Von Friedensgebot zu Kriegstüchtigkeit: Deutschlands neue Ära

Historische Entscheidung: Deutschland investiert in Infrastruktur und Verteidigung. Doch was bedeutet es, wenn wir "kriegstüchtig" werden? Ein Kommentar.
Mit Zweidrittenehrheit hat der scheidende deutsche Bundestag am 18. März 2025 die Aufhebung der Schuldenbremse. Mit einer Entscheidung von "bislang nicht gekannter Dimension und Tragweite" votierten 513 Abgeordnete – bei 207 Gegenstimmen – für eine Lockerung der Schuldenbremse im Grundgesetz.1
Beschlossen wurde eine erhebliche Steigerung der Verteidigungsausgaben und ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Infrastruktur und Klimaschutz.
Das Land muss "kriegstüchtig" werden, sich auf Krieg einstellen und die Gesellschaft sich in allen Lebensbereichen auf einen möglichen "Verteidigungskrieg" vorbereiten: im Gesundheitswesen, in Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie, Kommunikation und Logistik, im Bildungsbereich und der beruflichen Ausbildung.
Im Zivilschutz, der Territorialverteidigung, durch Ertüchtigung von Bahn und Brücken für den im Krieg notwendigen Truppentransport Richtung Osten, durch flächendeckende Luftverteidigung von Industrieregionen, Ballungsräumen und großen Städten – Berlin, Hamburg, München, ... – sogar gegen einen Angriff mit feindlichen Atomwaffen.2
Wohin steuert die Bundesrepublik Deutschland?
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt sich dieses Grundgesetz gegeben.
Präambel des Grundgesetzes.
Lesen Sie auch
Deutschlands Ukraine-Politik: Zu viel Herz, zu wenig Verstand?
Dominanz der USA, Russlands Autarkie und Chinas Aufstieg: Die Realitäten des Waffenhandels 2024
Rüstungswahn statt Vernunft: Europas militärischer Irrweg
Sondervermögen: Milliarden für Waffen, Peanuts für Menschen?
Aufrüstung der EU: "ReArm Europe" wird Erwartungen wohl enttäuschen
Carlo Schmidt, der "geistige Vater" dieses normativen Textes, baute auf einem unveränderlichen Friedensgebot Deutschlands im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit. Versäumt wurde allerdings bis heute, diesem verfassungsrechtlichem Gebot eine tragfähige Ausgestaltung – vergleichbar der des Sozialstaatsprinzips – zu geben.
Deutschland und Europa brauchen nicht Kriegstüchtigkeit, sondern Friedenstüchtigkeit; das ist die Lehre aus der europäischen Geschichte. ... Der Frieden ist nämlich keine Leerformel, kein Füllwort oder Schmuckvokabel. Es ist das tragende Prinzip der Verfassung.
Heribert Prantl, Den Frieden gewinnen, Heyne 2024, S.57
Das Friedensgebot fordert Friedensfähigkeit – "Gemeinsame Sicherheit" als Wegweiser
Die Palme-Kommission von 1982, an der neunzehn bedeutende Politiker und Fachleute aus Ost und West, Nord und Süd, darunter der frühere deutsche Bundesminister und Abrüstungsexperte Egon Bahr, mitgewirkt haben, hat in der Hochphase des Kalten Krieges die lebensbedrohlichen Konsequenzen der nuklearen Abschreckungsdoktrin eingehend analysiert und daraus bemerkenswerte Schlussfolgerungen gezogen, die sie in einem Alternativ-Konzept "gemeinsamer Sicherheit" zusammengefasst hat:
In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht einseitig erlangt werden. Wir leben in einer Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle und vor allem militärische Strukturen im zunehmenden Maße voneinander abhängig sind. Die Sicherheit der eigenen Nation lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen erkaufen.
Der Palme-Bericht zur "Gemeinsamen Sicherheit" ist in seinen Empfehlungen besonders in Krisenzeiten wegweisend. Er forderte die Rückkehr zu Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung. Auch wenn in der aktuellen Lage die Revitalisierung dieses Konzepts schwierig erscheint, wäre "Gemeinsame Sicherheit" ein Konzept, das nachhaltigen Frieden und Klimagerechtigkeit befördern könnte.
Sie eröffnet im Besonderen Chancen, gegensätzliche geopolitische Interessen auszugleichen und eine Tür für Verhandlungen zu öffnen. Das gilt für den Ukraine-Krieg wie für alle anderen Krisenherde auf der Welt.
Lesen Sie auch
In seiner Studie "Kriegsfolgen und Kriegsverhütung" (Hanser Verlag 1971) mahnte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker eine Strategie der Kriegsverhinderung an. Die Folgen eines Atomkriegs in Mitteleuropa wären existenziell. Deshalb gelte es, über Rüstungskontrolle und Abrüstung das Kriegsrisiko zu minimieren.
Gilt diese Mahnung heute noch oder sind auf dem Weg zurück in den Kalten Krieg?
"Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existenzieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen einzigartigen und kostbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption", so Antje Vollmer in ihrem Vermächtnis einer Pazifistin.
<rieden suchen mit aller Kraft. So haben es die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die Überlebenden des II. Weltkrieges als Friedesgebot in die Verfassung des Jahres 1949 geschrieben – als Gebot der Friedensstaatlichkeit.3
Lesen Sie auch
UN-Reform 2025: Neue Charta für eine neue Weltordnung
Die ehemalige Außenministerin der Bundesrepublik wird aller Voraussicht nach im Juni 2025 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York zur neuen Präsidentin der UN-Generalversammlung gewählt. Hoffentlich wird sie sich im Geiste der UN-Charta für die friedliche Lösung von Konflikten, für Krisenprävention und Diplomatie einsetzen.
Das Friedensgebot des Grundgesetzes und die UN-Charta sind das Fundament einer Friedenspolitik, die für die Bundesrepublik Deutschland und die zukünftige Bundesregierung Leitlinie sein sollte.
Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)