Abnutzungskrieg in der Ukraine: Die grausame Realität hinter einem harmlosen Wort
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Die Industrie des Todes: Wie der moderne Krieg zur Fabrikation des Leids geworden ist. Ein Essay. (Teil 1).
"Abnutzung" – das klingt im Alltagsgebrauch harmlos, in etwa so, als würde man eine Couch, auf der man sich niederlässt, langsam abscheuern, durchsitzen, die Polsterung aufrauen. Man kann eine Wohnung abnutzen. Das ist ein Verschleiß, der eine weitere Nutzung infrage stellt, Abnutzung ist eine Wertminderung.
Abnutzungskrieg: Eine verschleierte Realität
Doch wenn man von einem Abnutzungskrieg spricht, so verschleiert das Wort auf unmenschliche Weise die grausame Realität, die das tägliche Töten bedeutet, verschleiert werden die Einzelschicksale und das schreckliche Leid eines groß skalierten Krieges, der hier mitten in Europa stattfindet.
"Abnutzung" versachlicht, neutralisiert den Schrecken des Krieges hin zu einer bloßen Minderung eines Wertes.
Lebenskraft und Rüstungsindustrie
Doch abgenutzt wird die Lebenskraft von Menschen, einmal unmittelbar durch den je einzelnen Soldaten an der Front, der sein Leben riskiert und in seiner universalen Verwendung absolut unersetzbar ist, trotz der mittlerweile fortgeschrittenen Automatisierung des Kriegsgeschehens.
Und zum anderen sehen wir die "Abnutzung" der Lebenskraft des Menschen repräsentiert in den Produkten der Rüstungsindustrie, sehen wir Zerstörung der Arbeitskraft des Menschen und damit seine Lebendigkeit, konzentriert in den hergestellten Rüstungsgütern.
Mit Marx kann man von geronnener Arbeitszeit sprechen, die in den Gütern versammelt ist:
Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.
Karl Marx, Das Kapital. Band I
Mechanismen eines Abnutzungskrieges
In einem Abnutzungskrieg geht es also darum, Runde für Runde, Schlag für Schlag, die Arbeitskraft des Gegners zu vernichten, entweder durch das unmittelbare Töten der vom Gegner eingesetzten Soldaten oder durch Vernichtung der von ihm hergestellten Rüstungsgüter und darüber hinaus seines Vermögens, überhaupt noch Güter herzustellen.
Das Besondere an einem Krieg ist folglich, dass er das nahezu uneingeschränkte Bemühen darstellt, sich des nackten Lebens in all seinen gesellschaftlichen Repräsentationsformen zu bemächtigen und zu vernichten.
Der industrielle Charakter
Dieser Abnutzungskrieg ist im Kern in der heutigen Zeit ein industrieller Prozess. Sowohl an der Front, hier kann man von einer Kriegsmaschine sprechen, als auch im Hinterland, in der industrielle Großprozesse Werte erschaffen, die wiederum gegnerische Werte zerstören sollen.
Dieser Prozess, der Krieg heißt und darauf ausgerichtet ist, dem Gegner möglichst viele Leben zu nehmen, kann eigentlich nicht bloß nüchtern und neutral beschrieben, in Zahlen ausgedrückt und ausgerechnet werden, sondern müsste eigentlich in jedem Satz verurteilt, ja verdammt werden.
Es müsste Anklage erhoben werden, wie es so weit wieder kommen konnte mitten in Europa, und die Beantwortung dieser Frage müsste zwingend auf Geschehnisse rekurrieren, die viel weiter in die Vergangenheit reichen.
Journalistische Arbeit verlangt jedoch Neutralität und Sachlichkeit, und so richtet der Autor im Folgenden seinen Block auf die sachlichen und fast maschinellen Bedingungen eines Prozesses, der kalt, nüchtern und grausam "Abnutzungskrieg" genannt wird.
Strategische Unvorbereitetheit des Westens
Das ist insofern auch wichtig und kann wieder zu einem friedlicheren Zusammenleben in Europa führen, sofern man sich bemüht, eine Portion Realismus in die Betrachtungen einfließen zu lassen und ideologische oder überhebliche Sichtweisen durch einen klaren Blick zu ersetzen.
Das öffentliche Gespräch in Deutschland gibt nach Ansicht des Autors dafür wenig her, allerdings gibt es Inseln und weiter wachsende Territorien, die genau das versuchen. Deutschland hat gerade im Hinblick auf die Einschätzung des Gegners Russland mit den spektakulären Fehlinterpretationen des NS-Geheimdienstes "Fremde Heere Ost", dem Vorläufer des BND, eine ungute Tradition.
Die Fehleinschätzung dieses Dienstes in Kombination mit anderen Faktoren hat für Deutschland, und noch viel mehr für Russland, letztlich unvorstellbares Leid hervorgebracht. Leid, das heute noch das Sicherheitsbedürfnis Russlands in hohem Maße prägt.
Doch anscheinend, ohne aus diesen Lehren für die heutige Zeit Schlüsse ziehen zu können, befindet sich Deutschland in einer ähnlichen Situation wie damals, insofern große Teile der maßgeblichen Entscheider und der ihnen nahestehenden Medien offenbar das Vermögen Russlands, einen Krieg zu führen, fundamental unterschätzen. Und auch nicht ansatzweise dem historisch gewachsenem Sicherheitsbedürfnis Russlands Rechnung tragen.
Die systematische Unterschätzung des militärischen Potenzials Russlands
Dagegen kann eine lesenswerte Betrachtung zum Thema Abnutzungskrieg Abhilfe schaffen. Das britische Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) veröffentlichte vor rund sechs Wochen "Die Kriegskunst der Abnutzung: Lehren aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine".
Die Studie geht recht detailliert auf die Besonderheiten und Muster eines Abnutzungskrieges ein. Der Text erlaubt einerseits Rückschlüsse auf die heutige Situation. Andererseits lassen sich Prognosen für den weiteren Verlauf des Krieges ableiten.
Der Bericht zeichnet kein positives Bild für die Streitkräfte der Nato, in einem Abnutzungskrieg bestehen zu können.
Schon das Verständnis davon, dass es in einer solchen Art der Kriegsführung nicht um die Eroberung fremden Territoriums geht, scheint schwierig:
Abnutzungskriege erfordern eine eigene "Kriegskunst" und werden mit einem "kräftezentrierten" Ansatz geführt, im Gegensatz zu Manöverkriegen, die "gebietsbezogen" sind. Sie beruhen auf massiven industriellen Kapazitäten, die den Ersatz von Verlusten ermöglichen, einer geografischen Tiefe, die es erlaubt, eine Reihe von Niederlagen zu verkraften, und technologischen Bedingungen, die schnelle Bodenbewegungen erschweren.
In Abnutzungskriegen werden militärische Operationen durch die Fähigkeit eines Staates bestimmt, Verluste zu ersetzen und neue Formationen zu bilden, nicht durch taktische und operative Manöver.
Die Seite, die den abnutzenden Charakter des Krieges akzeptiert und sich darauf konzentriert, die gegnerischen Streitkräfte zu zerschlagen, anstatt Terrain zu gewinnen, wird höchstwahrscheinlich gewinnen.
RUSI, Die Kriegskunst der Abnutzung: Lehren aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine
Das RUSI sieht den Westen für eine solche Art der Kriegsführung nicht gewappnet:
Der Westen ist auf diese Art von Krieg nicht vorbereitet. Für die meisten westlichen Experten ist die Abnutzungsstrategie kontraintuitiv. Historisch gesehen bevorzugte der Westen das kurze "Winner takes ist all"-Aufeinandertreffen von professionellen Armeen.
Jüngste Kriegsspiele wie der vom CSIS (Einf. d. A. Center for Strategic and International Studies, Denkfabrik in Washington, D.C), simulierte Krieg um Taiwan umfassten einen Monat Dauer der Kampfhandlungen. Die Möglichkeit, dass der Krieg weitergehen würde, stand nie zur Debatte.
Darin spiegelt sich eine weitverbreitete westliche Haltung wider. Abnutzungskriege werden als Ausnahmen betrachtet, als etwas, das um jeden Preis zu vermeiden ist und in der Regel auf die Unfähigkeit der Regierenden zurückzuführen ist.
RUSI