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Türkei: Ist die Militäroperation "Adlerklaue" die nächste Annexion?

Archivbild: ANF

Die Operation im Nordirak soll angeblich PKK-Nester bekämpfen, um die Partei zu eliminieren. Das ist ein Trugschluss. Kommentar

Am 15. Juni startete die türkische Regierung ihre nächste Militäroperationen im Nordirak. Die konservative kurdische Regionalregierung im Nordirak lässt sie gewähren, denn sie ist wirtschaftlich zu 90% von der Türkei abhängig. Mit diesem Faustpfand versucht die Türkei, das kurdische Volk zu spalten. Die Kurden in Nordsyrien dagegen versuchen gerade ihre ideologischen Differenzen zu überwinden und sich zu versöhnen.

Wie wir in den letzten Jahren in Nordsyrien verfolgen konnten, enden die Militäroperationen der Türkei letztlich mit einer de-facto-Annexion. Die angestammte, meist kurdische, ezidische (jesidische) oder christliche Bevölkerung wird vertrieben. Von der Türkei finanzierte islamistische Milizen besetzen das Gebiet, plündern, morden und vergewaltigen.

Danach beginnt das "Aufbauprogramm": an Schulen wird Türkisch eingeführt, türkische Anbieter übernehmen die Telekommunikation, die türkische Lira wird als Währung eingeführt. Der staatliche Wohnungsbaukonzern "Toki" baut Wohnsilos für die anzusiedelnden Islamisten und deren Familien.

Von diesen "ethnisch gesäuberten" Gebieten aus kann die Türkei dann ihre islamistischen Söldner umso leichter für Sabotageaktionen in den restlichen kurdischen Gebieten einsetzen ohne mit eigenen Soldaten in Aktion treten zu müssen: Anzünden von Feldern, Wassersperrungen für das Gebiet der Selbstverwaltung, Anschläge auf Politikerinnen und Politiker der Selbstverwaltung usw..

Die Türkei begründet ihre völkerrechtswidrigen Interventionen stets mit der Sicherung ihrer Grenzen und einer konstruierten Bedrohung durch die kurdische Bevölkerung, wie in Syrien z.B in Afrin, Sere Kaniye, Gire Spi, also den ehemals unter demokratischer Selbstverwaltung stehenden Gebieten. Dabei wird genauso wie in der Türkei bei der Auseinandersetzung mit der prokurdischen Partei HDP immer wieder das Framing "PKK" herangezogen. So werden Feindbilder konstruiert und international propagiert, die sich bekanntermaßen auch in den Köpfen hiesiger Journalisten und Politiker festgesetzt haben.

Die PKK ist eine Akteurin im Nahen Osten, die sich für die sogenannte "kurdische Frage" einsetzt - u.a. mit ihrer Guerilla-Armee. Ähnlich hat früher auch der ANC in Südafrika gegen die Apartheit agiert. Anders wäre auch in Südafrika die Vorherrschaft einer weißen Herrenkaste nicht beseitigt worden. Nur nach jahrelangem bewaffneten Kampf des ANC konnte Nelson Mandela, nach Jahren in der Isolationshaft, Präsident von Südafrika werden.

Das kurdische Volk, und das sollte endlich international akzeptiert werden, hat ein Recht auf die eigene Sprache, Kultur und politische Repräsentanz, egal in welchem Teil Kurdistans es lebt: ob in der Türkei, in Syrien, im Irak oder im Iran. Wenn Staaten diese Minderheit zwangsweise assimilieren und ihr quasi ein Politikverbot auferlegen, ist es nicht verwunderlich, dass sich eine militante Gegenbewegung entwickelt.

Andere Optionen gibt es dann ja nicht mehr. Es gab sie einmal, aber Erdogan hat diese Option verworfen, als er begann die Politiker der prokurdischen Partei HDP zuerst aus dem türkischen Parlament und dann ins Gefängnis zu werfen. Gleiches geschah auch mit inzwischen fast allen frei gewählten HDP-Bürgermeistern der kurdischen Städte.

Es wird immer wieder kolportiert, die Türkei sei nicht kurdenfeindlich, schließlich sei ja sogar der Geheimdienstchef Hakan Fidan Kurde. Aber niemand weist darauf hin, dass es sich dabei um vollständig assimilierte Kurden handelt, weil seit Kemal Atatürk gilt, dass nur ein assimilierter Kurde ein guter Kurde ist, der andere ist "Terrorist".

Die Operation "Adlerklaue" im Nordirak

Der Name sagt alles: Es geht bei dieser Operation darum, die PKK-Stützpunkte in den Bergen zum Grenzgebiet zur Türkei und dem Irak zu erobern. Der Adler hat sein Nest in den Berggipfeln und kontrolliert sein Jagdrevier. Das will die Türkei im Südosten der Türkei wie auch im Nordirak erreichen - in dem Gebiet, wo die PKK ihre Stützpunkte hat. Erdogan ist geleitet von dem Gedanken, wenn er die PKK eliminieren kann, dann hat er die Kontrolle über die Kurdenfrage.

Aber das ist ein Trugschluss. Denn die PKK ist eine Folge der Unterdrückung des kurdischen Volkes durch sämtliche türkische Regierungen seit der Republikgründung. Die Kurdenfrage kann nicht militärisch gelöst werden, das hätten die letzten 40 Jahre gezeigt, sagt die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Ulla Jelpke [1]. Sie verurteilte die Luftangriffe der Türkei mit dem Hinweis:

"Das Flüchtlingslager Mexmûr und die jesidischen Siedlungsgebiete in Şengal waren Hauptangriffsziele der von der Türkei immer wieder unterstützten Terrororganisation IS. Dass nun die Türkei diese Ziele ebenfalls bombardiert, macht die türkische Armee de facto zur Luftwaffe des IS..."

Jelpke fordert Friedensverhandlungen; eine politische Lösung müsse gefunden werden, sonst "wird sich dieser Krieg noch Jahrzehnte hinziehen und weiteres unsägliches Leid verursachen".

Im Nordirak herrscht im Gegensatz zu Nordsyrien die tribale, konservative Stammeskultur des Barzani-Clans. Er steht in Opposition zu demokratischen Bewegungen in seinem Herrschaftsgebiet und empfindet deswegen die demokratischen Bemühungen seiner kurdischen Nachbarn in Nordsyrien ebenfalls als Bedrohung.

Er sorgt sich, dass die eigene kurdische Bevölkerung ebenfalls eine Reformierung des feudalistischen Systems fordert. Dort wächst mit der schwierigeren ökonomischen Lage und wegen Korruption und Klientelismus die Kritik an der Regionalregierung. Die Abhängigkeit von der Türkei wird dort zunehmend als Problem gesehen. Und die Zustimmung zur PKK in der nordirakischen kurdischen Bevölkerung nimmt zu. So ist es kein Wunder, dass Barzani die Türkei gewähren lässt und die PKK auffordert, die Region zu verlassen.

Auch wenn die türkischen Regierungsmedien behaupten, sie würden nur "Terroristen" angreifen, trafen die Luftangriffe auf die Umgebung des Flüchtlingslagers Mexmûr und die Şengal-Region seit dem 15. Juni überwiegend Zivilisten. Auch ein Angriff auf den Erholungsort Kuna Masi, 300 km von der türkischen Grenze entfernt, traf überwiegend Zivilisten. Eine türkische Kampfdrohne bombardierte in diesem Ort im Einflussbereich der PUK, der Partei des Talabani-Clans, einen Kiosk, in dem ein mutmaßliches Mitglied der iranischen-kurdischen oppositionellen Organisation PJAK starb, der Mann hatte dort eingekauft.

Gleichzeitig wurden dabei sechs Zivilisten verletzt: die Frau des Kioskbesitzers verlor ein Bein und das fünfjährige Kind der Familie hat einen Metallsplitter im Gehirn, der nicht entfernt werden kann. Alles Terroristen?

Das ist nur ein Beispiel von türkischen Angriffen, die sich gegenwärtig im Nordirak ereignen. In der nordirakischen Bergregion Haftanin entlang der türkisch-irakischen Grenze will die Türkei eine "Pufferzone" [2] schaffen, um der PKK die Verbindungswege in die Türkei, nach Syrien und in den Iran abzuschneiden. Nach Meinung der Zeitung Rudaw [3] wird die Türkei im Gegensatz zu früheren Operationen nicht nur temporär in der Region bleiben.

Alle befürchten, dass die türkischen Truppen dauerhaft stationiert bleiben und das Gebiet annektieren. Der türkische Verteidigungsminister Akar frohlockte [4]: "Unsere Gebirgsjäger und unser Heer werden ein neues goldenes Kapitel ihrer Geschichte schreiben". Allerdings stoßen die von Hubschraubern abgesetzten Kommandoeinheiten auf unerwartet heftigen Widerstand der kurdischen Guerilla, während die nordirakischen Peschmerga gar nicht erst den Versuch machten, sich der türkischen Armee entgegen zu stellen, um ihre Bevölkerung zu schützen [5].

Sechs türkische Cobra-Kampfhubschrauber seien getroffen worden und über hundert türkische Soldaten in den letzten zwei Wochen gestorben, heißt es aus PKK-Kreisen. In den türkischen Medien wird dagegen von "Unfällen" gesprochen, bei denen Soldaten zu Tode kamen [6].

Die Barsani-nahe Zeitung Rudaw berichtet [7] von inzwischen 24 türkischen Militärbasen auf irakischem Territorium. In den letzten zwei Wochen kamen 12 neue Militärposten hinzu, allein fünf nahe der Dörfer Sharanish und Banka. Weiter wird berichtet, dass die "Bevölkerung von insgesamt 21 Dörfern vor den Türken geflohen ist". Jewish Press [8] spricht hingegen von 60 besetzten Dörfern durch türkische Truppen.

Empörte Bevölkerung

Die Bevölkerung in der Region ist empört: Anstatt dass sie vor den Türken geschützt werden, nachdem fünf Zivilisten bei den Luftangriffen getötet wurden, schützen die Peschmerga die schon länger bestehenden türkischen Militärstützpunkte auf grenznahem irakisch-kurdischen Territorium. Wieder werden neue Binnenflüchtlinge durch die Türkei produziert, dabei leben im Irak nach wie vor hunderttausende Menschen in Flüchtlingslagern unter prekären Bedingungen.

Während die westliche Welt schweigt, meldet sich die Arabische Liga zu Wort [9]. Der Generalsekretär der Liga, Ahmad Abu al Ghaith, bezeichnete die türkische Behauptung, die Angriffe richteten sich gegen die PKK, als Vorwand und verurteilte die Militäroperation als "Verletzung der Souveränität des Irak". Die Angriffe seien ohne Absprache mit Bagdad erfolgt und hätten aus diesem Grund "internationales Recht" verletzt. In einer Stellungnahme der Liga, der 22 arabische Staaten angehören, die aber viel von ihrem früheren Einfluss eingebüßt hat, heißt es:

Die militärischen Interventionen der Türkei in arabischen Staaten wie Syrien, Libyen und dem Irak werden von allen arabischen Staaten verurteilt und machen die expansionistischen Ambitionen der Türkei deutlich.

Arabische Liga

Die irakische Zentralregierung in Bagdad sowie das Einsatzkommando der irakischen Streitkräfte (JOC) verurteilte die Angriffe als Verletzung der Souveränität des Iraks. Eine Mahnung der kurdischen Regionalregierung, die Türkei möge die Souveränität des Landes achten, erfolgte erst zwei Wochen später.

Das ist nicht verwunderlich: Die konservative Barzani-Partei KDP, die in der Regionalregierung die Mehrheit hat, ist wirtschaftlich und politisch eng mit der Türkei verbunden. Angesichts der schwierigen ökonomischen Lage kann sie nicht riskieren, dass die Türkei ihr den Waren- und Wasserhahn zudreht. Das nämlich hatte die türkische Regierung bei Meinungsverschiedenheiten mit der KDP schon öfter angedroht.

Erdogans hoffnungsloser Kampf gegen die PKK

1978 wurde die kurdische Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei gegründet. Sie verstand sich als Antwort auf die fortdauernde Diskriminierung und Unterdrückung des kurdischen Volkes. "Die Türkei hat Kurd*innen schon bombardiert, getötet und vergast, da gab es noch lange keine PKK", schreibt die taz [10].

Erinnert sei hier an das Dersim-Massaker 1937/38. Der Aufstand wandte sich wie die anderen zuvor gegen die Verleugnungs- und Assimilierungspolitik Atatürks. In einem Schreiben vom 30. Juli 1937 rief Seyid Riza, ein Anführer des Dersim-Aufstandes, den britischen Außenminister zu Hilfe:

Seit Jahren versucht die türkische Regierung, die kurdische Bevölkerung zu assimilieren, indem sie sie unterdrückt. Sie verbietet, ihre Zeitungen und Bücher in kurdischer Sprache zu lesen, verfolgt jene, die ihre Muttersprache sprechen und organisiert so die systematische Vertreibung von den fruchtbaren kurdischen Ländern in das unkultivierte Anatolien, wo ein großer Teil der Flüchtlinge umkommt. Drei Millionen Kurden leben in diesem Land und bitten nur darum, in Frieden und Freiheit leben zu können, um ihr Volk, ihre Sprache, ihre Traditionen und Zivilisation zu erhalten. Im Namen des kurdischen Volkes bitte ich Eure Exzellenz, das kurdische Volk mit Ihrem großen moralischen Einfluss zu unterstützen, damit diese grause Ungerechtigkeit bald ein Ende hat.

Aus: Brauns, Nikolaus; Kiechle, Brigitte 2010: PKK - Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam

Eine Reaktion blieb aus. Stattdessen wurden Hunderttausende Kurden deportiert, Tausende ermordet. Mit den übriggebliebenen kurdischen Stammesfürsten und Großgrundbesitzern ging der Staat - unter der Bedingung der Verleugnung der kurdischen Identität - ein Bündnis ein, auf das sich die Kurdenpolitik der Türkei bis heute stützt:

Entweder ihr verzichtet vollkommen auf das Kurdentum, streitet ab, dass ihr Kurden seid und werdet zu Türken, oder ihre werdet wie Scheich Said oder Seyid Riza und andere am Galgen enden. Eine dritte Möglichkeit wird es nicht geben. Ihr müsst wissen, daß es keine andere Möglichkeit gibt, um am Leben zu bleiben, als Türken zu werden.

Besikci, Kurdistan. Internationale Kolonie

Letztendlich ist die Existenz der PKK und die kurdische Frage in ihrer heutigen Form das Ergebnis der von den Großmächten betriebenen Aufteilung des Nahen- und Mittleren Ostens nach dem Ersten Weltkrieg. Der türkische Soziologe Ismail Besikci schreibt in seinem Buch "Kurdistan. Internationale Kolonie", der politische Status Kurdistans und des kurdischen Volkes befände sich sehr weit unter dem einer Kolonie.

Die Existenz der Kurden wurde einfach verleugnet. Klassische Kolonien hätten noch einen Status als Kolonien gehabt und konnten im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialismus ihre staatliche Unabhängigkeit erlangen. Von der Forderung nach einem eigenen, unabhängigen Staat hat sich die PKK, im Gegensatz zur Autonomieregierung Barzanis im Nordirak längst verabschiedet.

In den 1960er/70er Jahren gab es in der Türkei zahlreiche linke türkische Organisationen mit unterschiedlichen Ideologien, die um die Gunst der Arbeiter und Arbeiterinnen konkurrierten. Schon zu dieser Zeit setzte wegen unzureichender Verdienstmöglichkeiten eine Landflucht in die türkischen Metropolen ein.

Viele kurdische Familien ließen sich in den Elendsvierteln, den Gecekondus, am Rand der Städte nieder. Es war eine Zeit der politischen Diskussionen, an denen die Kurden kaum partizipieren konnten weil sie teilweise der türkischen Sprache kaum mächtig waren oder von den türkischen linken Gruppen ebenfalls abschätzig behandelt wurden.

Wenn es um Minderheitenrechte ging, wurde abgewunken - ein zu vernachlässigender Nebenwiderspruch. Dies alles führte letztendlich zur Gründung der PKK. Der Staat reagierte mit besonderer Härte und betrachtete diejenigen Kurden, die Minderheitenrechte forderten, als Separatisten. Anfangs versuchte die PKK in den Städten noch, sich über die politische Beteiligung bei türkischen linken Organisationen Gehör zu verschaffen.

In den ländlichen Regionen organisierte die Gruppe zusammen mit den Bauern Landbesetzungen gegen die Großgrundbesitzer und gewann daher bei den Bauern schnell an Ansehen. Im Dezember 1978 ereignete sich das Massaker der türkischen Faschisten an den kurdischen Aleviten in der Stadt Maraş, bei dem 110 alevitische Kurden getötet wurden. Der türkische Staat sah dem Massaker zunächst tatenlos zu um dies dann als Vorwand zu nehmen, das Kriegsrecht über die gesamte Türkei zu verhängen. Durch diese Ereignisse bekam die frisch gegründete PKK starken Zulauf.

Die zunehmende Gewalt gegen Kurden führte dann zur Gründung einer Guerillaeinheit als militärischer Arm der kurdischen Arbeiterpartei. Ungefähr 1984 begann der bewaffnete Kampf der PKK als Antwort auf willkürliche Verhaftungen, Folter und Demütigungen. Mehr als 40.000 Menschen wurden seitdem bei den Auseinandersetzungen zwischen Militär und Guerilla getötet, darunter viele Zivilisten [11].

Fälschlicherweise werden die 40.000 Toten vom türkischen Staat und seinen Anhängern einseitig der PKK zugeschrieben. Dabei dürfte der größte Teil der Toten auf das Konto des Staates gehen. 1985 führte die Regierung das Dorfschützer-System in den kurdischen Gebieten vom Staat ein. Kurdische Stämme, die regierungstreuen Großgrundbesitzern unterstanden, wurden vom Staat finanziert und bewaffnet. Sie sollten vor allem Stützpunkte der PKK mitteilen und gegen sie kämpfen.

Dörfer und Stämme, die dies ablehnten, wurden vom Militär gewaltsam geräumt. Zwischen 1988 und 1999 wurden so 5000 Dörfer vom türkischen Militär niedergebrannt, tausende Männer und Frauen wurden Opfer des "Verschwinden lassen" durch die Todesschwadrone JITEM, über zwei Millionen Menschen vertrieben. Trauriges Zeugnis jener Jahre sind die "Samstagsmütter", die jeden Samstag auf Kundgebungen nach ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern fragen. Bei der Jagd nach PKK-Anhängern standen und stehen alle Kurden, Junge/Alte, Männer/Frauen, sogar Kinder und Babys unter Generalverdacht.

Seit 1984 führte die Türkei mehrere erfolglose Militäroperationen gegen das PKK-Hauptquartier in den nordirakischen Qandilbergen im Dreiländereck Türkei-Irak-Iran durch. Die erste Operation, ,Sandwich" genannt, startete im September 1992. Im März 1995 führte sie die Operation "Stahl" in den Regionen Haftanin und Kirkuk durch. Im Mai 1997 folgte die Operation "Hammer" [12].

Alle Angriffe der Türkei führten nicht zum gewünschten Ergebnis, beide Seiten hatten zahlreiche Opfer zu beklagen - besiegt war die PKK jedoch nicht. Man kann es nicht oft genug sagen: jeder Tote, egal auf welcher Seite, ist in diesem sinnlosen, von keiner Seite zu gewinnenden Krieg, ein Toter zu viel.

Türkei setzt auf Spaltung der Kurden

Der Türkei-Experte Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul vermutet noch andere Gründe als gegen die PKK vorzugehen hinter der Operation "Adlerklaue". Nach den Annäherungen zwischen den verfeindeten kurdischen Lagern in Nord- und Ostsyrien, dem demokratischen Syrienrat (MSD) und dem Oppositionsbündnis "Syrische Nationalversammlung" mit Sitz in Madrid ist der sogenannte "Syrische Nationalrat" mit Sitz in Istanbul (auch bekannt unter ETILAF) weitgehend isoliert. ETILAF wird weitgehend von Muslimbrüdern und der türkischen Regierung dominiert.

Im Juni deklarierte nun nach langen Verhandlungen der MSD die Vereinigung mit dem Oppositionsbündnis "Syrische Nationalversammlung". Amir Zaidan, Vize-Präsident der Syrischen Nationalversammlung, erklärte [13], der Beitritt zum MSD solle "den politischen Übergang von einem System der Tyrannei und Diktatur zu einem von allen Syrern geteilten demokratischen System mit gleichen Rechten und Pflichten sicherstellen".

Der demokratische Syrienrat (MSD) wolle auch gute Beziehungen zu den Nachbarstaaten auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt schaffen, sagte der Ko-Vorsitzende Riyad Derar vom MSD. Das bringt nun die türkische Regierung wie auch die Barzani-Partei KDP in Bedrängnis.

Denn die demokratische Selbstverwaltung geht noch einen Schritt weiter und versucht auch die in Syrien vertretene Barsani-Partei KDP-S wie auch das konservative, von der Türkei instrumentalisierte Bündnis "Kurdischer Nationalrat" (ENKS) in den innerkurdischen Versöhnungsprozess miteinzubeziehen.

Unter der Schirmherrschaft und mit Unterstützung des stellvertretenden US-Sondergesandten für die Internationale Koalition, William V. Roebuck, sowie dem Generalkommandanten der Demokratischen Kräfte Syriens, Mazlum Abdi Kobane, fanden erste Gespräche statt [14]. Ein erstes Ergebnis ist, im Sinne des im Oktober 2014 geschlossenen Abkommens von Dohuk den Dialog fortzusetzen, sich an den Selbstverwaltungsgremien und der Landesverteidigung zu beteiligen.

Mittlerweile haben sich 25 Parteien und Organisationen dem innerkurdischen Einigungsprozess angeschlossen und den Verband "Parteien der geeinten Nation Kurdistan" (PYNK) gegründet [15]. Da auch die Barzani-Partei KDP-S Teil des ENKS ist, dürfte es für Barzani schwierig sein, das Embargo gegen Nordsyrien aufrechtzuerhalten.

Andererseits ist da noch die wirtschaftliche Abhängigkeit von der Türkei und die politische Nähe von Präsident Necirvan Barzani. Von dem innerkurdischen Zwist konnte die Türkei bislang profitieren und die Barzani-Partei mit ihren Peschmergas für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Daher könnte die Operation "Adlerklaue" auch eine Warnung an die Barzanis und Talabanis sein, sich nicht mit den syrischen Kurden zu verbinden, die Erdogan mit der PKK gleichsetzt. Denn sind die Regionen Haftanin und die anderen angestrebten Regionen erst einmal vom türkischen Militär besetzt, ist es nur ein Katzensprung nach Erbil, der Hauptstadt und dem Regierungssitz der autonomen Region Nordirak.


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[1] https://anfdeutsch.com/aktuelles/jelpke-tuerkei-ist-de-facto-die-luftwaffe-des-is-19794
[2] https://www.rudaw.net/english/opinion/31082019
[3] https://www.rudaw.net/english/opinion/31082019
[4] https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-kampf-gegen-die-pkk-im-nordirak-a-37f976fd-8dc1-4717-8f06-5cfbeff04fe1
[5] https://www.jungewelt.de/artikel/381370.kurdistan-stockender-einmarsch.html?fbclid=IwAR1DSDPKOyg6PHOKhdZwPMAVISidp6FGSVsljabVB5qRGt235kzP5T79zVA
[6] https://anfdeutsch.com/kurdistan/hier-ist-heftanin-20168
[7] https://www.rudaw.net/english/kurdistan/02072020
[8] https://www.jewishpress.com/multimedia/radio/israel-news-talk-radio/beyond-the-matrix/a-good-kurd-is-a-dead-kurd-according-to-erdogan-beyond-the-matrix-audio/2020/07/02/?fbclid=IwAR0QqtDugffJsLRwA7eLIKTN32XafXKOlYhWZJPuviI81GAoPgyPh3J8Zew
[9] https://anfdeutsch.com/aktuelles/arabische-liga-protestiert-gegen-angriffe-19818?fbclid=IwAR1hWVfyfubWoItBObBhXUsQ6cHZ9c8BNiqWm6tMCnk6ZJOSsDWB6Hp-3yQ
[10] https://taz.de/Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden/!5692931/
[11] https://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/185907/der-kurdenkonflikt
[12] https://www.rudaw.net/english/opinion/31082019
[13] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/syrisches-oppositionsbuendnis-und-msd-vereinen-sich-19889
[14] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/kurdische-parteien-in-syrien-erzielen-erste-einigung-19849
[15] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/verband-zur-staerkung-der-kurdischen-einheit-gegruendet-19265