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Türkisches Parlament gewährt Militär Immunität im Kampf gegen die PKK

Cizre Februar 2016.Bild: ANF

Rasant werden in der Türkei Bürgerrechte und Pressefreiheit eingedampft und wird der Rahmen für einen schmutzigen Krieg geschaffen

Am 20 Juni wurden Şebnem Korur Fincancı, die Präsidentin der Menschenrechtsstiftung der Türkei (HRTF), sowie Erol Önderoğlu, der türkische Korrespondent von Reporter ohne Grenzen, und der Journalist Ahmet Nesin verhaftet. Sie hatten symbolisch zur Unterstützung der prokurdischen Zeitung Ozgur Gundem jeweils einen Tag lang die Position des Chefredakteurs eingenommen. Im Mai waren 12 Redaktionsmitglieder der Zeitung festgenommen worden, weil sie angeblich die PKK unterstützen würden. Seitdem hatten 44 Intellektuelle solidarisch die Position des Chefredakteurs eingenommen.

Auch die drei jüngst Verhafteten, die in Isolationshaft sitzen und mit Gefängnisstrafen bis zu 14 Jahren rechnen müssen, stehen unter Verdacht der Unterstützung einer Terrororganisation. Nach dem neuen Antiterrorgesetz, gegen das die EU im Rahmen der Verhandlungen über die Visafreiheit opponiert, können Unterstützer ebenso wie Mitglieder einer Terrororganisation belangt werden. Weitere Intellektuelle, die gegen die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit und das militärische Vorgehen in den Kurdengebiete protestierten und sich mit der Zeitung solidarisch zeigten, müssen mit Anzeigen rechnen.

Falls die türkische Regierung hoffte, mit der Verhaftung für Abschreckung gesorgt zu haben, wurde sie enttäuscht. Can Dündar, der weltweit bekannt gewordene Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, der wegen Spionage und Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen sowie wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verurteilt wurde, übernahm den Posten des Chefredakteurs, um ein Zeichen zu setzen, dass sich nicht alle einschüchtern lassen. Nach Säuberungen innerhalb des Polizei- und Justizapparats gibt es in der Türkei praktisch keine unabhängige Justiz mehr. Und wenn, wie das Verfassungsgericht im Fall von Dündar die Freilassung aus der Untersuchungshaft anordnete, macht Erdogan sogleich klar, dass er über oder neben sich keine Instanz duldet und das Urteil nicht anerkennt.

Proteste wegen der Festnahme gab es von vielen Seiten, u.a. von der EU, der US-Regierung und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, von Reporter ohne Grenzen, die gestern in Istanbul eine Protestkundgebung [1] abhielten, oder der Internationalen Forensikexpertengruppe, deren Mitglied Fincancı ist. Sie fordert [2] die Freilassung der drei Inhaftierten.

Fincancıs Tochter vermutet [3] allerdings, dass es gerade die Arbeit als Menschenrechtsforensikerin gewesen sein könnte, die zur Inhaftierung führte. Im März hatte sie einen Bericht über Cizre [4] veröffentlicht, in dem die Vermutung verstärkt wird, dass die in Kellern von zerstörten Häusern ums Leben gekommenen bis zu 178 Menschen Zivilisten waren.

Schmutziger Krieg: Im Kampf gegen die PKK können nun die Handschuhe noch weiter ausgezogen werden

Gerade hat das türkische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das zumindest eine Verbindung nahelegen würde. Vor einigen Tagen erst waren türkische Grenzsoldaten beschuldigt worden, auf Flüchtlinge, die von Syrien in die Türkei gelangen wollten, geschossen zu haben, wobei auch Kinder und Frauen getötet worden seien. Die türkische Regierung wies die Anschuldigungen zurück (Türkische Soldaten sollen mindestens 8 syrische Flüchtlinge getötet haben [5]).

Jetzt tritt ein mehrheitlich vom Parlament, das bereits zahlreichen Abgeordneten die Immunität entzogen hat, verabschiedetes Gesetz in Kraft, das den Soldaten im Antiterrorkampf Immunität gewährleistet [6]. Damit wird dem Militär, das von Erdogan in seinen Kompetenzen seit seinem Amtsantritt beschränkt wurde, eine Freikarte ausgestellt. Es wird nun schwer, wenn nicht unmöglich, dass Soldaten wegen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden können. Das ist sowieso nicht geschehen, obgleich dem Militär zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Kampf gegen die PKK bei den Belagerungen und Zerstörungen von Städten im überwiegend von Kurden bewohnten Teil der Türkei vorgeworfen wurden. Zu erwarten ist, dass das Militär nun noch brutaler auch gegen die kurdischen Zivilisten vorgehen wird, wenn die Soldaten nichts zu befürchten haben.

Um Soldaten zur Verantwortung ziehen zu können, müssen nun die Regierung oder die Militärführung die Genehmigung erteilen. Das Gesetz gilt auch rückwirkend, d.h. dass die Menschenrechtsverletzungen, die möglicherweise in Cizre oder anderswo begangen wurden, nicht mehr untersucht werden müssen. Erweitert werden auch die Befugnisse von Militärgerichten. Überdies können Kommandeure Haussuchungen anordnen.

Erdogan scheint mit seiner Politik die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Nach einer aktuellen Umfrage [7] würden nun 53,5 Prozent die AKP wählen, bei den Wahlen im November waren es 49,5 Prozent. Die HDP, die von der Regierung der Unterstützung der PKK bezichtigt wird und deren Abgeordnete Erdogan strafrechtlich verfolgen lassen will, würde nur noch 6,9 Prozent erhalten und damit nicht mehr ins Parlament kommen. Bei der ersten Wahl im letzten Jahr hatte der Erfolg der HDP der AKP die absolute Mehrheit vermasselt - und damit auch die Umwandlung des politischen Systems zu einer auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialdemokratie.

Erdogan startete daraufhin den Krieg gegen die PKK und forcierte Neuwahlen, aus denen die AKP mit einer knappen absoluten Mehrheit hervorging. Glaubt man der Umfrage, hatte Erdogan mit seinem forschen Vorgehen auch gegenüber Russland und der Türkei Erfolg. 58,4 Prozent sollen den Übergang in ein Präsidialsystem unterstützen. 87,5 Prozent glauben, dass die AKP jetzt Wahlen gewinnen würde, 79 Prozent unterstützen das Vorgehen gegen die PKK. Damit hat Erdogan den Freibrief, den er nun auch dem Militär gegeben hat.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.diken.com.tr/tutuklu-akademisyen-fincancinin-kizi-cizre-raporundan-sonra-bu-karari-bekliyorduk/
[2] http://en.tihv.org.tr/statement-from-independent-forensic-expert-group-calling-for-the-release-of-dr-sebnem-korur-fincanci-erol-onderoglu-and-ahmet-nesin/
[3] http://www.diken.com.tr/tutuklu-akademisyen-fincancinin-kizi-cizre-raporundan-sonra-bu-karari-bekliyorduk/
[4] http://bianet.org/bianet/insan-haklari/172794-prof-korur-fincanci-dan-cizre-on-inceleme-raporu
[5] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkische-Soldaten-sollen-mindestens-8-syrische-Fluechtlinge-getoetet-haben-3380225.html
[6] http://www.reuters.com/article/us-turkey-security-kurds-idUSKCN0ZA1IV
[7] http://www.dailysabah.com/politics/2016/06/24/survey-puts-support-for-presidential-system-at-58-pct