Abnutzungskrieg in der Ukraine: Die grausame Realität hinter einem harmlosen Wort

Seite 2: Herausforderungen im Waffendesign

Aber der Autor der RUSI-Studie sieht nicht nur strategische Mängel, sondern überblickt auch die unterschiedlichen Ansätze im Waffendesign, ein entscheidender Faktor in einem langen Krieg:

High-End-Waffen besitzen eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit, sind aber schwierig herzustellen, insbesondere wenn sie für die Bewaffnung einer schnell mobilisierten Armee benötigt werden, die einer hohen Abnutzungsrate ausgesetzt ist.

Während des Zweiten Weltkriegs waren die deutschen Panzer beispielsweise herausragende Kampffahrzeuge, aber die Sowjets produzierten mit ungefähr den gleichen Produktionsmitteln acht T-34 für jeden deutschen Panzer. Der Leistungsunterschied rechtfertigte nicht die zahlenmäßige Ungleichheit in der Produktion.

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Die Rolle der "Boutique-Waffen"

Hier spricht der Text das Phänomen an, das die brasilianische Expertin Patricia Marins gerne mit "Boutique-Waffen" umschreibt: teure, hochkomplizierte, empfindliche, schwer zu unterhaltende Waffensysteme, die unter Laborbedingungen außergewöhnliche Kampfkraft zeigen, aber in der Realität auf schlammigen Feldern unter rauen Bedingungen weniger brauchbar sind.

Zudem sind sie mit ihrem Preisschild wahrscheinlich nicht so sehr zum Zweck hergestellt worden, der Wehrkraft der jeweiligen Armeen zu dienen, sondern mehr dem Prinzip der privaten Vermögensmehrung verpflichtet.

Ferner sind solche "Boutique-Waffen" auch unter dem Gesichtspunkt ungeeignet, dass viele Soldaten, die mit diesen Waffen umgehen können, in einem lang andauernden Abnutzungskrieg ausfallen, sei es durch Tod oder Kriegsverletzungen. Das favorisiert einfach zu bedienende Waffen, deren Nutzung schnell erlernt werden kann:

High-End-Waffen erfordern auch High-End-Truppen. Deren Ausbildung erfordert viel Zeit – Zeit, die in einem Krieg mit hohen Abnutzungsraten nicht zur Verfügung steht.

Es ist einfacher und schneller, eine große Anzahl billiger Waffen und Munition zu produzieren, vor allem, wenn ihre Teilkomponenten mit zivilen Gütern austauschbar sind, sodass die Massenproduktion ohne Ausweitung der Produktionslinien möglich ist.

Neue Rekruten verinnerlichen auch einfachere Waffen schneller, was die rasche Bildung neuer oder die Wiederherstellung bestehender Verbände ermöglicht.

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Die russische Führung befolgt genau dies: Russisches Waffendesign ist einfacher und robuster in der Anwendung, aber auch einfacher herzustellen.

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis im Rüstungswesen

Westliche Beobachter interpretieren es meist als Schwäche, wenn russische Ingenieure zur Befestigung von Kabeln lediglich Klebeband verwenden, wenn eine Aufklärungsdrohne nur eine Standard-Canon-Kamera verbaut hat statt einer technischen Speziallösung oder wenn Rüstungsgegenstände aus einfachen Zivilprodukten von der China-Stange bestehen, statt militärisch "gehärtet" sind, wie es in der Fachsprache heißt.

Auch verstehen viele westliche Kommentatoren nach Einschätzung des Autors nicht die militärische Schlauheit, große Mengen von bereits dekommissionierten Militärgütern aufzuarbeiten und wieder zu benutzen, statt Ausrüstungsgegenstände neu herzustellen.

So werden insbesondere Russlands Fähigkeiten, alte Panzer wieder für den Dienst tauglich zu machen, ein militärisches "Refurbishment", belächelt. Dabei schlägt sich absurderweise ein russischer T-62, dessen Design aus den Anfängen der 1960er-Jahre stammt, nicht substanziell schlechter als ein Abrams M1A1 unter den Bedingungen des neuen Gläsernen Schlachtfelds, das von kleinen und wendigen Drohnen beherrscht wird.

Der Abrams ist wesentlich unter der Bedingung entwickelt worden, andere Panzer mittels überlegener Sensorik und Richtanlage zu bekämpfen, ein Szenario, das im Ukrainekrieg so fast nicht vorkommt.

Mit seinen exzessiv verwendeten Schutzkacheln als Zusatzpanzerung dürfte der aufgearbeitete T-62 dem überschweren US-Abrams sogar vom Schutzniveau her überlegen sein.

Und so kostet das Refurbishment eines alten T-62 nur ein Bruchteil der Herstellung einer neuen Super-Waffe.

Der Bau einer Super-Waffe bläht zudem hübsch den Wehretat auf und so kann man beeindruckende Vergleiche ziehen zwischen dem Wehretat aller Nato-Länder und dem russischen Wehretat, ohne die tatsächliche militärische Schlagkraft in Betracht zu ziehen, die das jeweilige Land mit seinem Wehretat erreichen kann.