Text kriecht und flattert über Bildschirme und Projektionen
Im Berliner Kulturforum ist bei der Ausstellung "p0es1s" digitale Poesie zu sehen
Spätestens seit den "Matrix"-Filmen ist auch ins populärkulturelle Bewusstsein die Tatsache eingedrungen, dass unter den digitalen Bildern und Programmen, die uns umgeben, Computercode wirkt. Und dass der durchaus eine eigene Ästhetik entfalten kann. Die von oben herabrieselnden ASCII-Buchstaben in Monitor-Grün sind - in allen drei Teilen wiederholt - zu einer Pop-Ikone geworden.
Auch in der Ausstellung p0es1s , die seit einigen Tagen im Kunstforum am Potsdamer Platz zu sehen ist, rieseln die Buchstaben von oben herab. Vokale, Konsonanten, manchmal auch ganze Silben scheinen in der Installation "Text Rain" von Romy Achituv und Camille Utterback vom Himmel zu fallen. In dieser Buchstabensuppe findet sich per Rückprojektion der Betrachter wieder. Trifft eine Letter auf sein virtuelles Bild, prallt er ab, als wäre er auf eine physischen Widerstand getroffen. Sammelt man als Teilnehmer genügend Buchstaben auf seinem ausgestreckten Arm, kann man manchmal sogar ganze Worte oder einen vollständigen Satz auffangen. Denn die Buchstaben stammen alle aus Gedichtzeilen, die sich mit dem Körper und der Sprache beschäftigen.
Mit Arbeiten wie dieser will "p0es1s" zeigen, wie sich Künstler und Autoren unter den Bedingungen der Digitalisierung mit Literatur und Poesie beschäftigt. Und nicht nur bei "Text Rain" sind die Buchstaben los. Text kriecht und flattert bei "p0es1s" über Bildschirme und Projektionen, lässt sich drehen und navigieren, flackert oder schreibt sich wieder und wieder neu. Seit sich die Worte von den gedruckten Seiten gelöst haben und auf den Monitor umgesiedelt sind, haben sie ein heftiges Eigenleben angenommen.
Die "parole in libertá", die befreite Sprache, von der der Futurist Marinetti einst träumte, ist wenigstens technische Möglichkeit geworden. Während bei den Sprachexperimentatoren zu Beginn der vergangenen Jahrhunderts wie Guillaume Appollinaire oder den Dichtern der Konkreten Poesie in den 50er Jahren die Worte und Sätze sich nur frei über das Blatt verteilten oder sich zu Mustern und Sprachbildern auf der Buchseite anordneten, ist der Text nun beweglich geworden. Er kann als Hypertext durch Anklicken und Scrollen durchmessen werden wie ein Raum. Computerprogramme können nach Zufallsprinzip oder nach genau definierten Vorgaben eigene Texte generieren.
Der Kurator Friedrich Block aus Kassel beschäftigt sich unter dem Markennamen "p0es1s" bereits seit Anfang der 90er Jahre mit digitaler Dichtung. Schon der Name der Ausstellung, die von der Berliner Literaturwerkstatt organisiert wurde, ist eine Mischung aus literarischem Gattungsbegriff (poesis, lateinisch für die Dichtungskunst) und den Nullen und Einsen, aus denen letztlich alle Computerprogramme bestehen. Die Nullen und Einsen durchziehen auch die Ausstellungsarchitektur von "p0es1s", bei der Block zusammen mit Benjamin Meyer-Krahmer einen Überblick über die verschiedenen Methoden geben möchte, mit denen Autoren und Künstler sich per Computer und Internet an einer digitalen Poesie versucht haben.
Dass das nur selten im Rahmen von Ausstellungen getan wird, liegt - wie auch bei der Netzkunst - an den Vermittlungsproblemen, vor die computerbasierte Arbeiten herkömmliche Museumspräsentationen stellen. Auch bei "p0es1s" besteht ein guter Teil der Präsentation aus Rechner, die in einem abgedunkelten Raum installiert worden sind, der an die letzten Szenen aus Stanley Kubricks "2001 Odyssee im Weltraum" erinnert. Auf Stilmöbeln stehen Computer, an denen man sich durch digitale Texte klicken kann. Damit entgeht die Ausstellung zwar stimmungsmäßig der Büro-Atmosphäre, die die Präsentation von digitaler Kunst häufig genug umgibt. Doch die zum Teil recht schwer zugänglichen Arbeiten brauchen Zeit und wollen oft genug wie ein Buch mit längeren "Einarbeitungsphasen" erkundet werden.
Wer sich darauf nicht einlassen möchte, findet eine Reihe von Installationen vor, die zum Teil einen wesentlich physischeren Zugang zur digitaler Dichtung erlauben. Frank Fietzecks "Bodybuilding" besteht zum Beispiel aus einem Trainingsgerät, an dem man wie im Fitness-Studio die Muskeln anstrengen muss, um "Dialogfragmente erotischen Gehalts" auf einem Bildschirm erscheinen zu lassen. Bei der Arbeit "Souvenir" von Heiko Idensen und Stefan Schemat muss sich der Besucher einen Rucksack aufsetzten, aus dem einem beim Rundgang vor dem Museum satellitengesteuert Stimmen und Klänge über Kopfhörer in die Ohren flüstert.
Der "Analog-Digital-Spiegel" von Andreas Müller-Pohle zerlegt eine Aufnahme vom Ausstellungsraum in digitalen Code, wenn sich der Besucher vor seinem eigenen Abbild hin und her bewegt. Nur als T-Shirt ist eine Arbeit des italienischen Programmierers Jaromil verfügbar: ein winziges Stück Code, das würde man es in einen Unix-Computer eingeben zum sofortigen Absturz führen würde. Die brasilianische Künstlerin Giselle Beiguelman hat große elektronische Anzeigentafeln in Sao Paolo mit kryptischen Sonderzeichen zugemüllt und versendet ihre Textbilder auch per SMS aufs Handy. Und "GeneralNews" von Daniela Alina Plewe ersetzt in Texten von englischen und deutschen Nachrichten-Websites einzelne Worte durch alternative Begriffe.
Wer Zugang zu der Ausstellung finden will, ist wohl zum Teil auf den Kurzführer angewiesen, denn an den Exponaten fehlen jegliche Erklärungen. Oder man freut sich einfach ohne Hintergedanken an dem oft genug kryptischen Textmaterial. Zum Beispiel an der Kombination von autobiografischen Texten und Computercode, aus denen der Beitrag von der Australierin Mez besteht: "[dreamt of ur curling geo_edges city last nite. very peculiar]. [(k)nots in MyBook[read: do.(A)cumen.t]. [i fall + heart.wound easily, sporadically, ma.jest[er]ically 4 all things simulcra].ur blather is my concept meat.undulatingly."
p0es1s, bis zum 4. April 2004 im Kulturforum am Potsdamer Platz. Der Katalog mit 330 Seiten kostet 25,- EUR.