Top-NRA-Rating für den Kandidaten der Demokraten
USA: Ein Abtreibungsgegner und Waffen-Freund in Texas ist erste Wahl für die "linke" Partei. Das Establishment der Demokraten lernt nichts hinzu?
Die Vorhersage von US-Wahlergebnissen ist sowohl eine nationale mediale Obsession als auch eine ungenaue Wissenschaft. Die Hochrechnungs-Experten mussten sich nach der Präsidentschaftswahl 2016 eingestehen, dass ihre Vorhersagen nicht zwingend mögliche Wahlergebnisse darstellen. Zuletzt waren US-Politik-Experten besonders über die knappe Senatsmehrheit der Demokraten in den letzten Präsidentschaftswahlen überrascht.
Ebendiese Mehrheitsverhältnisse wurden immer wieder für die eingeschränkte Regierungsfähigkeit der Biden-Administration verantwortlich gemacht. Nun weisen alle Vorhersagen auf eine Niederlage der Demokraten im Senat und im Repräsentantenhaus bei den anstehenden Halbzeitwahlen ("Midterm-Elections") Anfang November hin.
Kein Wunder, war doch Präsident Bidens Amtszeit bisher von Stillstand geprägt. Das war und ist nicht unbedingt die Schuld des Präsidenten, sondern vornehmlich die seiner Parteikolleg:innen, die seinen "Build Back Better"-Plan sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus blockierten.
Ob die Demokraten von ihren Fehlern lernen, bleibt abzuwarten, allerdings zeigen die parteiinternen Vorwahlen gerade, dass die Wählerschaft die Rolle einiger Hauptverantwortlicher in der Reform-Blockade nicht vergessen hat. Eine Gruppe von Demokraten, die sich um den Abgeordneten Josh Gottheimer aus New Jersey organisiert hatte, war letzten Sommer maßgeblich daran beteiligt, die innenpolitische Agenda von Präsident Joe Biden zum Scheitern zu bringen.
Die "unzerbrechlichen Neun"
Die als "Unbreakable Nine" bezeichnete Gruppe sabotierte erfolgreich den "Build Back Better Act", indem sie den Gesetzentwurf von einem überparteilichen Infrastrukturgesetz abkoppelten.
Bidens Budgetentwurf sah vor, die durch ökonomische und soziale Reformen entstanden Mehrkosten durch eine höhere Besteuerung der Superreichen und des Privateigentums zu refinanzieren.
Joe Bidens Administration (27 Bilder)
Das rief die "Dark Money Non-Profit Group" namens "No Lables" auf den Plan, die hauptsächlich ein Problem mit dem Teil des Gesetzesentwurfes zu haben scheint, der sich gegen die finanziellen Interessen der Superreichen richtet.
Die neun Kongressabgeordneten stellten sich prompt in den Dienst von "No Lables" und behaupteten frech, "Build Back Better" im Grunde retten zu wollen, nur eben mit einer Version, die den Interessen ihrer Klienten entspricht. Diese politischen Manöver der Selbstblockade im Namen einer anonymen Lobby und von Interessengruppen ist in der Demokratischen Partei nichts Besonderes, man denke nur an die Rollen, die Joe Manchin und Kyrsten Sinema in diesem Zusammenhang im Senat gespielt haben.
Die Quittung
In den Vorwahlen scheint die Gruppe nun die Quittung zu erhalten. Schon vor Dienstagabend waren drei der neun Abgeordneten in Vorwahlen ausgeschieden. Ein Vierter im Bunde, der texanische Demokrat Filemon Vela, kündigte schon letztes Jahr an, dass er sich am Ende seiner Amtszeit aus dem Kongress zurückziehen wolle. Er verließ bereits Anfang März das Repräsentantenhaus, um für die größten Anwalts- und Unternehmenslobbyisten Washingtons, Akin Gump, zu arbeiten.
Am Dienstag unterlag ein weiteres Mitglied der "Unbreakable Nine", die Abgeordnete Carolyn Bourdeaux, dem Abgeordneten Lucy McBath in Georgia, in einem Wahlkampf, den es ohne die ständige Neuziehung der Wahlkreise gar nicht gegeben hätte.
Die Woche zuvor wurde der als "Joe Manchin des Repräsentantenhauses" bekannte Kurt Schrader in den Vorwahlen in Oregon von seiner progressiven Herausforderin Jamie McLeod-Skinner geschlagen. An finanzieller Unterstützung hatte es dem "Zentristen" eigentlich nicht gemangelt, hatte er doch von zwei "Super-PACS", eines davon im Dienste der Pharmazie-Industrie, mehrerer Millionen für seinen Wahlkampf kassiert.
Ein großer Teil der sonst so vorsichtigen liberalen Wählerschaft scheint die schamlosesten Vertreter:innen von Finanz- und Wirtschaftsinteressen nicht mehr für vertretbar zu halten und ihre progressiven Herausforderer profitieren von dieser Entwicklung. Es wäre allerdings falsch davon auszugehen, dass diese Sicht immer vom Parteiestablishment geteilt wird.
Henry Cuellar: "Top-NRA-Rating"
In einem Kopf-an-Kopf-Rennen, am Dienstagabend in Texas, besiegte der Abgeordnete Henry Cuellar seine Herausforderin Jessica Cisneros um Haaresbreite. Das Demokratische Parteiestablishment, allen voran Nancy Pelosi, hatte den umstrittenen Amtsinhaber bis zuletzt unterstützt.
Cuellar ist ein erklärter Abtreibungsgegner und das in Zeiten, in denen Roe v. Wade bald Geschichte sein dürfte. Besonders konservative Staaten wie Cuellars Bundesstaat Texas dürften in naher Zukunft nicht nur versuchen, Abtreibungen zu illegalisieren, sondern auch unter drakonische Strafen zu stellen.
Pelosi und andere distanzierten sich kurzzeitig vom "König von Laredo", nachdem Cuellars Haus vom FBI durchsucht worden war. Die Razzia stand Berichten zufolge mit einer bundesweiten Untersuchung von Wahlkampfspenden aus Aserbaidschan in Verbindung.
Als wäre das nicht genug, ist Cuellar der einzige Abgeordnete der Demokraten, dem die NRA (National Rifle Association of America) die zweifelhafte Ehre eines A-Ratings zukommen lässt. Ein Aushängeschild, welches nach einem Massaker, wie es am Dienstag in einer Grundschule in Texas stattgefunden hat und bei dem 19 Kinder hingerichtet wurden, geradezu geschmacklos anmutet.
Perverserweise sind es genau diese Eigenschaften: ein "Top-NRA-Rating" und eine Anti-Abtreibungshaltung, welche die Partei-Oberen wie den Mehrheitsführer des Repräsentantenhauses, Jim Clyburn, und "Speaker of the House", Nancy Pelosi, davon überzeugt haben dürften, dass Cuellar für Texas der richtige Kandidat ist.
Die Vorwahlrunde war allerdings eine dermaßen knappe Angelegenheit, dass man getrost davon ausgehen kann, dass Cuellar ohne den Beistand der Parteiführung und die Unterstützung des LinkedIn-Milliardärs Reid Hoffman das Rennen gegen die progressive Demokratin Jessica Cisneros verloren hätte. Auch gehört Henry Cuellar zu ebendieser Gruppe, bestehend aus neun Abgeordneten und zwei Senator:innen, die Präsident Bidens Reformen im Weg stehen.
Den linken Parteiflügel kleinhalten
Es geht der Parteiführung der Demokraten also weniger darum, einen besonders wählbaren Kandidat:in für Texas aufzustellen, als vielmehr darum, weiterhin den "linken" Flügel der eigenen Partei möglichst kleinzuhalten.
Schlimmer noch, die Autoritäten des Demokratischen Partei-Apparates halten eine weitere progressive Stimme für gefährlicher als einen Abgeordneten, der nicht nur nicht ihren angeblichen Werten entspricht und gegen den das FBI ermittelt, sondern der auch schlicht die Umsetzung der politischen Agenda des demokratischen Präsidenten behindert.
Dass der daraus resultierende politische Stillstand ihnen im November die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses kosten wird, scheint die Parteiführung nicht zu interessieren. Die Wählerschaft der Demokraten hat vielleicht dazu gelernt, das Parteiestablishment nicht.