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Türkei-Syrien: Auf das tektonische Erdbeben folgt ein politisches

Viele Betroffene müssen aktuell bei eisigen Temperaturen in Zelten schlafen. Foto: Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V.

Die Katastrophe kam mit Ansage. Bauvorschriften wurden dennoch ignoriert, für den Erdbebenschutz gedachte Gelder sind nebulös versickert. Womöglich für militärische Zwecke.

Die Erdbebenkatastrophe in der Südosttürkei und Nordwestsyrien hat eine seit Jahrzehnten vernachlässigte Region getroffen. Inzwischen wurden mehr als 24.000 Todesopfer gezählt. Mehrere Beben ließen am vergangenen Montag tagsüber mehrere Hochhäuser wie Kartenhäuser zusammenfallen. Die türkische Provinz Hatay, wie auch die seit 2018 türkisch besetzten Gebiete in Nordwestsyrien, Afrin und Idlib, hat es besonders schwer getroffen.

Obwohl diese Region – wie auch Istanbul im Westen der Türkei – zu den am meisten von Erdbeben bedrohten Gebieten gehört, ist seit der Katastrophe im Großraum Istanbul 1999 wenig in Sachen Prävention wenig passiert.

Fehlende Kontrollen im Baubereich

Erdbeben an den Bruchkanten tektonischer Platten lassen sich nicht verhindern, wohl aber die verheerenden Ausmaße mit Zehntausenden Toten, Verletzten und Obdachlosen. Eigentlich gibt es Vorgaben in den Bauverordnungen, die Neubauten erdbebensicher machen sollen.

Doch durch das mafiöse Netzwerk der Regierungspartei AKP im Bausektor können Bauunternehmer bis heute Hochhäuser ohne behördliche Prüfung auf Erdbebensicherheit bauen. Einzig die Profitorientierung zählt, nicht die Sicherheit der Bevölkerung. Viele Menschen in der Türkei fragen sich jetzt, wo denn die Gelder der vor 20 Jahren erhobenen Erdbebensteuer geblieben sind – in den Häusern der Erdbebenregion stecken sie jedenfalls nicht.

Der Geowissenschaftler Prof. Dr. Naci Görür warnte mit anderen Wissenschaftlern schon seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in der Region. Wie er in einem Interview mit Fox TV [1] berichtete, hatte er zusammen mit anderen Wissenschaftlern ein Projekt zum Schutz der Bevölkerung in Bingöl, Elazığ, Malatya, Adıyaman und Maraş und zur Verhütung von Erdbebenopfern für die "ostanatolische Verwerfungslinie", wie das Gebiet bei Kahramanmaraş unter Geologen genannt wird, vorgelegt.

Das staatliche Planungsamt des Entwicklungsministeriums (DPT) sowie die türkische Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Tübitak) lehnten ab. Ein lokaler Verwaltungsbeamter wischte die Warnungen mit dem Satz "Was erzählen Sie denn da" vom Tisch.

"Ich erfuhr von dem Erdbeben gegen vier Uhr morgens und begann unwillkürlich zu weinen", berichtete Görür. Er und andere Geowissenschaftler hätten schon seit 2020 immer wieder darauf hingewiesen, dass in dieser Region ein Erdbeben bevorstehe. Regierende und staatliche Stellen ignorierten die Warnhinweise und warteten die Katastrophe ab, die sich in der überwiegend von Kurd:innen und Alevit:innen und bewohnten Region abspielen würde.

"Jetzt ist die Maraş-Region bedroht, seid vorsichtig!"

Eine der Städte in dieser gefährdeten Region ist die Elazığ. Dort gab es bereits im Januar 2020 ein Erdbeben [2]. Die Menschen in Elazığ wussten bis dahin nicht, dass sie in einer von Erdbeben bedrohten Stadt leben, erzählte der Geowissenschaftler. In der Stadt wurden dann Konferenzen abgehalten, um über die Zusammenhänge und mögliche Szenarien zu informieren: Das Elazığ Erdbeben verursachte an der ostanatolischen Verwerfungslinie einen Bruch, der bis Malatya reichte.

Der Abschnitt von Malatya nach Kahramanmaraş war damals noch nicht gebrochen. Wenn eine Verwerfung bricht, überträgt sie Energie auf den noch nicht gebrochenen Teil. Deshalb warnten die Geologen: "Jetzt ist die Maraş-Region bedroht, seid vorsichtig!"

Görür hielt Reden an der İnönü-Universität und wandte sich an die Öffentlichkeit in Malatya. "Wir bereiteten ein Projekt vor, an dem auch das Generalkommando für Kartierung beteiligt war. Wir reichten es bei der staatlichen Planungsbehörde ein, wir reichten es bei der Tübitak ein, und es wurde abgelehnt."

Im August 1999 warnten die Geowissenschaftler nach dem Erdbeben der Stärke 7,6 in Izmit/Gölcük, unweit der Millionenstadt Istanbul, bei dem 50.000 Menschen verletzt und insgesamt mehr als 73.000 Häuser beschädigt wurden, vor einem nächsten Erdbeben in Düzce. Drei Monate später gab es dort tatsächlich ein Erdbeben der Stärke 7,2.

Da die Stadt Vorbereitungen auf das Erdbeben getroffen hatte, war die Zahl der Todesopfer mit 803 vergleichsweise gering. In der jetzigen Erdbebenregion gab es solche Vorbereitungen nicht. Die türkische Regierung rühmt sich seit 20 Jahren damit, dass sie neue Straßen, Hochhäuser, Krankenhäuser und Flughäfen in der Region gebaut habe – Wahlkampfgeschenke, um die Stimmen der kurdischen Bevölkerung zu bekommen.

Nicht erdbebensichere Straßen, die nun eingebrochen und nicht befahrbar sind; Wohn- und Krankenhäuser, die wie Kartenhäuser zusammengebrochen sind, während die wenigen erdbebensicheren Häuser in der Nachbarschaft noch stehen. Der schwer beschädigte Flughafen in Hatay wurde zum Beispiel auf dem ausgetrockneten Amik-See gebaut.

Gutachter warnten seinerzeit wegen des instabilen Untergrunds, weil er an der Erdbebenbruchkante liegt und sich bei starken Regenfällen wieder mit Wasser füllt. Vogelkundler wiesen zudem darauf hin, dass der Flughafen mitten in einer Vogelfluglinie liegt [3]. Der Flughafen wurde trotzdem gebaut. Ebenso die nun eingestürzten Hochhäuser der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toki.

Nachdem das türkische Militär 2016 während der Proteste gegen die Diskriminierung und Kriminalisierung der demokratischen Partei HDP die von ihr regierten Städte zum Teil in Schutt und Asche gelegt hatte, wurden eilig Toki-Hochhäuser in Billigbauweise für die vertriebene und obdachlos gewordene kurdische Bevölkerung hochgezogen.

Die staatliche Wohnungsbaubehörde war ursprünglich als öffentliche "Wiederaufbau- und Siedlungsbehörde" eingerichtet worden. Tatsächlich handelt es sich um eine Privatisierungsagentur, die den Verkauf öffentlicher Grundstücke und Gebäude an private Unternehmen verwaltet.

Der Verkauf geht zum großen Teil an AKP-nahe Bauunternehmer, die mehr an Profiten interessiert sind als an der Sicherheit und Lebensqualität der Menschen, die diese Häuser bewohnen.

Nicht ausreichend Hilfskräfte im Erdbebengebiet

Auch die Infrastruktur für Katastrophenhilfe ist in der Region kaum vorhanden. Es gibt keine funktionierende Koordination zwischen Katastrophenschutz, Feuerwehr und Initiativen der Zivilgesellschaft in den gefährdeten Gebieten, um mit ortskundigen Menschen schnell vor Ort die Hilfe organisieren zu können.

Gerade in den kurdischen Gebieten wurden demokratische Organisationen der Zivilgesellschaft von der türkischen Regierung verboten oder handlungsunfähig gemacht. Hilfe wird von der Zentralregierung ohne Einbeziehung der lokalen zivilgesellschaftlichen Strukturen organisiert. Es dauert daher viel zu lange, bis Hilfe auch ankommt. Das erhöht zwangsläufig die Zahl der Opfer.

Fachleute sind sich einig, dass gerade die dezentrale Organisation von Hilfe durch zivilgesellschaftliche Organisationen und verfügbare technische Mittel wie Bagger, Lager für Lebensmittel, Freiflächen als Sammelplätze in Erdbebengebieten überlebenswichtig sind.

Öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser und Schulen müssen absolut erdbebensicher sein. Das alles wurde von der türkischen Regierung ignoriert – sie hatten 20 Jahre Zeit, dies umzusetzen. Nichts ist passiert. Das erlebt nun die überwiegend kurdische Bevölkerung in den ehemaligen AKP-Hochburgen im Erdbebengebiet. Keine gute Wahlwerbung für Erdogan.

Über 1.200 Gebäude sind allein im Hatay eingestürzt und haben hunderte Menschen verschüttet. Der Bürgermeister der Stadt Hatay, Lütfü Savaş, berichtete das Portal Medyascope [4], dass aufgrund der vielen Nachbeben sich viele Menschen bei Minustemperaturen im Freien aufhalten. Es gibt kaum Möglichkeiten, sie in beheizten Notunterkünften unterzubringen. Das staatliche Krankenhaus, das Rathaus und das Gebäude der Feuerwehr seien ebenfalls teilweise zerstört, berichtet der Bürgermeister.

Ein Sprecher der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad berichtete in der Nacht von Montag auf Dienstag in den türkischen Medien, dass überall mit der Bergung begonnen worden sei. Die Realität sah allerdings anders aus, was auch in ARD-Brennpunkt-Sendungen dokumentiert und kommentiert wurde.

In den sozialen Medien gibt es zahlreiche Videos von Menschen in den verwüsteten Städten Antakya, Adıyaman und Elbistan mit überwiegend kurdisch-alevitisch oder arabischer Bevölkerung, in denen berichtet wird, sie seien völlig auf sich allein gestellt [5].

Der im kurdischen Südosten der Türkei sonst vor allem militärisch so präsente türkische Staat war laut einem Bericht der Zeit auch "35 Stunden nach Beginn der Erdbeben unsichtbar". Streitkräfte seien viel zu spät mobilisiert worden, der Katastrophenschutz habe zu lange gebraucht – und die staatliche Ausländerberatungsstelle Yimer bot demnach Übersetzungshilfen für Betroffene des Erdbebens in sieben Sprachen an. Nur nicht für die kurdische Sprache.

Lage in Nordsyrien noch dramatischer

Die Städte Jindires und Shaykh al-Hadid in der seit 2018 von der türkischen Armee besetzten Region Afrin sind zu 80 Prozent zerstört. Bei einem Nachbeben am Donnerstag mit einer Stärke 4.8 auf der Richterskala stürzten in Afrin weitere, zuvor schwer beschädigte Gebäude ein.

Die Zivilverwaltung von Afrin steht seit 2018 unter der Kontrolle des Gouverneurs von Hatay in der Türkei [6]. Der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung fällt nach internationalem Recht damit automatisch in die Zuständigkeit der Türkei. Weshalb die meisten deutschen Medien, einschließlich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von "Rebellengebieten" berichten, zu denen angeblich niemand Zugang habe, das wäre einen eigenen Bericht wert.

Nun, die Türkei hat bereits in den vergangenen vier Jahren Vertreibungen, Morde, Entführungen und Vergewaltigungen durch ihre islamistischen Hilfstruppen in dieser bis 2018 sichersten Region Syriens zugelassen. Und nun ist schnelle Erdbebenhilfe aus der Türkei in weiter Ferne. Die Menschen dort versuchen bei Schnee und Minustemperaturen verzweifelt, mit bloßen Händen Angehörige aus den Trümmern zu bergen.

Ein weiteres Problem ist, dass die Dschihadisten-Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ein Ableger von Al Qaida, in weiten Teilen Afrins die Kontrolle übernommen hat und die Türkei sie gewähren lässt. Nach Informationen des Journalisten Jan Jessen, der für die Funke Mediengruppe immer wieder aus Kriegs- und Krisengebieten vor Ort berichtet, soll die im Nordirak ansässige Barzani Charity Foundation (BCF) mit den Besatzern von Afrin über humanitäre Hilfslieferungen nach Afrin verhandeln.

Allerdings wird in den Medien vor Ort ausschließlich über Hilfslieferungen der BCF in die Türkei berichtet. Der Kurdische Rote Halbmond – Heyva Sor – versucht in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten der Selbstverwaltung, darunter Tel Rifaat, Minbic und Kobane mit seinen begrenzten Möglichkeiten zu helfen, wo es geht.

Die Selbstverwaltung hat angekündigt, 100 Tankwagen mit Dieseltreibstoff in die Region Aleppo zu schicken und angeboten, das Gebiet der Selbstverwaltung als Brücke für humanitäre Hilfe in alle syrischen Katastrophengebiete zu nutzen [7]. Das dürfte ein Zeichen an den im Nordirak regierenden Barzani-Clan sein, die von ihnen kontrollierte Grenze von Faysh Khabur nach Nordostsyrien uneingeschränkt und ohne bürokratische Hürden für humanitäre Hilfe schnell zu öffnen.

Der Ko-Vorsitzende für Außenbeziehungen der Selbstverwaltung, Bedran Ciya Kurd, fordert die Öffnung des irakischen Grenzübergangs Til Koçer [8] für humanitäre Hilfslieferungen. Auch andere Städte und Gemeinden der Selbstverwaltung versuchen zu helfen, wie die Partnerstadt Dêrik des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg: dort wurden in aller Eile große Zelte auf Freiflächen aufgestellt, um die Erdbebenopfer unterzubringen [9].

In Idlib, südlich von Afrin und ebenfalls von der Dschihadistenmiliz HTS kontrolliert, ist die Lage ähnlich dramatisch wie in Afrin. Auch hier kommt keine Hilfe an, weder vom syrischen Regime, noch von der Türkei. In Aleppo und anderen betroffenen Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes gibt es mittlerweile Unterstützung durch russische Soldaten und Hilfslieferungen aus dem Iran.

Russland und Iran unterstützen nach wie vor das autoritäre syrische Regime und unterstützen die Pläne Assads, den Aufbau von autonomen, demokratischen Regionen im Norden Syriens zu zerstören. Das macht sich derzeit auch in Sheik Massoud, dem selbstverwalteten kurdischen Viertel Aleppos besonders bemerkbar. Dieses Viertel ist sehr stark vom Erdbeben betroffen und auch dort kommt, wie im gesamten Gebiet der Selbstverwaltung keine Hilfe des Regimes an.

Nach dem Beben kamen die Bomben

Als ob das Grauen durch das Erdbeben nicht schon groß genug wäre, bombardierte die Türkei auch noch in der Nacht von Montag auf Dienstag die vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Rifaat im Gebiet der Selbstverwaltung [10]. Die Stadt 35 Kilometer nördlich von Aleppo, dient seit der türkischen Besetzung Afrins 2018 als Zufluchtsort für tausende Vertriebene. "In Tel Rifaat leben 1.662 vertriebene Familien aus Afrin und 35 vertriebene Familien aus Idlib, wie aus einer Statistik der Autonomen Verwaltung von Afrin hervorgeht, die derzeit im nördlichen Umland von Aleppo tätig ist, berichtet die North Press Agency [11]. Über die Bombardements wird auch in verschiedenen Social-Media-Tweets berichtet.

"Die Bundesregierung muss die Türkei dazu drängen, ihre Angriffe auf Nordsyrien einzustellen, damit nach Überlebenden gesucht werden kann", sagte der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, der selbst aus Afrin stammt, bereits am Montag in Göttingen [12].

Fee Baumann, eine Deutsche, die vor Ort beim Kurdischen Roten Halbmond arbeitet, bestätigte die Berichte über die Bombardierung nach dem Erdbeben in einem Interview gegenüber dem ZDF [13]: "Wir haben gestern Nacht noch mal Nachbeben gehabt, und trotzdem wurden weiter türkische Luftangriffe geflogen."

Am vergangenen Mittwoch wurde der Sprecher der Bundesregierung in der Bundespressekonferenz gefragt, wie sich die Regierung zu den türkischen Bombardierungen positioniere. Die Antwort ist wenig überraschend: betretenes Schweigen und der Verweis auf "fehlende eigene Erkenntnisse" [14].

"Fehlende eigene Erkenntnisse" sind in der Politik eine gängige Ausrede, um trotz verifizierter Beweise nicht Stellung zu beziehen. Wenn die Bundesregierung mit ihren Diensten nicht offiziell vor Ort ist, kann es ja auch keine eigenen Erkenntnisse geben.

Der Ruf nach Hilfe vom türkischen Staat verhallt

In Sozialen Netzwerken werden viele bewegende Videos aus dem Erdbebengebiet geteilt, in denen Menschen vergeblich nach Hilfe durch den Staat fragen. In Antakya gibt es keinen Strom. Die Menschen suchen mit dem Licht der Handys nach Überlebenden. Es gibt keine Lebensmittelversorgung mehr, die Überlebenden hungern.

Die Provinz Hatay gleiche einer Geisterprovinz [15], berichtet der Abgeordnete Metin Ergun von der oppositionellen nationalistischen IYI-Parti: "Überall ist alles zerstört. Es gibt keinen Strom. Die Rettungsteams sind völlig unzureichend".

Sachspenden aus dem Ausland erreichen die Menschen nicht, weil diese teilweise schon an den Grenzen der Türkei abgefangen werden. In einigen Gebieten sind die Straßen durch die Beben aufgerissen worden und damit nicht befahrbar. Von den von der Regierung mobilisierten Rettungsteams und den 3.500 Militärangehörigen scheinen nur die wenigsten in den am stärksten betroffenen Gebieten angekommen zu sein.

In der Gemeinde Pazarcik, dem Epizentrum des ersten Erdbebens, versuchten die Einwohner mit bloßen Händen ihre Angehörigen zu bergen. Al-Monitor zitiert einen Dorfbewohner der Gemeinde Pazarcik: "Wir haben ein Dorf mit 350 Häusern; 90 Prozent sind zerstört. Die Menschen sind hungrig und durstig. Wir haben die Polizei und Afad angerufen, aber bisher ist niemand gekommen. Mindestens 30 unserer Leute sind unter den Trümmern gefangen. Die Gendarmerie hat uns gesagt, dass wir mit unseren eigenen Mitteln auskommen müssen."

Die Katastrophen- und Notfallmanagement-Behörde Afad ist mit der Koordination der Rettungsmaßnahmen völlig überfordert. Das liegt zum Teil an Unterfinanzierung, da die seit 1999 erhobene "Erdbebensteuer" von der AKP-Regierung zweckentfremdet wurde. Es wird vermutet, dass damit unter anderem der kostspielige Einsatz des Militärs gegen die kurdische Opposition in der Türkei, dem Nordirak und Nordsyrien finanziert wird.

Das Interesse der türkischen Regierung an einer der ärmsten, am wenigsten entwickelten und mehrheitlich von der verhassten kurdischen Minderheit bewohnten Region des Landes, ist nicht besonders groß. "Sie betrafen keine Gebiete, die von ausländischen Touristen bevorzugt werden, die zu einer der wichtigsten Devisenquellen der Türkei geworden sind", schrieb Wolfgango Piccoli, Co-Präsident des in London ansässigen Risikoberatungsunternehmens Teneo, in einem Forschungsbericht, den Al-Monitor zitiert.

In der Erdbebenregion steigt die Wut auf die Regierung, auch bei den türkeistämmigen Menschen im Ausland nimmt die Kritik an der AKP zu.

Die politische Instrumentalisierung der Katastrophe

Während über die staatlich kontrollierten Medien ununterbrochen verbreitet wird, wie enorm die Hilfe der Regierung ist, zeigt die Realität vor Ort etwas anderes. Um Negativberichterstattung zu unterbinden, hat Präsident Erdogan nun einen dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt. Bis kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai also. Ausnahmezustand bedeutet, dass eine unabhängige Presseberichterstattung nicht mehr möglich ist, da die Regierung bestimmt, wer in das Krisengebiet darf.

Es gibt erste Berichte über Social-Media-Abschaltungen, damit die Menschen nicht mehr Videos über das Grauen in die Welt schicken können, die dem Image der Regierung schaden könnten. Im Moment sieht es nicht danach aus, dass es Erdogan gelingen könnte, sich als Retter zu inszenieren. Die kurdische Bevölkerung von Städten, die mehrheitlich AKP wählten, beginnt die Zusammenhänge zwischen korrupter Baumafia und AKP zu begreifen.

Es wird nun gesehen, dass die schlimmste Wirtschaftskrise, seit Erdogan und seine regierende Partei AKP im Jahr 2002 an die Macht kamen, die Folge der geplatzten Immobilienblase und der auf Pump gebauten Prestigeobjekte ist. Es ist auch völlig unklar, ob die Menschen in der Erdbebenregion bis Mai überhaupt in der Lage sein werden, wählen zu gehen, wenn die Infrastruktur vor Ort fehlt.

Gut möglich ist, dass Erdogan die Wahlen verschiebt, bis die Wogen sich geglättet haben. Denn nach dem schweren Erdbeben 1999 im Nordwesten der Türkei, wo es auch massive Kritik an der damaligen Regierungskoalition gab, gewann die AKP an Sympathie.

Damit nun nicht wieder eine Naturkatastrophe eine Regierung zum Straucheln bringt, ist Erdogan bemüht, sein Übervater-Image hervorzuheben: die Schimpftiraden gegen westliche Länder, die den Terrorismus unterstützen würden, wandelten sich in Dankesbekundungen für die westliche Hilfe – selbst ein Telefonat mit dem griechischen Präsidenten war plötzlich möglich.

Erdogan rief für sieben Tage Staatstrauer aus. Aber die Menschen erinnern sich, dass die Baumafia unter der AKP Milliarden Dollar bei öffentlichen Ausschreibungen verdient hat – auf ihre Kosten.


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[1] https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/naci-gorur-fox-tv-canli-yayininda-boyle-isyan-etti-fay-hatti-icin-projemiz-reddedildi-2048935?utm_medium=Slider%20Haber&utm_source=Cumhuriyet%20Anasayfa&utm_campaign=Slider%20Haber
[2] https://www.n-tv.de/wissen/Erdbeben-eines-der-staerksten-je-in-der-Tuerkei-gemessenen-article23895963.html
[3] https://www.birgun.net/haber/kurutulan-amik-golu-ne-yapilan-hatay-havalimani-nin-pisti-depremde-kirildi-420372
[4] https://medyascope.tv/2023/02/06/hatay-icin-yardim-cagrisi-lutfu-savas-enkazdan-kurtarilmayi-bekleyenler-var-yetisemiyoruz/
[5] https://twitter.com/gergerliogluof/status/1622677830147485696?s=20&t=SPH9UvH6WKHf3vWRFoOkug
[6] http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/dunya/951299/Suriye_ye_5.__valilik_...__Hatay_a_bagli_olacak_.html
[7] https://npasyria.com/en/92348/
[8] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/zur-lage-in-rojava-nach-dem-erdbeben-36231
[9] https://staepa-derik.org/2023/02/wir-unterstuetzen-die-erdbeben-soforthilfe-des-kurdischen-roten-halbmonds/
[10] https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/turkische-artillerie-beschiesst-von-erdbeben-verwustete-stadt-36212
[11] https://npasyria.com/en/92242/
[12] https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-erdbeben-tuerkei-syrien-101.html#Menschenrechtler-verlangen-Erdbeben-Hilfe-fuer-Kurdenregion-in-Syrien
[13] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/syrien-tuerkei-erdbeben-hilfe-100.html?fbclid=PAAaZlm7I-bXJjpplP6fQDnHlvVsSbbbZ3MN-mKNquccKhNduGPQWL0xJvq7Q
[14] https://www.youtube.com/watch?v=V0cBk9uv4tw
[15] https://www.al-monitor.com/originals/2023/02/how-will-turkeys-killer-earthquakes-impact-countrys-politics