematisieren: Wie haben sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt geschwächt? Wie den Menschen, die sich nicht im Sozialsegment der politischen Entscheidungsträger bewegen, den Glauben an Zukunft – womöglich sogar eine bessere – genommen?
Man könnte und müsste wohl über rassistisch motivierte Gewalt sprechen, die in den folgenden Verteilungskämpfen das rechte Lager von CDU bis NPD begünstigt hat. Wie hat dieses Symptom der Erosion gut 15 Prozent der Bevölkerung und ihrem sozialen Umfeld das Gefühl von Akzeptanz und Perspektive in diesem Land genommen?
Und schließlich: Was haben der Angriff von Dresden auf einen SPD-Politiker damit zu tun? Was der Umstand, dass meist Jugendliche Muslime und Konvertiten letztens in Berlin und nun in Hamburg ernsthaft (!) für ein Kalifat Deutschland auf die Straße gehen?
Steigende Gewalt von allen gegen alle
Kaum etwas davon ist Thema der Debatte. Stattdessen wird eine ganze Elefantenherde im Raum übersehen.
Denn zum einen waren in jüngster Zeit in erster Linie Grüne und in zweiter Linie AfD-Vertreter von gewalttätigen Übergriffen betroffen. Man darf gespannt sein, wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag mit diesem Umstand umgeht, wenn sie auf einer Sonderkonferenz über mögliche Konsequenzen spricht.
Spricht sie über die Angriffe auf die AfD? Über den Umstand, dass auch diejenigen, die bei der nahen Europawahl und der kommenden Bundestagswahl kein Stimmrecht haben, bangen müssen, wie ihr Dresdner Genosse Ecke? Dass nämlich im vergangenen Jahr die Zahl rassistisch motivierten Straftaten auf fast 29.000 (von knapp 24.500) angestiegen ist – und dieser Trend sich wohl fortsetzen wird?
Brutaler Angriff auf Matthias Ecke
Bisher ist kaum etwas davon Thema. Keiner dieser Fälle hat für Furore und Rachegelüste gesorgt wie die Gewalttat von Dresden. Dabei war der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, am Freitagabend in Dresden beim Aufhängen von Wahlplakaten von vier jungen Männern angegriffen worden.
Der 41-Jährige musste aufgrund der Schwere seiner Verletzungen noch am Abend in ein Krankenhaus eingeliefert und operiert werden. Nach Angaben des sächsischen SPD-Vorsitzenden Henning Homann erlitt Ecke einen Bruch des Jochbeins und der Augenhöhle sowie Hämatome im Gesicht.
Die Taskforce Gewaltdelikte des Landeskriminalamtes Sachsen hat die Ermittlungen übernommen. Sie prüft auch einen zweiten Fall, bei dem vermutlich dieselben Täter im selben Stadtteil einen 28-jährigen Wahlkampfhelfer der Grünen angegriffen und verletzt haben.
Tatverdächtiger stellt sich der Polizei
In der Nacht zum Montag hat sich ein 17-Jähriger der Polizei gestellt und zugegeben, der Täter zu sein, der den SPD-Europaabgeordneten niedergeschlagen hat. Der Jugendliche ist bislang polizeilich nicht in Erscheinung getreten und befindet sich nicht in Gewahrsam, da keine Fluchtgefahr besteht. Am heutigen Montag haben sich drei weitere Jugendliche gestellt.
Ein Blick in die Statistik zeigt: Im Jahr 2023 waren Mitglieder der Grünen am häufigsten Ziel von Angriffen: Das Bundeskriminalamt registrierte in diesem Zeitraum 1.219 Angriffe auf Vertreter der Partei. An zweiter Stelle folgten 478 Angriffe auf Vertreterinnen und Vertreter der AfD.
Haltung zu politischer Gewalt
Wer Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ehrlich ablehnt, müsste sich auch damit auseinandersetzen.
Doch das geschieht nicht. Bei den Demonstrationen nach der Tat von Dresden wurde auch ein Plakat mit der zweideutigen Aufschrift "Nazis töten" hochgehalten. Dahinter steht – man muss es wissen – eine längere Diskussion um ein entsprechendes, satirisch gemeintes Wahlplakat. Fachautoren haben den Fall und die Folgen beschrieben.
So plakatierten zunächst linke Akteure den Slogan "Nazis töten", der sowohl aktiv als auch passiv verstanden werden kann. Mittlerweile wird es weit weniger satirisch verwendet, als von den Urhebern gedacht.
Daraufhin verbreitet eine rechte Splitterpartei in einem schlechten Abklatsch dieser Aktion die Parole "Hängt die Grünen" – was irgendwie gar nicht mehr zweideutig, dafür aber weit weniger lustig (gemeint) ist. Beide kommen damit juristisch zunächst durch. Genauso übrigens wie ein öffentlich-rechtlicher Moderator, der mit Blick auf eine rechtsextreme Partei im europäischen Ausland empfahl, "Nazis keulen".
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Diese Enthemmung in der politischen Sprache und Auseinandersetzung ist an sich schon gefährlich. Sie wird brandgefährlich, wenn sie mit einer Polarisierung und Segmentierung der politischen Gesellschaft einhergeht.
Bei der Zuspitzung der Proteste 2014 in der Ukraine, bei der sogenannten Flüchtlingskrise wenige Jahre später, bei der Corona-Pandemie, beim Ukraine-Krieg, in der Nahost-Krise: Überall gab es Blockbildungen und Versuche gegenseitiger Sprachverbote. Diffamierungen, Einschüchterungen.
Diese unerfreuliche Entwicklung ist längst kein Phänomen politischer Extremisten mehr, sondern in der Mitte des Systems angekommen. Zwei Beispiele aus den vergangenen Wochen:
Erstens: Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksij Makejew, versucht offen, in die redaktionelle Linie einer deutschen Tageszeitung einzugreifen.
Zweitens: Die Spitzenkandidatin der FDP für das Europaparlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, droht Andersdenkenden indirekt mit politischen Konsequenzen. Die Tageszeitung Nordkurier berichtet über einen entsprechenden Vorfall:
Mittlerweile ist ein weiteres Video aufgetaucht, das eine verstörende Szene nach dem eigentlichen Auftritt zeigt. Darauf zu sehen und zu hören ist Strack-Zimmermann, die von Personenschützern von mehreren Protestlern abgeschirmt wird. Einer der Menschen – ein Mann – sagt über die Köpfe der Personenschützer hinweg, er wolle "von Demokratie" sprechen.
Strack-Zimmermann ist sichtbar genervt von dem Mann. Und antwortet mit der Frage: "Wo arbeiten Sie denn?" Als der Mann ihr mit ruhiger Stimme erklärt, er arbeite im Bereich Maschinenbau und Autozulieferer, unterbricht ihn Strack-Zimmermann. Und fragt: "Weiß ihr Chef, was Sie hier machen?"
Sie wiederholt ihre Frage zweimal, fordert den Mann dann auf: "Sagen Sie mir doch mal Ihre Firma!" Dann dreht sich Strack-Zimmermann sichtlich genervt weg und sagt noch einen Satz, der nur in Teilen zu verstehen ist. Klar zu hören ist das Fragment: "... schneller Ihren Job zu …". Danach sind die Worte nicht mehr eindeutig zu verstehen.
Philippe Debionne, Nordkurier
Kleine Gruppen von Radikalen, die sich gegenseitig hochschaukeln und kein Korrektiv mehr kennen oder – schlimmer noch – kennen wollen, wähnen überall Feinde. Dabei ist jedes Maß verloren gegangen.
Nein, die Grünen sind nicht der Untergang Deutschlands. Nein, Gegner von Corona-Maßnahmen sind nicht per se Verschwörungsideologen, Nazis oder gar Mörder.
Und nein, Politiker dürfen beim Aufhängen von Wahlplakaten und auch sonst nicht angegriffen werden. Ebenso wenig dürfen Demonstranten bei einer Wahlkampfveranstaltung von gewählten Volksvertretern eingeschüchtert werden.
Wer die innen- und außenpolitisch motivierten gesellschaftlichen Krisen der letzten Jahre beobachtet, muss mit Erschrecken feststellen, dass die Bereitschaft zum Dialog abnimmt. Wer der anderen Seite nicht mehr zuhört, muss sie konsequenterweise zum Schweigen bringen. Diese Eskalationskette führt zu Gewalt und zum Verfall des Gemeinwesens.
Am Anfang und am Ende dieser Spirale steht immer politisches Versagen. Politische Gewalt entsteht niemals zufällig. Sofern nicht ideologisch gefestigte Täter am Werk sind, ist sie Ausdruck vorangegangenen Versagens.
Der 17-jährige mutmaßliche Täter von Dresden hat sich der Polizei und damit seiner Verantwortung gestellt.
Können das Politik und Medien angesichts der Stimmung im Land auch?