Türkei: Ist die Militäroperation "Adlerklaue" die nächste Annexion?
- Türkei: Ist die Militäroperation "Adlerklaue" die nächste Annexion?
- Erdogans hoffnungsloser Kampf gegen die PKK
- Auf einer Seite lesen
Die Operation im Nordirak soll angeblich PKK-Nester bekämpfen, um die Partei zu eliminieren. Das ist ein Trugschluss. Kommentar
Am 15. Juni startete die türkische Regierung ihre nächste Militäroperationen im Nordirak. Die konservative kurdische Regionalregierung im Nordirak lässt sie gewähren, denn sie ist wirtschaftlich zu 90% von der Türkei abhängig. Mit diesem Faustpfand versucht die Türkei, das kurdische Volk zu spalten. Die Kurden in Nordsyrien dagegen versuchen gerade ihre ideologischen Differenzen zu überwinden und sich zu versöhnen.
Wie wir in den letzten Jahren in Nordsyrien verfolgen konnten, enden die Militäroperationen der Türkei letztlich mit einer de-facto-Annexion. Die angestammte, meist kurdische, ezidische (jesidische) oder christliche Bevölkerung wird vertrieben. Von der Türkei finanzierte islamistische Milizen besetzen das Gebiet, plündern, morden und vergewaltigen.
Danach beginnt das "Aufbauprogramm": an Schulen wird Türkisch eingeführt, türkische Anbieter übernehmen die Telekommunikation, die türkische Lira wird als Währung eingeführt. Der staatliche Wohnungsbaukonzern "Toki" baut Wohnsilos für die anzusiedelnden Islamisten und deren Familien.
Von diesen "ethnisch gesäuberten" Gebieten aus kann die Türkei dann ihre islamistischen Söldner umso leichter für Sabotageaktionen in den restlichen kurdischen Gebieten einsetzen ohne mit eigenen Soldaten in Aktion treten zu müssen: Anzünden von Feldern, Wassersperrungen für das Gebiet der Selbstverwaltung, Anschläge auf Politikerinnen und Politiker der Selbstverwaltung usw..
Die Türkei begründet ihre völkerrechtswidrigen Interventionen stets mit der Sicherung ihrer Grenzen und einer konstruierten Bedrohung durch die kurdische Bevölkerung, wie in Syrien z.B in Afrin, Sere Kaniye, Gire Spi, also den ehemals unter demokratischer Selbstverwaltung stehenden Gebieten. Dabei wird genauso wie in der Türkei bei der Auseinandersetzung mit der prokurdischen Partei HDP immer wieder das Framing "PKK" herangezogen. So werden Feindbilder konstruiert und international propagiert, die sich bekanntermaßen auch in den Köpfen hiesiger Journalisten und Politiker festgesetzt haben.
Die PKK ist eine Akteurin im Nahen Osten, die sich für die sogenannte "kurdische Frage" einsetzt - u.a. mit ihrer Guerilla-Armee. Ähnlich hat früher auch der ANC in Südafrika gegen die Apartheit agiert. Anders wäre auch in Südafrika die Vorherrschaft einer weißen Herrenkaste nicht beseitigt worden. Nur nach jahrelangem bewaffneten Kampf des ANC konnte Nelson Mandela, nach Jahren in der Isolationshaft, Präsident von Südafrika werden.
Das kurdische Volk, und das sollte endlich international akzeptiert werden, hat ein Recht auf die eigene Sprache, Kultur und politische Repräsentanz, egal in welchem Teil Kurdistans es lebt: ob in der Türkei, in Syrien, im Irak oder im Iran. Wenn Staaten diese Minderheit zwangsweise assimilieren und ihr quasi ein Politikverbot auferlegen, ist es nicht verwunderlich, dass sich eine militante Gegenbewegung entwickelt.
Andere Optionen gibt es dann ja nicht mehr. Es gab sie einmal, aber Erdogan hat diese Option verworfen, als er begann die Politiker der prokurdischen Partei HDP zuerst aus dem türkischen Parlament und dann ins Gefängnis zu werfen. Gleiches geschah auch mit inzwischen fast allen frei gewählten HDP-Bürgermeistern der kurdischen Städte.
Es wird immer wieder kolportiert, die Türkei sei nicht kurdenfeindlich, schließlich sei ja sogar der Geheimdienstchef Hakan Fidan Kurde. Aber niemand weist darauf hin, dass es sich dabei um vollständig assimilierte Kurden handelt, weil seit Kemal Atatürk gilt, dass nur ein assimilierter Kurde ein guter Kurde ist, der andere ist "Terrorist".
Die Operation "Adlerklaue" im Nordirak
Der Name sagt alles: Es geht bei dieser Operation darum, die PKK-Stützpunkte in den Bergen zum Grenzgebiet zur Türkei und dem Irak zu erobern. Der Adler hat sein Nest in den Berggipfeln und kontrolliert sein Jagdrevier. Das will die Türkei im Südosten der Türkei wie auch im Nordirak erreichen - in dem Gebiet, wo die PKK ihre Stützpunkte hat. Erdogan ist geleitet von dem Gedanken, wenn er die PKK eliminieren kann, dann hat er die Kontrolle über die Kurdenfrage.
Aber das ist ein Trugschluss. Denn die PKK ist eine Folge der Unterdrückung des kurdischen Volkes durch sämtliche türkische Regierungen seit der Republikgründung. Die Kurdenfrage kann nicht militärisch gelöst werden, das hätten die letzten 40 Jahre gezeigt, sagt die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Ulla Jelpke. Sie verurteilte die Luftangriffe der Türkei mit dem Hinweis:
"Das Flüchtlingslager Mexmûr und die jesidischen Siedlungsgebiete in Şengal waren Hauptangriffsziele der von der Türkei immer wieder unterstützten Terrororganisation IS. Dass nun die Türkei diese Ziele ebenfalls bombardiert, macht die türkische Armee de facto zur Luftwaffe des IS..."
Jelpke fordert Friedensverhandlungen; eine politische Lösung müsse gefunden werden, sonst "wird sich dieser Krieg noch Jahrzehnte hinziehen und weiteres unsägliches Leid verursachen".
Im Nordirak herrscht im Gegensatz zu Nordsyrien die tribale, konservative Stammeskultur des Barzani-Clans. Er steht in Opposition zu demokratischen Bewegungen in seinem Herrschaftsgebiet und empfindet deswegen die demokratischen Bemühungen seiner kurdischen Nachbarn in Nordsyrien ebenfalls als Bedrohung.
Er sorgt sich, dass die eigene kurdische Bevölkerung ebenfalls eine Reformierung des feudalistischen Systems fordert. Dort wächst mit der schwierigeren ökonomischen Lage und wegen Korruption und Klientelismus die Kritik an der Regionalregierung. Die Abhängigkeit von der Türkei wird dort zunehmend als Problem gesehen. Und die Zustimmung zur PKK in der nordirakischen kurdischen Bevölkerung nimmt zu. So ist es kein Wunder, dass Barzani die Türkei gewähren lässt und die PKK auffordert, die Region zu verlassen.
Auch wenn die türkischen Regierungsmedien behaupten, sie würden nur "Terroristen" angreifen, trafen die Luftangriffe auf die Umgebung des Flüchtlingslagers Mexmûr und die Şengal-Region seit dem 15. Juni überwiegend Zivilisten. Auch ein Angriff auf den Erholungsort Kuna Masi, 300 km von der türkischen Grenze entfernt, traf überwiegend Zivilisten. Eine türkische Kampfdrohne bombardierte in diesem Ort im Einflussbereich der PUK, der Partei des Talabani-Clans, einen Kiosk, in dem ein mutmaßliches Mitglied der iranischen-kurdischen oppositionellen Organisation PJAK starb, der Mann hatte dort eingekauft.
Gleichzeitig wurden dabei sechs Zivilisten verletzt: die Frau des Kioskbesitzers verlor ein Bein und das fünfjährige Kind der Familie hat einen Metallsplitter im Gehirn, der nicht entfernt werden kann. Alles Terroristen?
Das ist nur ein Beispiel von türkischen Angriffen, die sich gegenwärtig im Nordirak ereignen. In der nordirakischen Bergregion Haftanin entlang der türkisch-irakischen Grenze will die Türkei eine "Pufferzone" schaffen, um der PKK die Verbindungswege in die Türkei, nach Syrien und in den Iran abzuschneiden. Nach Meinung der Zeitung Rudaw wird die Türkei im Gegensatz zu früheren Operationen nicht nur temporär in der Region bleiben.
Alle befürchten, dass die türkischen Truppen dauerhaft stationiert bleiben und das Gebiet annektieren. Der türkische Verteidigungsminister Akar frohlockte: "Unsere Gebirgsjäger und unser Heer werden ein neues goldenes Kapitel ihrer Geschichte schreiben". Allerdings stoßen die von Hubschraubern abgesetzten Kommandoeinheiten auf unerwartet heftigen Widerstand der kurdischen Guerilla, während die nordirakischen Peschmerga gar nicht erst den Versuch machten, sich der türkischen Armee entgegen zu stellen, um ihre Bevölkerung zu schützen.
Sechs türkische Cobra-Kampfhubschrauber seien getroffen worden und über hundert türkische Soldaten in den letzten zwei Wochen gestorben, heißt es aus PKK-Kreisen. In den türkischen Medien wird dagegen von "Unfällen" gesprochen, bei denen Soldaten zu Tode kamen.
Die Barsani-nahe Zeitung Rudaw berichtet von inzwischen 24 türkischen Militärbasen auf irakischem Territorium. In den letzten zwei Wochen kamen 12 neue Militärposten hinzu, allein fünf nahe der Dörfer Sharanish und Banka. Weiter wird berichtet, dass die "Bevölkerung von insgesamt 21 Dörfern vor den Türken geflohen ist". Jewish Press spricht hingegen von 60 besetzten Dörfern durch türkische Truppen.
Empörte Bevölkerung
Die Bevölkerung in der Region ist empört: Anstatt dass sie vor den Türken geschützt werden, nachdem fünf Zivilisten bei den Luftangriffen getötet wurden, schützen die Peschmerga die schon länger bestehenden türkischen Militärstützpunkte auf grenznahem irakisch-kurdischen Territorium. Wieder werden neue Binnenflüchtlinge durch die Türkei produziert, dabei leben im Irak nach wie vor hunderttausende Menschen in Flüchtlingslagern unter prekären Bedingungen.
Während die westliche Welt schweigt, meldet sich die Arabische Liga zu Wort. Der Generalsekretär der Liga, Ahmad Abu al Ghaith, bezeichnete die türkische Behauptung, die Angriffe richteten sich gegen die PKK, als Vorwand und verurteilte die Militäroperation als "Verletzung der Souveränität des Irak". Die Angriffe seien ohne Absprache mit Bagdad erfolgt und hätten aus diesem Grund "internationales Recht" verletzt. In einer Stellungnahme der Liga, der 22 arabische Staaten angehören, die aber viel von ihrem früheren Einfluss eingebüßt hat, heißt es:
Die militärischen Interventionen der Türkei in arabischen Staaten wie Syrien, Libyen und dem Irak werden von allen arabischen Staaten verurteilt und machen die expansionistischen Ambitionen der Türkei deutlich.
Arabische Liga
Die irakische Zentralregierung in Bagdad sowie das Einsatzkommando der irakischen Streitkräfte (JOC) verurteilte die Angriffe als Verletzung der Souveränität des Iraks. Eine Mahnung der kurdischen Regionalregierung, die Türkei möge die Souveränität des Landes achten, erfolgte erst zwei Wochen später.
Das ist nicht verwunderlich: Die konservative Barzani-Partei KDP, die in der Regionalregierung die Mehrheit hat, ist wirtschaftlich und politisch eng mit der Türkei verbunden. Angesichts der schwierigen ökonomischen Lage kann sie nicht riskieren, dass die Türkei ihr den Waren- und Wasserhahn zudreht. Das nämlich hatte die türkische Regierung bei Meinungsverschiedenheiten mit der KDP schon öfter angedroht.