Die ukrainische Tragödie: Zum assistierten Suizid einer Nation
Der Weg der Ukraine seit 2014 gleicht einem Trauerspiel. Externe und interne Faktoren führten das Land zu einer fatalen Konfrontation. Daran trägt nicht nur Moskau Schuld.
Umso näher das – zumindest in groben Zügen – voraussehbare Ende des Krieges um die Ukraine rückt, und die Forderungen nach "mehr Realismus" lauter werden, desto wichtiger ist es daran zu erinnern, dass die dortigen Geschehnisse, inklusive all der horrenden Schäden an Mensch und Land, unnötig und vermeidbar gewesen sind – nur aus anderen Gründen, als viele Beobachter in Deutschland denken.
In diesem Kontext ist "Assistierter Suizid: Interne und externe Ursachen der ukrainischen Krise" von Sergej Plechanow ein ganz besonderer Fachaufsatz.
Abgesehen vom Inhalt, der reichlich kritisches Wissen bietet, ist es insbesondere der Titel, der den Text so besonders macht, denn es gibt vermutlich kaum eine präzisere Möglichkeit, um auszudrücken, was wir in der Ukraine seit 2014 beobachten können: den assistierten Suizid einer Nation.
Assistiert, weil starke externe Faktoren, die "liberale Hegemonie" des US-geführten Westens einerseits und der russische "Neorevisionismus" andererseits, zu den damaligen Geschehnissen, und allem, was seither vorgefallen ist, kausal beigetragen haben.
Suizid, weil eine interne Fraktion der ukrainischen Elite, in Kooperation mit einer überproportional einflussreichen, radikal-nationalistischen Minderheit, das Land sehenden Auges in den Abgrund geführt hat, um die eigene Vision von diesem zu verwirklichen.
Eine vermeidbare Tragödie
Diskutabel ist hieran – höchstwahrscheinlich – nur noch, ob das Geschehen im staatlichen Exitus der Ukraine endet oder es beim versuchten Suizid und letztlich nichts als eine stark entstellte Hülle dessen verbleibt, was einmal ein großes europäisches Land hätte werden können. Dies ist die traurige Realität der ukrainischen Tragödie, so wie sie von Plechanow bereits anno 2015 beschrieben und in gewisser Hinsicht vorhergesehen worden ist.
Dieser Pfad ist aber nie in Stein gemeißelt gewesen – und es war keineswegs nur Russland, das aktiv zu diesem beigetragen hat, obgleich es schlussendlich als Vollstrecker agiert.
Zu Beginn seines Aufsatzes beschreibt Plechanow einige dieser zentralen Tatsachen des Konflikts, die in westlichen Diskursen zur Ukraine zuletzt einen schweren Stand hatten, realistisch betrachtet aber kaum etwas an ihrer Gültigkeit eingebüßt haben:
Die Tragödie, die der Ukraine widerfahren ist, hat interne und externe Ursachen, die sich gegenseitig verstärkt haben. Es gab einen Machtkampf unter den ukrainischen Eliten und einen Kampf um Einfluss über die Ukraine zwischen Russland und dem Westen. Weder die internen noch die externen Kämpfe schlossen die Möglichkeit einer Kompromissfindung aus, die ein Zerbrechen des ukrainischen Staates und die Eskalation internationaler Spannungen hätte vermeiden können.
Insbesondere im Angesicht des mit dem Konflikt um die Ukraine verbundenen Elends muss realistisch über die Gründe dafür debattiert werden, aus denen es in über zehn Jahren, die seit dem ursprünglichen Aufflammen des Konflikts vergangen sind, nicht zu besagter Kompromissfindung gekommen ist.
Konkret ausgedrückt: Es muss, neben all der Kritik des russischen Vorgehens, eine ehrliche Auseinandersetzung mit westlicher und ukrainischer Politik stattfinden, die zu diesem Ergebnis beigetragen hat.
Schlüsselereignis Maidan und dessen Hintergründe
Im März 2014, also kurz nach der Eskalation der Maidan-Proteste im Februar, schrieb Henry Kissinger, dass die Ukraine "kein Außenposten der einen gegen die andere Seite" sein dürfe, sondern "als eine Brücke zwischen ihnen fungieren sollte". Er schrieb darüber hinaus, dass die EU "dazu beigetragen" hatte, "eine Verhandlung in eine Krise zu verwandeln". Was hatte er damit gemeint?
Er kritisierte, mit Bezug auf ein zwischen der EU und der Ukraine verhandeltes Assoziierungsabkommen, was ein Jahr später auch Plechanow mit Bedauern festhielt:
Zum Unglück der Ukraine verlangte das Assoziierungsabkommen eine Entscheidung von der Regierung. Das Abkommen war ein Produkt der ab 2008 vorangetriebenen Europäischen Partnerschaftspolitik – diese Politik zielte klar darauf ab, post-kommunistische Staaten auf Kosten russischer Interessen in die Einflusssphäre der Union zu absorbieren.
Aus der Sicht der hauptverantwortlichen Architekten dieser Politik, dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski und dem schwedischen Außenminister Karl Bildt, hatte die EU eine geopolitische Mission zu erfüllen – das Verhindern eines Wiederaufstiegs eines neuen russischen Imperiums.
Auch Nikolai Petro, ein Kenner sowohl russischer als auch ukrainischer Gesellschaft, bedauerte Ende 2013, in einem Gastbeitrag in der New York Times, dass das Vorgehen der EU "die Ukraine nach Osten gedrängt" hätte.
Er bezog sich damit auf Janukowitschs Entscheidung, die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens auszusetzen und stattdessen auf einen russischen Gegenvorschlag einzugehen. Es war eben diese Entscheidung, die ausschlaggebend für den Ausbruch der Proteste auf dem Maidan gewesen ist.
Ein Staatsstreich als Ursünde der Nationenbildung
Die Wurzeln ethnonationalistischen Strömungen in der Ukraine reichen mindestens bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück – nicht zuletzt zum berüchtigten Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, Stepan Bandera, der während des Zweiten Weltkriegs mit Nazideutschland kollaborierte.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Podcast (Podigee GmbH) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Podigee GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.
Es waren eben solche radikal-nationalistischen Elemente des Maidans, die mithilfe des "Maidaner Massakers" und dessen Nachwirkungen die damaligen Proteste an sich rissen und, unter Duldung des Westens, die demokratisch legitimierte Regierung Janukowitschs aus dem Amt vertrieben.
Plechanow hielt ein Jahr später zu den Ereignissen fest:
Es war ein klassischer Staatsstreich. Im Rahmen der Verfassung konnte der Präsident ohne ein Amtsenthebungsverfahren nicht aus dem Amt entfernt werden. [...] Mithilfe der von den Radikalen provozierten Gewalt und der westlichen Regierungen, die Janukowitsch zu Zugeständnissen drängten, wurde das Regime jedoch in eine Ecke gedrängt, entwaffnet und zerstört.
Zeitgleich setzte eine zunehmende Verharmlosung besagter nationalistischer Elemente der ukrainischen Politik vonseiten des Westens ein, die in einigen Hinsichten, beispielsweise im Fall der berüchtigten westlichen Ideologin Anne Applebaum, gar in direktem Zuspruch mündete.
Staatsstreich im Westen, Rebellion im Osten
Insbesondere aufgrund der historisch bedingten diversen Differenzen innerhalb der ukrainischen Bevölkerung, war es abzusehen, dass ein solches Vorgehen hohes Konfliktpotenzial bergen würde. Plechanow schrieb hierzu:
Pro-russische Aktivisten begannen Milizen zu bilden, Massenkundgebungen zu veranstalten und Regierungsgebäude einzunehmen. Der Erfolg des westlichen Aufstands gegen Janukowitsch löste einen östlichen Aufstand gegen das neue Regime in Kiew aus.
In diesem Kontext bleibt es überaus fragwürdig, den Ausbruch des ukrainischen Bürgerkrieges einzig und allein der (ebenso realen) russischen Intervention in die Geschehnisse zuzuschreiben oder dessen Existenz gar gänzlich zu leugnen.
Konfrontation statt Kompromiss
Ganz im Gegenteil gibt es gute Gründe davon auszugehen, dass Moskau, nach der Sezession der Krim, eine weitere Eskalation vermeiden wollte und erst ernsthaft in die Geschehnisse im Donbass intervenierte, als Kiew im Rahmen einer "Antiterroroperation" zunehmend in die militärische Konfrontation ging, statt sich um das Finden eines Kompromisses zu bemühen. Hierzu Plechanow:
Moskau signalisierte Kiew, dass es kein Interesse an einem Auseinanderbrechen der Ukraine hatte, solch ein Szenario gar als katastrophal und nachteilig für die russischen Interessen empfand.
Russland drängte Kiew davon abzusehen, zu versuchen die östliche Rebellion mit Gewalt zu unterdrücken und schlug stattdessen einen Plan zur politischen Versöhnung durch die Reform des ukrainischen Staates vor, in deren Rahmen eine Föderation das zentralistische Einheitsmodell ersetzen und den erheblichen kulturellen und politischen Differenzen zwischen Ost und West Rechnung tragen würde.
Es steht die Frage im Raum, weshalb eine solche Föderalisierung, so wie von russischer Seite ursprünglich vorgeschlagen, und auf internationaler Ebene diskutiert, niemals zu Stande gekommen ist?
(West-)Ukrainischer Nationalismus und der Pfad in den Abgrund
Entgegen konventioneller westlicher Narrative erscheint es auch in diesem Kontext fragwürdig, Russland die alleinige Schuld für das Scheitern des von Moskau selbst eingebrachten Kompromissvorschlags zuzuschreiben.
In ihrem Urteil ausgeglichener wirkende Fachstimmen, wie die von Wolodymyr Ischtschenko, Iwan Katschanowski oder Nikolai Petro, messen hier dem ukrainischen Nationalismus und dessen seit 2014 stark zunehmenden Einfluss auf die ukrainische Politik einen wesentlichen Anteil bei.
Lesen Sie auch
EU-Juristen warnen: Mediensanktionen gegen Russland rechtlich bedenklich
Kanzlerbesuch in der Ukraine: Zwischen Solidarität und Wahlkampf
Wille zum Krieg: Warum wir in Gaza und der Ukraine falsch liegen
Energiekrise in der Ukraine: Von 34 auf 11 Gigawatt geschrumpft
Experte zu Ukraine-Krieg: Drei Szenarien für das Kriegsende
So geht Nikolai Petro sogar so weit in den Raum zu stellen, dass sich "[s]eit 2014 [...] alle ukrainischen Regierungen, in dem Glauben, dass dessen implizite Bedrohung der öffentlichen Ordnung sie nie selbst treffen würde, vor dem Nationalismus der extremen Rechten in den Staub geworfen [haben]".
Der Westen und insbesondere Washington hätten ihren wachsenden Einfluss auf Kiew einsetzen können, um dieser Problematik Herr zu werden. Stattdessen wurde, insbesondere ab 2016, die Aufrüstung und umfangreiche Reformierung der ukrainischen Armee unterstützt, was darauf schließen lässt, dass sowohl der Westen als auch Kiew dem Pfad der militärischen Konfrontation in der Ukraine, zu Ungunsten einer Kompromisslösung, den Vorzug gegeben haben.
Zweifellos ändern derartige retrospektive Einsichten nichts mehr an den Geschehnissen seit 2022. Wichtig für zukünftige Verhandlungen, und einen möglichst für alle Parteien akzeptablen Frieden, ist es dennoch, zur Kenntnis zu nehmen, dass es sowohl externe westliche als auch interne ukrainische Faktoren gegeben hat, welche die Ukraine in ihre suizidal anmutende Konfrontation mit einer überlegenen Großmacht und schlussendlich in den Abgrund geführt haben.