Arbeitszeiterfassung: Zwischen Pflicht und Verweigerung
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt seit 2022. Viele Unternehmen setzen die Vorgaben dennoch nicht um. Was sie damit bewirken, ist alarmierend.
Das Ende der „Ampel“-Koalition der Bundesregierung sorgt auch bei Unternehmern und ihren Beratern für Diskussionen. „Froh stimmen sollte, was nicht passiert ist“, argumentiert Alexander Zumkeller, der Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU): „Ich wünsche mir eine Regierung mit starker Beteiligung von Politikern, die lernen wollen, wissen wollen und hören wollen, bevor sie umsetzen“.
Er beschreibt, was alles nicht geregelt ist. Ein Tariftreuegesetz, das Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen zur Einhaltung von Tarifverträgen verpflichtet, wird es bundesweit nicht geben. Auch einen Rechtsanspruch auf Homeoffice, vergleichbar dem Teilzeitanspruch, hat die „Fortschrittskoalition“ nicht durchgesetzt, obwohl der Koalitionsvertrag anderes suggerierte.
Dies wäre „schlicht Gesetzesballast“, kritisiert Zumkeller und ist besonders froh, dass Bundesminister Heil keine Regelung zur Arbeitszeiterfassung in ein Gesetz fassen konnte, durch die eine Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom Management befolgt wird.
Bei der Arbeitszeit setzen Unternehmen oft – fernab von Medienberichten – ihre eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die Belegschaft durch. Fehlende Zeiterfassung wird zum Zeitdiebstahl genutzt. Denn die Zeiten werden nicht dokumentiert und entsprechend nicht von der zuständigen Personalabteilung gutgeschrieben, geschweige denn vergütet.
Neue Rhetorik: People & Culture
Das mag auf den ersten Blick verwundern. Denn in vielen Betrieben wird die traditionelle Personalabteilung inzwischen in „People & Culture“ (P&C) umbenannt: „Ziel dieses People-and- Culture-Ansatzes ist es, in der Personalführung eine positive Unternehmenskultur zu etablieren, in der sich Mitarbeiter in all ihrer Vielfalt und Individualität wertgeschätzt, unterstützt und motiviert fühlen“, erklärt Beratungsfirma HRworks.
Diese Ausrichtung soll die Mitarbeiterbindung verbessern und die Motivation der Beschäftigten erhöhen. Während das Management in erster Linie prozessorientiert und zahlenbasiert vorgeht, liegt der Schwerpunkt von P&C „auf einer positiven Arbeitsplatzkultur, die mit den Werten und der Mission eines Unternehmens übereinstimmt“, erläutert HRworks. „Dieser neue Ansatz erkennt an, dass die Belegschaft das wertvollste Kapital eines Unternehmens ist und ihre Führung ein tiefes Verständnis von Kultur, Vielfalt und Integration erfordert“, ergänzen die Unternehmensberater von crewting.de.
Beim Thema Arbeitszeit ist von einem neuen Ansatz selten etwas zu spüren. Zum Beispiel, wenn es um die Arbeitszeit geht, genauer gesagt um die Arbeitszeiterfassung. Hier hat ein Gerichtsurteil für Aufregung gesorgt. Viele Medien sprachen von einem „Paukenschlag“.
In einer Grundsatzentscheidung schrieb das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Zeiterfassung für jeden Betrieb vor (BAG vom 13.09.2022, Az: 1 ABR 22/21). Damit wurde das Ziel vieler Manager, die "Zeitdiebstahl“ betreiben, unterlaufen: Das Management verzichtet auf die Zeiterfassung, die Kontrolle der Höchstarbeitszeiten, wenn das „Ergebnis“ entscheidend ist, z. B. bei Zielvereinbarungen, unabhängig von der benötigten Arbeitszeit.
Erschwert wird dieses Geschäftsmodell durch die Pflicht zur Zeiterfassung – was die massiven Proteste vieler Unternehmen gegen eine solche Pflicht im Sinne des Arbeitsschutzes erklärt. Mobiles Arbeiten verstärkt die Tendenz der Unternehmen, Arbeitszeiten in die Freizeit auszudehnen. Wenn diese Zeiten nicht erfasst werden, können Gewerkschaften oder Betriebsräte weniger dagegen vorgehen, da die Unternehmen das Problem leugnen können, weil es nicht nachweisbar ist.
Die Entscheidung des BAG ist eine klare Vorgabe für jedes Unternehmen ohne Übergangsfristen: Der Unternehmer ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Die Unternehmen müssen ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einrichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit ermittelt werden kann.
In der Praxis bleibt die Durchsetzung dieser Vorgabe oft Gewerkschaftern und Betriebsräten überlassen, die dann konfliktreiche Auseinandersetzungen mit der Unternehmensleitung führen. „Die Gestaltung der Arbeitszeit gehört zu den zentralen Fragestellungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes“, erläutert die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und macht auf die Folgen fehlender Zeiterfassung hin: „Wird auf die Erfassung der Arbeitszeit verzichtet, so geht dies verstärkt mit zeitlicher Entgrenzung, schlechterem Abschalten von der Arbeit und einer geringeren zeitlichen Flexibilität bzw. Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance einher."
Unternehmen „erkennt“ Betriebsvereinbarung – hält sich aber nicht daran
Liegt eine Betriebsvereinbarung vor, ist die Einhaltung der Regelung nicht automatisch gewährleistet. Eine Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts aus dem letzten Jahr zeigt beispielhaft, wie Unternehmen versuchen, Regelungen zu umgehen.
Eine Betriebsvereinbarung regelt Arbeitszeitkonten. Darin ist festgelegt, dass bei Überschreitung eines Gleitzeitsaldos von 40 Stunden zwischen dem betroffenen Mitarbeiter und seinem Vorgesetzten konkrete Maßnahmen zum Abbau der Plusstunden zu vereinbaren sind. Als sich herausstellte, dass Beschäftigte erhebliche Guthaben auf ihren Stundenkonten angesammelt hatten, forderte der Betriebsrat das Unternehmen zum Handeln auf. Da dies jedoch keine Wirkung zeigte und es durchaus Beschäftigte mit mehr als 300 Plusstunden gab, beschritt der Betriebsrat den Rechtsweg.
Das Unternehmen erklärte, die Betriebsvereinbarung „anzuerkennen“ und entsprechend zu schulen. Die Vereinbarung sei jedoch „nicht praktikabel“ und könne daher nicht eingehalten werden. Dem schob das Landesarbeitsgericht einen Riegel vor: „Selbst wenn“, so die Richter, „zwischen den Betriebspartnern Einvernehmen bestünde, dass die Regelungen der Betriebsvereinbarung nicht praktikabel sind, sind diese gleichwohl zu beachten".
In den meisten Betrieben wird gegen diese Praxis jedoch nichts unternommen, da weder die Beschäftigten noch der Betriebsrat über das Arbeitsgericht aktiv werden. Damit setzen die Unternehmen auf die Macht des Faktischen – von einer Unternehmenskultur im Sinne eines „People & Culture“-Ansatzes kann keine Rede sein.