Arbeitszeiterfassung: Zwischen Pflicht und Verweigerung

Symbolische Darstellung von Zeitplanung und Steuerungsprozess.

(Bild: A9 STUDIO / Shutterstock.com)

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt seit 2022. Viele Unternehmen setzen die Vorgaben ‎ dennoch nicht um. Was sie damit bewirken, ist alarmierend.

‎‎Das Ende der „Ampel“-Koalition der Bundesregierung sorgt auch bei Unternehmern und ihren ‎ Beratern für Diskussionen. „Froh stimmen sollte, was nicht passiert ist“, argumentiert Alexander ‎ Zumkeller, der Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU): „Ich ‎ wünsche mir eine Regierung mit starker Beteiligung von Politikern, die lernen wollen, wissen wollen ‎ und hören wollen, bevor sie umsetzen“. ‎

Er beschreibt, was alles nicht geregelt ist. Ein Tariftreuegesetz, das Unternehmen bei öffentlichen ‎ Aufträgen zur Einhaltung von Tarifverträgen verpflichtet, wird es bundesweit nicht geben. Auch einen ‎ Rechtsanspruch auf Homeoffice, vergleichbar dem Teilzeitanspruch, hat die „Fortschrittskoalition“ ‎ nicht durchgesetzt, obwohl der Koalitionsvertrag anderes suggerierte.

Dies wäre „schlicht ‎ Gesetzesballast“, kritisiert Zumkeller und ist besonders froh, dass Bundesminister Heil keine Regelung ‎ zur Arbeitszeiterfassung in ein Gesetz fassen konnte, durch die eine Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom Management befolgt wird.

Bei der Arbeitszeit setzen Unternehmen oft – fernab von Medienberichten – ihre eigenen Interessen ‎ ohne Rücksicht auf die Belegschaft durch. Fehlende Zeiterfassung wird zum Zeitdiebstahl genutzt. ‎ Denn die Zeiten werden nicht dokumentiert und entsprechend nicht von der zuständigen ‎ Personalabteilung gutgeschrieben, geschweige denn vergütet.‎

Neue Rhetorik: People & Culture

‎Das mag auf den ersten Blick verwundern. Denn in vielen Betrieben wird die traditionelle ‎ Personalabteilung inzwischen in „People & Culture“ (P&C) umbenannt: „Ziel dieses People-and-‎ Culture-Ansatzes ist es, in der Personalführung eine positive Unternehmenskultur zu etablieren, in der ‎ sich Mitarbeiter in all ihrer Vielfalt und Individualität wertgeschätzt, unterstützt und motiviert fühlen“, ‎ ‎erklärt Beratungsfirma HRworks. ‎

Diese Ausrichtung soll die Mitarbeiterbindung verbessern und die Motivation der Beschäftigten ‎ erhöhen. Während das Management in erster Linie prozessorientiert und zahlenbasiert vorgeht, liegt ‎ der Schwerpunkt von P&C „auf einer positiven Arbeitsplatzkultur, die mit den Werten und der Mission ‎ eines Unternehmens übereinstimmt“, erläutert HRworks. „Dieser neue Ansatz erkennt an, dass die ‎ Belegschaft das wertvollste Kapital eines Unternehmens ist und ihre Führung ein tiefes ‎ Verständnis von Kultur, Vielfalt und Integration erfordert“, ergänzen die Unternehmensberater von ‎ crewting.de.‎

Beim Thema Arbeitszeit ist von einem neuen Ansatz selten etwas zu spüren. Zum Beispiel, wenn es ‎ um die Arbeitszeit geht, genauer gesagt um die Arbeitszeiterfassung. Hier hat ein Gerichtsurteil für ‎ Aufregung gesorgt. Viele Medien sprachen von einem „Paukenschlag“. ‎

In einer Grundsatzentscheidung schrieb das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Zeiterfassung für jeden ‎ Betrieb vor (BAG vom 13.09.2022, Az: 1 ABR 22/21). Damit wurde das Ziel vieler Manager, die ‎ ‎"Zeitdiebstahl“ betreiben, unterlaufen: Das Management verzichtet auf die Zeiterfassung, die Kontrolle ‎ der Höchstarbeitszeiten, wenn das „Ergebnis“ entscheidend ist, z. B. bei Zielvereinbarungen, ‎ unabhängig von der benötigten Arbeitszeit. ‎

Erschwert wird dieses Geschäftsmodell durch die Pflicht zur Zeiterfassung – was die massiven ‎ Proteste vieler Unternehmen gegen eine solche Pflicht im Sinne des Arbeitsschutzes erklärt. Mobiles ‎ Arbeiten verstärkt die Tendenz der Unternehmen, Arbeitszeiten in die Freizeit auszudehnen. Wenn ‎ diese Zeiten nicht erfasst werden, können Gewerkschaften oder Betriebsräte weniger dagegen ‎ vorgehen, da die Unternehmen das Problem leugnen können, weil es nicht nachweisbar ist.

Die Entscheidung des BAG ist eine klare Vorgabe für jedes Unternehmen ohne Übergangsfristen: Der ‎ Unternehmer ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ein System einzuführen, mit ‎ dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Die Unternehmen müssen ‎ ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einrichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit ‎ ermittelt werden kann. ‎

In der Praxis bleibt die Durchsetzung dieser Vorgabe oft Gewerkschaftern und Betriebsräten ‎ überlassen, die dann konfliktreiche Auseinandersetzungen mit der Unternehmensleitung führen. „Die ‎ Gestaltung der Arbeitszeit gehört zu den zentralen Fragestellungen des Arbeits- und ‎ Gesundheitsschutzes“, erläutert die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und ‎ Arbeitsmedizin und macht auf die Folgen ‎ fehlender Zeiterfassung hin: „Wird auf die Erfassung der Arbeitszeit verzichtet, so geht dies verstärkt ‎ mit zeitlicher Entgrenzung, schlechterem Abschalten von der Arbeit und einer geringeren zeitlichen ‎ Flexibilität bzw. Zufriedenheit mit der Work-Life-Balance einher."‎

Unternehmen „erkennt“ Betriebsvereinbarung – hält sich aber nicht daran

‎Liegt eine Betriebsvereinbarung vor, ist die Einhaltung der Regelung nicht automatisch gewährleistet. ‎ Eine Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts aus dem letzten Jahr zeigt beispielhaft, wie ‎ Unternehmen versuchen, Regelungen zu umgehen.‎

Eine Betriebsvereinbarung regelt Arbeitszeitkonten. Darin ist festgelegt, dass bei Überschreitung ‎ eines Gleitzeitsaldos von 40 Stunden zwischen dem betroffenen Mitarbeiter und seinem Vorgesetzten ‎ konkrete Maßnahmen zum Abbau der Plusstunden zu vereinbaren sind. Als sich herausstellte, dass ‎ Beschäftigte erhebliche Guthaben auf ihren Stundenkonten angesammelt hatten, forderte der ‎ Betriebsrat das Unternehmen zum Handeln auf. Da dies jedoch keine Wirkung zeigte und es durchaus ‎ Beschäftigte mit mehr als 300 Plusstunden gab, beschritt der Betriebsrat den Rechtsweg.‎

Das Unternehmen erklärte, die Betriebsvereinbarung „anzuerkennen“ und entsprechend zu schulen. ‎ Die Vereinbarung sei jedoch „nicht praktikabel“ und könne daher nicht eingehalten werden. Dem ‎ schob das Landesarbeitsgericht einen Riegel vor: „Selbst wenn“, so die Richter, „zwischen den ‎ Betriebspartnern Einvernehmen bestünde, dass die Regelungen der Betriebsvereinbarung nicht ‎ praktikabel sind, sind diese gleichwohl zu ‎ beachten". ‎

In den meisten Betrieben wird gegen diese Praxis jedoch nichts unternommen, da weder die ‎ Beschäftigten noch der Betriebsrat über das Arbeitsgericht aktiv werden. Damit setzen die ‎ Unternehmen auf die Macht des Faktischen – von einer Unternehmenskultur im Sinne eines „People & ‎ Culture“-Ansatzes kann keine Rede sein.‎