TikTok und X: Pushen Algorithmen wirklich die AfD?

Harald Neuber

Als die anderen kamen, war die AfD schon da. Bild: JRdes/ Shutterstock.com

Algorithmen sollen die AfD auf TikTok und X pushen – das behaupten Studien. Doch wie belastbar sind die Untersuchungen wirklich? Und wieso kommt kein Forscher auf die naheliegendste Begründung?

In den vergangenen Monaten haben Schlagzeilen über eine mögliche Bevorzugung rechter Inhalte durch Algorithmen auf Plattformen wie TikTok und X (ehemals Twitter) für Aufsehen gesorgt. Mehrere Studien legen nahe, dass insbesondere die AfD von den Empfehlungssystemen profitiert. Doch wie belastbar sind diese Ergebnisse? Und wer steckt hinter den Untersuchungen? Ein genauer Blick lohnt sich.

Studien liefern alarmierende Ergebnisse

Den Anfang machte eine Studie der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation Global Witness. Ihre Methode: Auf TikTok und X wurden jeweils drei neue Accounts erstellt, die den offiziellen Kanälen von CDU, SPD, Grünen und AfD sowie deren Spitzenkandidaten folgten.

Das Ergebnis war frappierend: 78 Prozent der von TikToks Algorithmus empfohlenen Partei-Inhalte unterstützten die AfD, bei X waren es 64 Prozent. "Dies ist eine Art unbeabsichtigter Nebeneffekt von Algorithmen, die auf der Förderung des Engagements basieren", kommentierte Ellen Judson von Global Witness die Befunde gegenüber TechCrunch. Es bestehe ein Konflikt zwischen kommerziellen Erfordernissen und demokratischen Zielen.

ZDF macht gleiche Beobachtungen

Zu einem ähnlichen Schluss kam eine Untersuchung von ZDF Frontal mit einem Forscherteam der Universität Dublin. Hier folgten neu erstellte Accounts je acht führenden Vertretern der Bundestagsparteien. Das Resultat: Obwohl die AfD nur 15,2 Prozent der Partei-Posts erstellte, machten diese Posts satte 37,9 Prozent der Beiträge im personalisierten "Für Dich"-Feed aus. Die SPD hingegen kam bei 12,5 Prozent erstellter Posts nur auf einen Anteil von einem Prozent im Feed.

Besonders oft tauchten Tweets von Elon Musk auf, von denen wiederum AfD-Politikerin Alice Weidel profitierte, die Musk häufig zitierte oder retweetete. Der Studienleiter in Dublin, Przemysław Grabowicz, vermutete gegenüber dem ZDF, dass neben Interaktionsraten noch andere, parteibezogene Faktoren eine Rolle spielen – welche genau, lasse sich aber aufgrund der intransparenten X-Algorithmen nicht sagen.

Detailreiche Momentbeobachtung

Während diese beiden Studien mit sehr kleinen Stichproben und kurzen Zeiträumen arbeiteten, ging eine Untersuchung der Universität St. Gallen in Kooperation mit Zeit Online mehr in die Tiefe. Über KI-gesteuerte Accounts wurden zwischen dem 9. Januar und 11. Februar fast 1.800 potenziell AfD-nahe TikTok-Videos gesammelt und analysiert.

Das Ergebnis: Rund 75 Prozent der AfD-bezogenen Inhalte stammten von Fans, rechten Influencern und anonymen Accounts, nur ein Viertel von der Partei selbst. Hauptthema war einmal mehr die Migration, oft verknüpft mit Aussagen über Kriminalität und Unsicherheit. "Im Kontext der Migrationsdebatte schürt die AfD gezielt Ängste um die Sicherheit von Frauen und Kindern. Das emotionalisiert extrem", erklärte Julia Ebner von der Universität Oxford dazu. Besonders nach tatsächlichen Gewalttaten wie dem Anschlag von Magdeburg werde dies ausgenutzt.

Eine zentrale Figur im AfD-TikTok-Kosmos ist demnach Spitzenkandidatin Alice Weidel, die in fast jedem zweiten Video auftaucht – mal im Bundestag, mal im Studio, mal privat. Fan-Accounts verbreiten ihre Auftritte, teils humorvoll, teils bestimmend inszeniert. Ihr offizieller Account erreichte mit einem Konter-Format zum Thema "Masseneinwanderung" 4,4 Millionen Aufrufe und eine halbe Million Likes.

Insgesamt setze die AfD auf TikTok auf Quantität statt Qualität, so die Studie, ohne zu erklären, wo der qualitative Unterschied zwischen den Beiträgen der, AfD und jenen anderer Parteien existiert. Viele Videos seien einfach produziert, nur etwa jedes Zwanzigste gehe viral. Doch durch die schiere Masse und gezielte Emotionalisierung erreiche die Partei eine beachtliche Sichtbarkeit. Über Gewinnspiele animiere sie Unterstützer zudem, Inhalte von der Website herunterzuladen und auf eigenen Accounts zu verbreiten.

Wer forscht da eigentlich?

Bei aller Brisanz der Ergebnisse stellt sich die Frage: Wer steckt eigentlich hinter den Studien? Auffällig ist, dass die Mehrheit der Untersuchungen von Akteuren mit einer linksliberalen Ausrichtung oder einem expliziten Fokus auf Demokratieförderung und den Kampf gegen Rechtsextremismus stammt.

Die erwähnte NGO Global Witness etwa setzt sich laut eigenen Angaben für Umweltschutz, Menschenrechte und gegen Korruption ein. Finanzielle Unterstützung erhält sie unter anderem von den linksliberalen Stiftungen Open Society Foundation und Luminate. Wiederholt forderte Global Witness eine strengere Regulierung von Social-Media-Plattformen.

Linke Stiftung hinter einer Studie steht selbst in der Kritik

Auch die an einem TikTok-Forschungsprojekt beteiligte Amadeu Antonio Stiftung ist ein Player der politischen Linken. Die Stiftung fördert Initiativen für demokratische Jugendkultur und gegen Hassrede im Netz. Belltower.News, das Portal der Amadeu Antonio Stiftung gegen Rechtsextremismus und Desinformation, steht in der Kritik. Skeptiker werfen dem Portal Einseitigkeit und fragwürdige journalistische Methoden vor.

Bei den beteiligten Medien lässt sich ebenfalls eine linksliberale Grundtendenz ausmachen. Zeit Online etwa steht dem linken Lager näher als dem rechten, ohne einer Partei direkt verbunden zu sein. Und auch die Berichterstattung des ZDF zu dem Thema lässt eine eher kritische Haltung gegenüber der AfD erkennen.

Natürlich bedeutet das nicht, dass die Studienergebnisse damit hinfällig wären. Doch zumindest eine gewisse Voreingenommenheit in der Fragestellung und Interpretation ist nicht auszuschließen. Für ein vollständiges Bild wären daher dringend auch unabhängige Untersuchungen wünschenswert, die sich nicht nur auf rechte Inhalte fokussieren, sondern das gesamte Parteienspektrum in den Blick nehmen.

Forschung mit Lücken

Ohnehin weisen die bisherigen Studien trotz wichtiger Erkenntnisse auch Lücken auf. Da wären zunächst die oft sehr kleinen Stichproben und kurzen Untersuchungszeiträume. Für wirklich repräsentative Aussagen bräuchte es Tausende Testaccounts, die demografisch die Gesamtbevölkerung abbilden, sowie Langzeitbeobachtungen über Monate oder Jahre hinweg. Nur so ließen sich kurzfristige Schwankungen von echten Trends unterscheiden.

Aufschlussreich wären auch Vergleiche zwischen verschiedenen Plattformen, um deren spezifische Effekte zu identifizieren. Zwar deuten die vorliegenden Daten darauf hin, dass TikTok und X anfälliger für eine Verzerrung zugunsten rechter Inhalte sind als etwa Instagram. Doch ohne systematische Gegenüberstellung lässt sich das kaum belegen.

Der Königsweg wären experimentelle Designs, bei denen Nutzergruppen gezielt unterschiedlichen Algorithmen ausgesetzt werden. Auf diese Weise ließe sich der Einfluss der Empfehlungssysteme viel klarer nachweisen als durch reine Beobachtungsstudien. Doch dafür bräuchte es die Kooperation der Plattformen – und die ist mehr als unwahrscheinlich.

Vorsicht mit Verallgemeinerungen

Was bleibt, ist ein durchwachsenes Fazit: Ja, die bisherigen Studien liefern deutliche Hinweise auf eine Bevorzugung rechter und speziell AfD-naher Inhalte durch die Algorithmen von TikTok und X. Sie zeigen, dass die Empfehlungssysteme anfällig für Verzerrungen sind und so möglicherweise den demokratischen Diskurs gefährden.

Doch für belastbare Aussagen über das genaue Ausmaß und die Ursachen dieser Effekte reicht die aktuelle Datenlage nicht aus. Zu lückenhaft und methodisch angreifbar sind die Untersuchungen, zu einseitig politisch verortet die dahinterstehenden Akteure.

Potsdamer Untersuchung 2024 – ähnliche Schwächen

Der politische Kontext, in dem Studien über rechte Akteure in sozialen Netzwerken meist entstehen, und die mangelnde Repräsentativität der Untersuchungen, sind ein wiederkehrendes Problem. Im vergangenen Jahr machte eine Studie des Potsdam Social Media Monitor (PSMM) über die Sichtbarkeit verschiedener politischer Parteien auf TikTok im Vorfeld der Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen Schlagzeile.

Die Forscher analysierten mithilfe von speziellen Forschungs-Accounts, sogenannten Social Research Bots (SRBs), welche parteipolitischen Inhalte Erstwählern auf TikTok angezeigt werden.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Inhalte der AfD mit 71 Prozent aller parteispezifischen Hashtags deutlich häufiger in den Feeds der SRBs auftauchten als Inhalte anderer Parteien. Prof. Dr. Jasper Tjaden, Co-Leiter des PSMM, sieht darin eine Benachteiligung moderater Parteien: "Der Content, der vom Algorithmus der Plattform ausgespielt wird, benachteiligt damit andere Parteien, die zum moderaten Spektrum zählen, massiv."

Doch lässt sich diese Aussage durch die Studie tatsächlich belegen? Eine genauere Betrachtung des Methodenberichts zeigt, dass die Studie keine direkten Vergleiche zwischen rechtsextremen und gemäßigten Parteien zieht. Der Fokus lag vielmehr auf der generellen Reichweite politischer Akteure auf TikTok.

Zwar wurden Daten zur Sichtbarkeit offizieller Partei-Accounts und parteinaher Hashtags erhoben, eine Analyse der Unterschiede zwischen politischen Lagern fehlt jedoch. Auch finden sich im Bericht keine Belege für eine systematische Benachteiligung moderater Parteien durch den Algorithmus.

Die Aussage von Prof. Tjaden lässt sich anhand der vorliegenden Informationen also nicht eindeutig stützen. Um die These zu überprüfen, wären zusätzliche Analysen nötig, die explizit gemäßigte und extreme Parteien vergleichen.

Zwar wirft die Studie wichtige Fragen zur Rolle von TikTok als politischem Informationsmedium für junge Wähler auf. Die hohe Sichtbarkeit der AfD auf der Plattform ist bemerkenswert und sollte weiter untersucht werden. Auch der Einfluss von Algorithmen auf die politische Meinungsbildung bleibt ein relevantes Forschungsthema.

Aber mit welcher Verve die Ergebnisse nicht repräsentativer Studien verbreitet werden, ist beachtlich. Das Portal Netzpolitik etwa geht in die Vollen und wartet gleich zu Beginn mit zwei Tatsachenbehauptungen auf, die schwer nachzuweisen sein dürften ("TikTok und X pushen rechte Parteien", "Gleich zwei Untersuchungen zeigen, dass die rechtsradikale AfD von den Algorithmen bei TikTok und X überproportional profitiert.") Die Deutsche Welle formuliert das alles berechtigterweise vorsichtiger ("wohl mitverantwortlich ").

Verbreiten links und links liberale Akteure, also Verschwörungsmythen? Ganz weit muss man vielleicht nicht gehen, eines jedoch scheint klar: Die Vorschau und Journalisten hinter den Untersuchungen lassen ein eindeutiges, politisches Interesse erkennen. Und wenn ein Studienleiter mit offenbar nicht haltbaren Thesen an die Öffentlichkeit geht, während seine Untersuchung noch nicht mal ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat, ist, gelinde gesagt, kontraproduktiv. Erstaunlich, auch, dass keinem Journalisten die Frage eingefallen ist, wie Prof. Tjaden solche Aussagen über den TikTok-Algorithmus treffen kann.

Es gibt eine ganz andere, naheliegende Begründung für den Erfolg der AfD in sozialen Medien. Die Partei hat schlicht sehr viel früher und sehr viel professioneller auf diese Kommunikationsform gesetzt und auch Geld investiert. Es braucht gar keine großen Untersuchungen und Netzwerkanalysen, um festzustellen: Die AfD im Bundestag hat auf TikTok 563.300 Follower, die SPD-Fraktion 159.700 Abonnenten und die Grünen klägliche 24.000. Schaut man sich diese Relationen an, können Sozialdemokraten und Grüne fast schon froh sein, dass sie auf der Plattform in dem Maße ausgespielt werden, wie das derzeit geschieht.