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Türkei greift in Syrien massiv Kurden an

Die türkische Regierung spricht auf der Propagandaseite für die Militäroperation "Schutzschild Euphrat" von angeblichen Angriffen auf 40 IS-Stellungen und 6 PKK/PYD Ziele in Nordsyrien.

Im irakischen Tikrit führt der "Islamische Staat" einen Entlastungsangriff, türkische Erdogan-Unterstützer rufen dazu auf, Milizen zu gründen und nach Mosul zu ziehen

Die türkische Regierung hat wieder einmal demonstriert, wer der wichtigste Feind in ihren Augen ist. Nicht der "Islamische Staat", der jahrelang an der Grenze geduldet und wahrscheinlich auch unterstützt wurde, sondern die Kurden im eigenen Land, in Syrien und die PKK im Irak. Nördlich von Aleppo haben im von der YPG kontrollierten Afrin türkische Kampfflugzeuge und Artillerie Stellungen bei Umm Hawsh und Um Qura sowie vielen anderen Orten angegriffen [1]. Auch heute sollen wieder Luftangriffe auf kurdische Ziele stattgefunden haben.

Die Kurden sagen, sie hätten hier Fortschritte gegen den IS in Richtung al-Bab erzielt, aber die Türkei hilft offenbar lieber dem IS, als zuzulassen, dass die Kurden Geländegewinne machen. Vor allem will die Türkei selbst al-Bab einnehmen, um nach Dscharablus, das vermutlich nach Absprache mit dem IS "erobert" wurde, den bislang vom IS und "Rebellen" kontrollierten Korridor von der türkischen Grenze Richtung Aleppo zu sichern. Bei den Angriffen sollen viele kurdische YPG-Kämpfer, die Rede [2] ist von bis zu 200, getötet worden sein. Dier YPG berichtet [3] von 10 toten Kämpfern, aber auch von getöteten und verletzten Zivilisten. Zu vermuten ist, dass die Türkei den vom Rest der kurdisch kontrollierten Rojava-Gebiete isolierte Kanton Afrin im Nordwesten Syriens erobern will.

Eingeschaltet hat sich mittlerweile auch die syrische Armee, die gewarnt hat, dass sie türkische Flugzeuge, die in den syrischen Luftraum eindringen, "mit allen Mitteln" angreifen werde. Das ist zwar angesichts der neuen Kooperation zwischen Moskau und Ankara, vor allem aber deswegen unwahrscheinlich, weil die Türkei ein Nato-Land ist, zeigt aber, wie brüchig die verschiedenen Koalitionen sind, die im Kampf gegen den IS ihre partikularen geopolitischen Interessen durchsetzen wollen. Zudem wird der Türkei von der syrischen Armee vorgeworfen, ein "Massaker" [4] in Afrin ausgeführt zu haben, bei dem 150 Zivilisten getötet wurden. Damit soll wohl seitens der Assad-Regierung auch dem Nato-Mitgliedsland das Vorgehen vorgeworfen werden, das die westlichen Staaten in Aleppo Syrien und Russland vorwerfen.

Syrische Hubschrauber haben über Aleppo Flugblätter abgeworfen und die Menschen aufgefordert, während der Waffenruhe die Korridore zur Flucht aus der Stadt zu benutzen. Verbreitet wird die Meldung, dass die "Rebellen" die Menschen auch mit Gewalt daran zu hindern suchen. Auch die Vereinten Nationen setzen darauf, zumindest Verletzte, Kranke und Hilfsbedürftige aus der Stadt während der Feuerpause evakuieren zu können. Seit Anfang Juli sind keine Hilfslieferungen mehr in die Stadt gebracht worden, die Vorräte gehen aus, warnt die UN. Währenddessen wiederholt der russische Außenminister Lawrow die Forderung an die USA, die vereinbarte strikte Trennung zwischen den "gemäßigten" Rebellen und terroristischen Gruppen wie al-Nusra durchzuführen. Auch daran war der bereits ausgehandelte Waffenstillstand gescheitert. Die Rebellen weigern sich allerdings, was auch zeigt, dass Washington hier nicht ausreichend Einfluss ausüben kann oder will und dass die Verbindungen der "Rebellen" mit den islamistischen Gruppen zu stark sind.

Sterben und Töten für Erdogan

Währenddessen wächst der Druck in der Türkei auf die AKP-Regierung, sich auch noch stärker im Irak militärisch einzumischen. Dort hat die türkische Armee bereits seit letztem Jahr ein Lager eingerichtet, um Anti-IS-Kämpfer auszubilden, vor allem aber, um den türkischen Einfluss sicherzustellen. Präsident Erdogan fordert die Beteiligung von türkischen Soldaten bei der Offensive auf Mosul und konnte schon durchsetzen, dass türkische Kampfflugzeuge eingesetzt werden können, was die Anti-IS-Koalition mit neuen Problemen konfrontieren könnte, wie jetzt im Afrin oder zuvor seitens Saudi-Arabien im Jemen zu sehen war.

Erdogan meldete auch einen türkischen Anspruch auf Mosul und Kirkuk an. Gerade hat der IS einen Entlastungsangriff auf Kirkuk durchgeführt, das seit 2014 von den Kurden kontrolliert wird, die den IS dort vertrieben hatten. Die IS-Kämpfer, gesprochen wird von "Schläferzellen", haben Außenbezirke eingenommen und sind am frühen Morgen auch in die Stadt eingedrungen. Es soll weiterhin heftig gekämpft werden. Der IS verkündet, größere Teile der Stadt eingenommen zu haben, die Peshmerga erklären hingegen, Angriffe abgewehrt zu haben und das Kraftwerk wieder zu kontrollieren.

Der Islamische Staat verbreitet Siegesmeldungen bei den Kämpfen um Kirkuk und Bilder von Männern, die bei Mosul dem IS Treue schwören sollen.

In der Türkei fordert [5] die 2009 gegründete nationalistische osmanische Bewegung Ottoman Hearths die Regierung dazu auf, Milizen zu gründen, um sie in den Kampf um Mosul vor allem gegen die schiitischen Milizen zu schicken, aber sie auch in der Türkei gegen Feinde einzusetzen. Die Bewegung soll 2 Millionen Anhänger haben und beteiligt sich bei AKP-Aufmärschen mit weißen Gewändern, um zu demonstrieren, dass sie bereit ist, für die Partei und ihren Führer zu sterben. Auch nach dem gescheiterten Coup will sie eine wichtige Rolle gespielt haben. Im letzten Jahr wurden wiederholt Büros der kurdischen HDP von Mobs angegriffen [6], dahinter wird die Osmanische Bewegung vermutet.

Der Chef der Bewegung, Emin Canpolat, setzte gestern den Tweet [7] ab: "Erdogan bedeutet die Nation. Man stirbt für Erdogan, man tötet für Erdogan. Diejenigen, die am 15. Juli versucht haben, dies zu testen, haben es selbst erfahren." Die türkische AKP-Regierung unterstützt die militante Osmanische Bewegung nicht offen, aber reagiert auch nicht auf die verbreiteten Botschaften, zu den Waffen zu greifen.

Der AKP-Bürgermeister von Ankara, Melih Gokcek, sprach allerdings kürzlich in einem Interview davon, dass es keinen Sinn mache zu verschwiegen, dass viele Türken sich mit Waffen ausrüsten: "Sie haben verstanden, dass die ganze Welt sich gegen uns verschwört. Glauben Sie, sie warten, dass ein Putsch geschieht und sie getötet werden?"


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Links in diesem Artikel:
[1] http://anfenglish.com/kurdistan/turkish-army-conducts-artillery-and-aerial-attack-on-villages-of-efrin
[2] http://www.kurdistan24.net/en/news/470b70ba-3514-4976-a789-da5254fa964c/Turkey-attacks-Syrian-Kurdish-forces---kills-160-?platform=hootsuite
[3] http://anfenglish.com/kurdistan/bab-council-member-turkish-jets-killed-4-civilians-and-10-combatants
[4] http://sana.sy/en/?p=91133
[5] http://www.middleeasteye.net/news/turkish-militias-issue-call-fight-mosul-and-against-nation-s-enemies-799086953
[6] http://www.middleeasteye.net/news/analysis-turkey-s-ottoman-hearths-menace-or-benign-grouping-1499886208
[7] https://twitter.com/Ecanpolat1453/status/789057390591242240