Ukraine-Krieg: Ukrainische Reserven schwinden, Russland beschleunigt Vormarsch
Wie effektiv können die neuen US-Waffenlieferungen den Kriegsverlauf ändern? Eine Einschätzung.
Russische Truppen konnten die Verteidigungsstellungen der ukrainischen Streitkräfte bei Otscheretyne durchbrechen. Zudem konnte dieser Ort trotz der vergleichsweise starken Befestigungen innerhalb weniger Tage vollständig eingenommen werden.
Auch in Krasnogorowka können die russischen Truppen weiter vordringen und fast den gesamten südlichen Teil der Kleinstadt einnehmen. Ein überraschender Vorstoß in den Nordosten von Krasnogorowka ermöglicht zudem eine Zangenbewegung, die die gesamten östlichen Verteidigungsstellungen bedroht.
Von Staromichailowka aus konnten russische Truppen starke ukrainische Verteidigungsstellungen einnehmen.
Im Februar und März eroberte die russische Armee jeweils rund 60 Quadratkilometer. Aber allein in den letzten beiden Tagen gelang es den russischen Streitkräften, 20 Quadratkilometer einzunehmen. Das Tempo des russischen Vormarsches beschleunigt sich: Im April haben russische Streitkräfte angeblich etwa 94 Quadratkilometer eingenommen.
Ukraine: Das Problem der Reserven
Fatal für die ukrainischen Streitkräfte scheint der Mangel an frischen Reserven zu sein, die bedrohte Frontabschnitte unterstützen könnten. So wurde in Otschetyn die 47. mechanisierte Brigade eingesetzt, nachdem die 115. mechanisierte Brigade dem Druck der russischen Armee nicht standhalten konnte. Die 47. mechanisierte Brigade ist seit dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive fast ununterbrochen als Feuerwehrbrigade im Einsatz.
Als Eingreifreserve war der ehemals kampfstarke Verband auch in Awdijiwka im Einsatz, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Laut der spanischen Zeitung El Pais fehlt es der Brigade nach den zermürbenden Kämpfen der letzten Monate nun an einsatzbereitem Großgerät wie Panzern – die Kampfkraft ist geschwächt.
US-Abrams-Panzer: Bemerkenswerter Schritt
Insgesamt verfügt die ukrainische Führung zwar noch über gepanzerte Fahrzeuge. Doch in einem bemerkenswerten Schritt hat die ukrainische Führung laut Associated Press (AP) nun alle ihre US-Abrams-Panzer von der Front abgezogen:
Die Ukraine hat die von den USA bereitgestellten Abrams M1A1-Kampfpanzer in ihrem Kampf gegen Russland vorerst zurückgezogen, unter anderem weil die russische Drohnenkriegsführung es ihnen erschwert, unentdeckt zu bleiben oder nicht angegriffen zu werden, so zwei US-Militärs gegenüber The Associated Press
Es klingt fast wie eine Satire, wenn ein Panzer nur kämpfen kann, wenn er nicht entdeckt oder angegriffen wird. Der US-Panzer scheint also nicht die optimale Wahl für einen modernen Kampfeinsatz zu sein. Anders gesagt: Der US-Panzer ist für den Kampfeinsatz gegen einen hochgerüsteten Gegner nicht geeignet?
Panzer: Der Kampf gegen Drohnen
Die russische Armee hingegen scheint einen Weg gefunden zu haben, ihre Panzerwaffe trotz der allgegenwärtigen Bedrohung durch kleine FPF-Drohnen erfolgreich gegen die Linien der ukrainischen Armee einzusetzen.
Vor etwa zwei Wochen tauchte ein erster T-72 Kampfpanzer auf, der durch einen scheunenähnlichen Aufbau zu einem fahrenden Bunker umgebaut wurde. Damit ähnelt der Panzer äußerlich dem allerersten deutschen Serienpanzer aus dem 1. Weltkrieg, dem unglücklichen A7V.
Wurde der auch als "Turtle-Tank" bezeichnete Panzer in den westlichen Medien zunächst belächelt, so demonstrieren Videos, auf denen solche umgerüsteten Schildkrötenpanzer zu sehen sind, die Effektivität dieser Waffe. Exemplarisch ist dieses Video, das den erfolgreichen Einsatz des Schildkrötenpanzers zeigt.
Zusatzpanzerung bei russischen Schildkröten-Panzern
Er wird als Durchbruchs-Panzer eingesetzt, fährt also in umkämpftem Gelände einer Kolonne von Panzerfahrzeugen voraus. Dazu zeichnet sich der Panzer durch drei Merkmale aus: Eine zusätzliche Panzerung, die wie eine Haube über dem Panzer angebracht ist und einen größeren Freiraum zwischen dieser Panzerung und der Außenhaut des Panzers lässt.
Diese Zusatzpanzerung ist nur möglich, weil russische Panzer über Gewichtsreserven verfügen. Im Vergleich zu westlichen Panzern sind russische Panzerkonstruktionen wahre Leichtgewichte. So wiegt der Abrams M1A1 mindestens 57 Tonnen, der modernste in der Ukraine eingesetzte Panzer T-90M dagegen nur 49 Tonnen. Ein russischer T-72 wiegt sogar nur knapp 42 Tonnen.
Die modernste Variante des Abrams bringt sogar absurde 66,8 Tonnen auf die Wage und ist so vielleicht noch eingegraben als Artillerie verwendbar. Dagegen kommt ein russischer T-72 sogar nur auf knapp 42 Tonnen.
Das Übergewicht des Abrams-Panzers dürfte ein Grund sein, warum er auf den weichen Böden der Ukraine nicht erfolgreich zum Einsatz gebracht werden kann.
Das Übergewicht des Abrams-Panzers dürfte ein Grund dafür sein, dass er auf den weichen Böden der Ukraine nicht erfolgreich eingesetzt werden kann.
Das zweite Merkmal des neuen russischen Panzers ist ein starkes Element der elektronischen Kampfführung, mit dem er anfliegende ukrainische Drohnen stören kann.
Und das dritte Element ist ein Minenpflug, mit dem der Panzer eine minenfreie Gasse für nachfolgende Panzer schaffen kann.
Auf dem oben erwähnten Video sind zahlreiche Angriffsversuche zu sehen, die der geschweißte Panzer erfolgreich abwehren kann.
Letztlich muss der Panzer wegen eines Minentreffers aufgegeben werden, die Besatzung kann aber entkommen.
Ungleichgewicht bei Artilleriemunition
Während das Fahrzeug kleinen FPV-Drohnen zu widerstehen scheint, dürfte die Panzerung keinen Schutz gegen Artilleriebeschuss bieten. Artilleriemunition wird aber aller Voraussicht nach im neuesten US-Waffenpaket enthalten sein.
Dennoch sind sich Beobachter einig, dass es bei der Artilleriemunition weiterhin ein Ungleichgewicht zuungunsten der Ukraine geben wird, die Überlegenheit der russischen Artillerie also auch nach der Lieferung des US-Pakets bestehen bleibt.
Trotz neuer Waffenlieferungen: Das Problem der ukrainischen Führung ist, dass sie offenbar nicht über genügend einsatzfähige Reserven verfügt, um die Löcher an der Front zu stopfen. Trotz des neuen milliardenschweren Waffenpakets der USA - wenn der Ukraine die Soldaten ausgehen, nützen auch neue Waffen nichts.
Die Lage für die Verteidiger
So bleibt die Lage vor allem bei Otschetynje für die Verteidiger gefährlich, die russische Armee konnte den Einbruch ausweiten. Im Süden konnten Nowobachmutivka und Solowjowe innerhalb weniger Tage vollständig von ukrainischen Truppen gesäubert werden.
Nach wochenlangen schweren Kämpfen ist Berdychi jetzt für die Ukraine gefallen und damit die gesamte zweite Verteidigungsstellung nach Awdijiwka.
Die russischen Truppen rücken nun weiter entlang der Eisenbahnlinie in Richtung Prohres vor.
Seit Jahresbeginn konnte die russische Armee mindestens 19 Dörfer und Städte einnehmen. Östlich von Otscheretyne ist Novokalynove und Keramik jeweils zur Hälfte unter russischer Kontrolle geraten. Zwischen Otscheretyne und Novokalynove und zusätzlich bei Arkhanhelske liegen jeweils weitläufigere Befestigungswerke der ukrainischen Streitkräfte. Russische Kräfte sind kurz davor, die Stellungen zwischen Otscheretyne und Novokalynove einzukesseln und stehen bereits vor Arkhanhelske.
Die Stärke der ukrainischen Befestigungen lässt sich durch Osint-Analysen schwer feststellen, hier kann man eigentlich nur Aussagen über die Ausdehnung der Anlagen machen, nicht aber über deren Qualität.
Gleitbomben: Gehärtete Verteidigungsstellungen wären nötig
Entscheidend für die Qualität einer Anlage wäre beispielsweise das Vorhandensein von unterirdischen, gehärteten Kasematten und Verbindungsbauwerken, die vor Gleitbombeneinsätzen geschützt wären.
Russland kann aktuell eine drei Tonnen schwere Gleitbombe einsetzen, die sehr günstig herzustellen ist. Diese FAB-3000 hinterlässt laut des Fachmagazins Defence Express einen etwa 15 Meter tiefen Krater. Die Führung der Ukraine hat aus ideologisch-strategischen Gründen den Aus- und Neubau von Verteidigungsanlagen verschleppt.
Es ist nicht anzunehmen, dass die Ukraine in der kurzen Zeit dermaßen gehärtete Verteidigungsstellungen errichten konnte, die einen Einschlag einer FAB-3000 widerstehen kann. Unter anderem aus diesem Grund ist es für die ukrainische Armee so wichtig, die besser ausgebauten, älteren Verteidigungsanlagen zu halten, die jetzt die aktuelle Kontaktlinie bilden.
Teilweise sind diese allerdings bereits gefallen und die Streitkräfte der Ukraine sind gezwungen, sich auf Stellungen zurückzuziehen, die einer russischen Attacke mit schweren Gleitbomben wenig entgegenzusetzen haben.
Momentaufnahme
Im Raum Awdijiwka muss die Ukraine jetzt auf die dritte Verteidigungsstellung zurückweichen.
Im Durchbruch-Bereich von Otscheretyne scheint die russische Führung massiv Kräfte nachzuführen, um die kritische Situation der ukrainischen Verteidiger weiter auszunutzen, Forbes berichtet von der Nachführung einer rund 10.000 Mann starken Truppe, das würde etwa der Stärke zweier Brigaden entsprechen.
Der Bericht gibt an, dass die 15. und 74. Motorschützenbrigade zusammen mit Teilen der 90. Panzerdivision und einiger Spezialverbände in den Raum Otscheretyne abkommandiert worden sind. Es steht zu vermuten, dass die ukrainische Führung dem keine bis wenig Reserven entgegenzusetzen hat.
Auch bei Kupjansk gibt es gute Nachrichten für die russischen Streitkräfte. Dort gelang bei Kyslivka ein Durchbruch durch die ukrainischen Stellungen, etwa die Hälfte des Dorfes konnte eingenommen werden.
Spekulationen über Nato-Truppen
Das Tempo des russischen Vormarsches nimmt zu. Deshalb werde die Nato als Berater getarnte Truppen in die Ukraine schicken. Das behauptet Stephen Bryen, ehemaliger stellvertretender Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium, in einem Artikel der in Hongkong erscheinenden Asia Times. Namentlich genannt werden Großbritannien, Polen, Finnland und Frankreich.
Soldaten dieser Länder kämen in großer Zahl in die Ukraine. Diese Soldaten seien keine Söldner, sondern kämen als reguläre Truppen in voller Uniform mit den Abzeichen der jeweiligen Länder in die Ukraine.
Die Nato behauptet, es handele sich nicht um Kampfsoldaten, sondern sie seien in der Ukraine, um hochentwickelte westliche Ausrüstung zu bedienen. Wenn sie aber auf die Russen schießen, kann man ihre Anwesenheit nur so interpretieren, dass sie eine aktive Rolle im Feuergefecht spielen.
AsiaTimes
Stephan Bryen weist in seinem Artikel darauf hin, dass die USA eine ähnliche Methode der Truppenentsendung bereits in Vietnam angewandt haben:
Dies ist mehr oder weniger das gleiche Muster, das die USA anwandten, als sie "Berater" nach Vietnam schickten. Dabei handelte es sich in Wahrheit um US-Spezialeinheiten, die an den Kämpfen beteiligt waren.
Asia Times
Nato-Experten sind sich bewusst, dass die Ukraine trotz des neuen Waffenpakets vor erheblichen Herausforderungen steht. Nach Einschätzung des Autors kann sie ihn auch mit dieser Hilfe nicht gewinnen, sondern verliert ihn. Gewinnen könnte die Nato den Krieg nur, wenn sie mit eigenen Truppen einmarschiert.
Eine neuer Frontabschnitt?
Es gibt Anzeichen, dass Russland im Raum Charkow und Sumi eine neue Front eröffnet. Das sind weitere beunruhigende Nachrichten aus ukrainischer Sicht.
Dies mag ein Grund dafür sein, dass die ukrainische Führung so zögerlich ist, ihre wertvollen Reserven an die nun bedrohten Frontabschnitte zu verlegen. Sollte die russische Führung tatsächlich neue Vorstöße an bisher ruhigen Abschnitten starten, dann brauchen die ukrainischen Streitkräfte dringend Truppen, um dem vermuteten russischen Vormarsch etwas entgegensetzen zu können.
So wirft die antizipierte russische Offensive bereits ihre Schatten voraus und schwächt schon jetzt die Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte, da sie bereits jetzt die so wichtigen Reserven bindet.
Es ist gut möglich, dass die russischen Streitkräfte entlang des vermuteten neuen Frontabschnittes ähnlich vorgehen werden wie bisher: also keine Großoffensive, sondern ein behutsames, konzentriertes und vorsichtiges Vorgehen kleinerer Verbände unter Ausnutzung der Überlegenheit der russischen Feuerkraft. Die Großstadt Charkow würde dabei wahrscheinlich nicht gestürmt werden, da die Verluste auf russischer Seite zu hoch wären.
Sollten die Annahmen zutreffen und Russland tatsächlich einen neuen Frontabschnitt eröffnen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die ukrainischen Streitkräfte ohne personelle Unterstützung der Nato-Staaten innerhalb kurzer Zeit zumindest teilweise zusammenbrechen und sich hinter den Dnepr zurückziehen müssten.
Würden tatsächlich Nato-Truppen in die Ukraine entsandt, so ist das Risiko sehr groß, dass dies zu einem großen europäischen Krieg führt. Die Folgen einer Truppenentsendung von Nato-Staaten in die Ukraine wären fatal, da dies würde eine direkte Beteiligung von Nato-Staaten an den Kampfhandlungen bedeuten würde und eine extreme Eskalation des Krieges nach sich ziehen könnte, mit dramatischen Folgen für das Leben aller Europäer.