Türkei-Syrien: Auf das tektonische Erdbeben folgt ein politisches

Seite 2: Lage in Nordsyrien noch dramatischer

Die Städte Jindires und Shaykh al-Hadid in der seit 2018 von der türkischen Armee besetzten Region Afrin sind zu 80 Prozent zerstört. Bei einem Nachbeben am Donnerstag mit einer Stärke 4.8 auf der Richterskala stürzten in Afrin weitere, zuvor schwer beschädigte Gebäude ein.

Die Zivilverwaltung von Afrin steht seit 2018 unter der Kontrolle des Gouverneurs von Hatay in der Türkei. Der Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung fällt nach internationalem Recht damit automatisch in die Zuständigkeit der Türkei. Weshalb die meisten deutschen Medien, einschließlich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von "Rebellengebieten" berichten, zu denen angeblich niemand Zugang habe, das wäre einen eigenen Bericht wert.

Nun, die Türkei hat bereits in den vergangenen vier Jahren Vertreibungen, Morde, Entführungen und Vergewaltigungen durch ihre islamistischen Hilfstruppen in dieser bis 2018 sichersten Region Syriens zugelassen. Und nun ist schnelle Erdbebenhilfe aus der Türkei in weiter Ferne. Die Menschen dort versuchen bei Schnee und Minustemperaturen verzweifelt, mit bloßen Händen Angehörige aus den Trümmern zu bergen.

Ein weiteres Problem ist, dass die Dschihadisten-Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ein Ableger von Al Qaida, in weiten Teilen Afrins die Kontrolle übernommen hat und die Türkei sie gewähren lässt. Nach Informationen des Journalisten Jan Jessen, der für die Funke Mediengruppe immer wieder aus Kriegs- und Krisengebieten vor Ort berichtet, soll die im Nordirak ansässige Barzani Charity Foundation (BCF) mit den Besatzern von Afrin über humanitäre Hilfslieferungen nach Afrin verhandeln.

Allerdings wird in den Medien vor Ort ausschließlich über Hilfslieferungen der BCF in die Türkei berichtet. Der Kurdische Rote Halbmond – Heyva Sor – versucht in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten der Selbstverwaltung, darunter Tel Rifaat, Minbic und Kobane mit seinen begrenzten Möglichkeiten zu helfen, wo es geht.

Die Selbstverwaltung hat angekündigt, 100 Tankwagen mit Dieseltreibstoff in die Region Aleppo zu schicken und angeboten, das Gebiet der Selbstverwaltung als Brücke für humanitäre Hilfe in alle syrischen Katastrophengebiete zu nutzen. Das dürfte ein Zeichen an den im Nordirak regierenden Barzani-Clan sein, die von ihnen kontrollierte Grenze von Faysh Khabur nach Nordostsyrien uneingeschränkt und ohne bürokratische Hürden für humanitäre Hilfe schnell zu öffnen.

Der Ko-Vorsitzende für Außenbeziehungen der Selbstverwaltung, Bedran Ciya Kurd, fordert die Öffnung des irakischen Grenzübergangs Til Koçer für humanitäre Hilfslieferungen. Auch andere Städte und Gemeinden der Selbstverwaltung versuchen zu helfen, wie die Partnerstadt Dêrik des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg: dort wurden in aller Eile große Zelte auf Freiflächen aufgestellt, um die Erdbebenopfer unterzubringen.

In Idlib, südlich von Afrin und ebenfalls von der Dschihadistenmiliz HTS kontrolliert, ist die Lage ähnlich dramatisch wie in Afrin. Auch hier kommt keine Hilfe an, weder vom syrischen Regime, noch von der Türkei. In Aleppo und anderen betroffenen Gebieten unter Kontrolle des syrischen Regimes gibt es mittlerweile Unterstützung durch russische Soldaten und Hilfslieferungen aus dem Iran.

Russland und Iran unterstützen nach wie vor das autoritäre syrische Regime und unterstützen die Pläne Assads, den Aufbau von autonomen, demokratischen Regionen im Norden Syriens zu zerstören. Das macht sich derzeit auch in Sheik Massoud, dem selbstverwalteten kurdischen Viertel Aleppos besonders bemerkbar. Dieses Viertel ist sehr stark vom Erdbeben betroffen und auch dort kommt, wie im gesamten Gebiet der Selbstverwaltung keine Hilfe des Regimes an.

Nach dem Beben kamen die Bomben

Als ob das Grauen durch das Erdbeben nicht schon groß genug wäre, bombardierte die Türkei auch noch in der Nacht von Montag auf Dienstag die vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Rifaat im Gebiet der Selbstverwaltung. Die Stadt 35 Kilometer nördlich von Aleppo, dient seit der türkischen Besetzung Afrins 2018 als Zufluchtsort für tausende Vertriebene. "In Tel Rifaat leben 1.662 vertriebene Familien aus Afrin und 35 vertriebene Familien aus Idlib, wie aus einer Statistik der Autonomen Verwaltung von Afrin hervorgeht, die derzeit im nördlichen Umland von Aleppo tätig ist, berichtet die North Press Agency. Über die Bombardements wird auch in verschiedenen Social-Media-Tweets berichtet.

"Die Bundesregierung muss die Türkei dazu drängen, ihre Angriffe auf Nordsyrien einzustellen, damit nach Überlebenden gesucht werden kann", sagte der Nahostexperte der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido, der selbst aus Afrin stammt, bereits am Montag in Göttingen.

Fee Baumann, eine Deutsche, die vor Ort beim Kurdischen Roten Halbmond arbeitet, bestätigte die Berichte über die Bombardierung nach dem Erdbeben in einem Interview gegenüber dem ZDF: "Wir haben gestern Nacht noch mal Nachbeben gehabt, und trotzdem wurden weiter türkische Luftangriffe geflogen."

Am vergangenen Mittwoch wurde der Sprecher der Bundesregierung in der Bundespressekonferenz gefragt, wie sich die Regierung zu den türkischen Bombardierungen positioniere. Die Antwort ist wenig überraschend: betretenes Schweigen und der Verweis auf "fehlende eigene Erkenntnisse".

"Fehlende eigene Erkenntnisse" sind in der Politik eine gängige Ausrede, um trotz verifizierter Beweise nicht Stellung zu beziehen. Wenn die Bundesregierung mit ihren Diensten nicht offiziell vor Ort ist, kann es ja auch keine eigenen Erkenntnisse geben.

Der Ruf nach Hilfe vom türkischen Staat verhallt

In Sozialen Netzwerken werden viele bewegende Videos aus dem Erdbebengebiet geteilt, in denen Menschen vergeblich nach Hilfe durch den Staat fragen. In Antakya gibt es keinen Strom. Die Menschen suchen mit dem Licht der Handys nach Überlebenden. Es gibt keine Lebensmittelversorgung mehr, die Überlebenden hungern.

Die Provinz Hatay gleiche einer Geisterprovinz, berichtet der Abgeordnete Metin Ergun von der oppositionellen nationalistischen IYI-Parti: "Überall ist alles zerstört. Es gibt keinen Strom. Die Rettungsteams sind völlig unzureichend".

Sachspenden aus dem Ausland erreichen die Menschen nicht, weil diese teilweise schon an den Grenzen der Türkei abgefangen werden. In einigen Gebieten sind die Straßen durch die Beben aufgerissen worden und damit nicht befahrbar. Von den von der Regierung mobilisierten Rettungsteams und den 3.500 Militärangehörigen scheinen nur die wenigsten in den am stärksten betroffenen Gebieten angekommen zu sein.

In der Gemeinde Pazarcik, dem Epizentrum des ersten Erdbebens, versuchten die Einwohner mit bloßen Händen ihre Angehörigen zu bergen. Al-Monitor zitiert einen Dorfbewohner der Gemeinde Pazarcik: "Wir haben ein Dorf mit 350 Häusern; 90 Prozent sind zerstört. Die Menschen sind hungrig und durstig. Wir haben die Polizei und Afad angerufen, aber bisher ist niemand gekommen. Mindestens 30 unserer Leute sind unter den Trümmern gefangen. Die Gendarmerie hat uns gesagt, dass wir mit unseren eigenen Mitteln auskommen müssen."

Die Katastrophen- und Notfallmanagement-Behörde Afad ist mit der Koordination der Rettungsmaßnahmen völlig überfordert. Das liegt zum Teil an Unterfinanzierung, da die seit 1999 erhobene "Erdbebensteuer" von der AKP-Regierung zweckentfremdet wurde. Es wird vermutet, dass damit unter anderem der kostspielige Einsatz des Militärs gegen die kurdische Opposition in der Türkei, dem Nordirak und Nordsyrien finanziert wird.

Das Interesse der türkischen Regierung an einer der ärmsten, am wenigsten entwickelten und mehrheitlich von der verhassten kurdischen Minderheit bewohnten Region des Landes, ist nicht besonders groß. "Sie betrafen keine Gebiete, die von ausländischen Touristen bevorzugt werden, die zu einer der wichtigsten Devisenquellen der Türkei geworden sind", schrieb Wolfgango Piccoli, Co-Präsident des in London ansässigen Risikoberatungsunternehmens Teneo, in einem Forschungsbericht, den Al-Monitor zitiert.

In der Erdbebenregion steigt die Wut auf die Regierung, auch bei den türkeistämmigen Menschen im Ausland nimmt die Kritik an der AKP zu.

Die politische Instrumentalisierung der Katastrophe

Während über die staatlich kontrollierten Medien ununterbrochen verbreitet wird, wie enorm die Hilfe der Regierung ist, zeigt die Realität vor Ort etwas anderes. Um Negativberichterstattung zu unterbinden, hat Präsident Erdogan nun einen dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt. Bis kurz vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai also. Ausnahmezustand bedeutet, dass eine unabhängige Presseberichterstattung nicht mehr möglich ist, da die Regierung bestimmt, wer in das Krisengebiet darf.

Es gibt erste Berichte über Social-Media-Abschaltungen, damit die Menschen nicht mehr Videos über das Grauen in die Welt schicken können, die dem Image der Regierung schaden könnten. Im Moment sieht es nicht danach aus, dass es Erdogan gelingen könnte, sich als Retter zu inszenieren. Die kurdische Bevölkerung von Städten, die mehrheitlich AKP wählten, beginnt die Zusammenhänge zwischen korrupter Baumafia und AKP zu begreifen.

Es wird nun gesehen, dass die schlimmste Wirtschaftskrise, seit Erdogan und seine regierende Partei AKP im Jahr 2002 an die Macht kamen, die Folge der geplatzten Immobilienblase und der auf Pump gebauten Prestigeobjekte ist. Es ist auch völlig unklar, ob die Menschen in der Erdbebenregion bis Mai überhaupt in der Lage sein werden, wählen zu gehen, wenn die Infrastruktur vor Ort fehlt.

Gut möglich ist, dass Erdogan die Wahlen verschiebt, bis die Wogen sich geglättet haben. Denn nach dem schweren Erdbeben 1999 im Nordwesten der Türkei, wo es auch massive Kritik an der damaligen Regierungskoalition gab, gewann die AKP an Sympathie.

Damit nun nicht wieder eine Naturkatastrophe eine Regierung zum Straucheln bringt, ist Erdogan bemüht, sein Übervater-Image hervorzuheben: die Schimpftiraden gegen westliche Länder, die den Terrorismus unterstützen würden, wandelten sich in Dankesbekundungen für die westliche Hilfe – selbst ein Telefonat mit dem griechischen Präsidenten war plötzlich möglich.

Erdogan rief für sieben Tage Staatstrauer aus. Aber die Menschen erinnern sich, dass die Baumafia unter der AKP Milliarden Dollar bei öffentlichen Ausschreibungen verdient hat – auf ihre Kosten.

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