Türkei-Syrien: Auf das tektonische Erdbeben folgt ein politisches

Viele Betroffene müssen aktuell bei eisigen Temperaturen in Zelten schlafen. Foto: Städtepartnerschaft Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V.

Die Katastrophe kam mit Ansage. Bauvorschriften wurden dennoch ignoriert, für den Erdbebenschutz gedachte Gelder sind nebulös versickert. Womöglich für militärische Zwecke.

Die Erdbebenkatastrophe in der Südosttürkei und Nordwestsyrien hat eine seit Jahrzehnten vernachlässigte Region getroffen. Inzwischen wurden mehr als 24.000 Todesopfer gezählt. Mehrere Beben ließen am vergangenen Montag tagsüber mehrere Hochhäuser wie Kartenhäuser zusammenfallen. Die türkische Provinz Hatay, wie auch die seit 2018 türkisch besetzten Gebiete in Nordwestsyrien, Afrin und Idlib, hat es besonders schwer getroffen.

Obwohl diese Region – wie auch Istanbul im Westen der Türkei – zu den am meisten von Erdbeben bedrohten Gebieten gehört, ist seit der Katastrophe im Großraum Istanbul 1999 wenig in Sachen Prävention wenig passiert.

Fehlende Kontrollen im Baubereich

Erdbeben an den Bruchkanten tektonischer Platten lassen sich nicht verhindern, wohl aber die verheerenden Ausmaße mit Zehntausenden Toten, Verletzten und Obdachlosen. Eigentlich gibt es Vorgaben in den Bauverordnungen, die Neubauten erdbebensicher machen sollen.

Doch durch das mafiöse Netzwerk der Regierungspartei AKP im Bausektor können Bauunternehmer bis heute Hochhäuser ohne behördliche Prüfung auf Erdbebensicherheit bauen. Einzig die Profitorientierung zählt, nicht die Sicherheit der Bevölkerung. Viele Menschen in der Türkei fragen sich jetzt, wo denn die Gelder der vor 20 Jahren erhobenen Erdbebensteuer geblieben sind – in den Häusern der Erdbebenregion stecken sie jedenfalls nicht.

Der Geowissenschaftler Prof. Dr. Naci Görür warnte mit anderen Wissenschaftlern schon seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in der Region. Wie er in einem Interview mit Fox TV berichtete, hatte er zusammen mit anderen Wissenschaftlern ein Projekt zum Schutz der Bevölkerung in Bingöl, Elazığ, Malatya, Adıyaman und Maraş und zur Verhütung von Erdbebenopfern für die "ostanatolische Verwerfungslinie", wie das Gebiet bei Kahramanmaraş unter Geologen genannt wird, vorgelegt.

Das staatliche Planungsamt des Entwicklungsministeriums (DPT) sowie die türkische Anstalt für Wissenschaftliche und Technologische Forschung (Tübitak) lehnten ab. Ein lokaler Verwaltungsbeamter wischte die Warnungen mit dem Satz "Was erzählen Sie denn da" vom Tisch.

"Ich erfuhr von dem Erdbeben gegen vier Uhr morgens und begann unwillkürlich zu weinen", berichtete Görür. Er und andere Geowissenschaftler hätten schon seit 2020 immer wieder darauf hingewiesen, dass in dieser Region ein Erdbeben bevorstehe. Regierende und staatliche Stellen ignorierten die Warnhinweise und warteten die Katastrophe ab, die sich in der überwiegend von Kurd:innen und Alevit:innen und bewohnten Region abspielen würde.

"Jetzt ist die Maraş-Region bedroht, seid vorsichtig!"

Eine der Städte in dieser gefährdeten Region ist die Elazığ. Dort gab es bereits im Januar 2020 ein Erdbeben. Die Menschen in Elazığ wussten bis dahin nicht, dass sie in einer von Erdbeben bedrohten Stadt leben, erzählte der Geowissenschaftler. In der Stadt wurden dann Konferenzen abgehalten, um über die Zusammenhänge und mögliche Szenarien zu informieren: Das Elazığ Erdbeben verursachte an der ostanatolischen Verwerfungslinie einen Bruch, der bis Malatya reichte.

Der Abschnitt von Malatya nach Kahramanmaraş war damals noch nicht gebrochen. Wenn eine Verwerfung bricht, überträgt sie Energie auf den noch nicht gebrochenen Teil. Deshalb warnten die Geologen: "Jetzt ist die Maraş-Region bedroht, seid vorsichtig!"

Görür hielt Reden an der İnönü-Universität und wandte sich an die Öffentlichkeit in Malatya. "Wir bereiteten ein Projekt vor, an dem auch das Generalkommando für Kartierung beteiligt war. Wir reichten es bei der staatlichen Planungsbehörde ein, wir reichten es bei der Tübitak ein, und es wurde abgelehnt."

Im August 1999 warnten die Geowissenschaftler nach dem Erdbeben der Stärke 7,6 in Izmit/Gölcük, unweit der Millionenstadt Istanbul, bei dem 50.000 Menschen verletzt und insgesamt mehr als 73.000 Häuser beschädigt wurden, vor einem nächsten Erdbeben in Düzce. Drei Monate später gab es dort tatsächlich ein Erdbeben der Stärke 7,2.

Da die Stadt Vorbereitungen auf das Erdbeben getroffen hatte, war die Zahl der Todesopfer mit 803 vergleichsweise gering. In der jetzigen Erdbebenregion gab es solche Vorbereitungen nicht. Die türkische Regierung rühmt sich seit 20 Jahren damit, dass sie neue Straßen, Hochhäuser, Krankenhäuser und Flughäfen in der Region gebaut habe – Wahlkampfgeschenke, um die Stimmen der kurdischen Bevölkerung zu bekommen.

Nicht erdbebensichere Straßen, die nun eingebrochen und nicht befahrbar sind; Wohn- und Krankenhäuser, die wie Kartenhäuser zusammengebrochen sind, während die wenigen erdbebensicheren Häuser in der Nachbarschaft noch stehen. Der schwer beschädigte Flughafen in Hatay wurde zum Beispiel auf dem ausgetrockneten Amik-See gebaut.

Gutachter warnten seinerzeit wegen des instabilen Untergrunds, weil er an der Erdbebenbruchkante liegt und sich bei starken Regenfällen wieder mit Wasser füllt. Vogelkundler wiesen zudem darauf hin, dass der Flughafen mitten in einer Vogelfluglinie liegt. Der Flughafen wurde trotzdem gebaut. Ebenso die nun eingestürzten Hochhäuser der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toki.

Nachdem das türkische Militär 2016 während der Proteste gegen die Diskriminierung und Kriminalisierung der demokratischen Partei HDP die von ihr regierten Städte zum Teil in Schutt und Asche gelegt hatte, wurden eilig Toki-Hochhäuser in Billigbauweise für die vertriebene und obdachlos gewordene kurdische Bevölkerung hochgezogen.

Die staatliche Wohnungsbaubehörde war ursprünglich als öffentliche "Wiederaufbau- und Siedlungsbehörde" eingerichtet worden. Tatsächlich handelt es sich um eine Privatisierungsagentur, die den Verkauf öffentlicher Grundstücke und Gebäude an private Unternehmen verwaltet.

Der Verkauf geht zum großen Teil an AKP-nahe Bauunternehmer, die mehr an Profiten interessiert sind als an der Sicherheit und Lebensqualität der Menschen, die diese Häuser bewohnen.

Nicht ausreichend Hilfskräfte im Erdbebengebiet

Auch die Infrastruktur für Katastrophenhilfe ist in der Region kaum vorhanden. Es gibt keine funktionierende Koordination zwischen Katastrophenschutz, Feuerwehr und Initiativen der Zivilgesellschaft in den gefährdeten Gebieten, um mit ortskundigen Menschen schnell vor Ort die Hilfe organisieren zu können.

Gerade in den kurdischen Gebieten wurden demokratische Organisationen der Zivilgesellschaft von der türkischen Regierung verboten oder handlungsunfähig gemacht. Hilfe wird von der Zentralregierung ohne Einbeziehung der lokalen zivilgesellschaftlichen Strukturen organisiert. Es dauert daher viel zu lange, bis Hilfe auch ankommt. Das erhöht zwangsläufig die Zahl der Opfer.

Fachleute sind sich einig, dass gerade die dezentrale Organisation von Hilfe durch zivilgesellschaftliche Organisationen und verfügbare technische Mittel wie Bagger, Lager für Lebensmittel, Freiflächen als Sammelplätze in Erdbebengebieten überlebenswichtig sind.

Öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser und Schulen müssen absolut erdbebensicher sein. Das alles wurde von der türkischen Regierung ignoriert – sie hatten 20 Jahre Zeit, dies umzusetzen. Nichts ist passiert. Das erlebt nun die überwiegend kurdische Bevölkerung in den ehemaligen AKP-Hochburgen im Erdbebengebiet. Keine gute Wahlwerbung für Erdogan.

Über 1.200 Gebäude sind allein im Hatay eingestürzt und haben hunderte Menschen verschüttet. Der Bürgermeister der Stadt Hatay, Lütfü Savaş, berichtete das Portal Medyascope, dass aufgrund der vielen Nachbeben sich viele Menschen bei Minustemperaturen im Freien aufhalten. Es gibt kaum Möglichkeiten, sie in beheizten Notunterkünften unterzubringen. Das staatliche Krankenhaus, das Rathaus und das Gebäude der Feuerwehr seien ebenfalls teilweise zerstört, berichtet der Bürgermeister.

Ein Sprecher der staatlichen Katastrophenschutzbehörde Afad berichtete in der Nacht von Montag auf Dienstag in den türkischen Medien, dass überall mit der Bergung begonnen worden sei. Die Realität sah allerdings anders aus, was auch in ARD-Brennpunkt-Sendungen dokumentiert und kommentiert wurde.

In den sozialen Medien gibt es zahlreiche Videos von Menschen in den verwüsteten Städten Antakya, Adıyaman und Elbistan mit überwiegend kurdisch-alevitisch oder arabischer Bevölkerung, in denen berichtet wird, sie seien völlig auf sich allein gestellt.

Der im kurdischen Südosten der Türkei sonst vor allem militärisch so präsente türkische Staat war laut einem Bericht der Zeit auch "35 Stunden nach Beginn der Erdbeben unsichtbar". Streitkräfte seien viel zu spät mobilisiert worden, der Katastrophenschutz habe zu lange gebraucht – und die staatliche Ausländerberatungsstelle Yimer bot demnach Übersetzungshilfen für Betroffene des Erdbebens in sieben Sprachen an. Nur nicht für die kurdische Sprache.

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