Twitter, Musk und das wacklige Prinzip des gerechten Königs
Der Katzenjammer ist groß, weil der "falsche" Kapitalist sich für 44 Milliarden Dollar Meinungsmacht gekauft hat. Warum geht so etwas überhaupt – und wieso regen sich manche Menschen erst jetzt darüber auf?
Wer Twitter schon immer als Plattform im doppelten Sinne wahrgenommen hat, weil allein schon die eng begrenzte Zeichenzahl dazu einlädt, Plattheiten und undifferenziertes Geschrei in Buchstabenform zu verbreiten, reibt sich in diesen Tagen verwundert die Augen. Andere – auch Mitarbeitende sogenannter Qualitätsmedien – haben das bisher wohl für eine Art Leuchtturm der zivilisierten Debatte gehalten.
Festgemacht wurde diese Wahrnehmung unter anderem daran, dass mit dem Ex-US-Präsidenten Donald Trump einer der prominentesten Schreihälse in dem "Sozialen Netzwerk" dauerhaft gesperrt worden war. Seitdem hielt sich bei Freund und Feind bis zuletzt das Gerücht, Twitter sei fest in "woker" Hand – was immer das heute noch heißen mag.
In Sachen Wokeness "Unverdächtige" wie der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt haben Twitter jedenfalls in diesem Jahr seit Beginn des Ukraine-Krieges gern genutzt, um über den Sinn der Bereitschaft zum Dritten Weltkrieg zu philosophieren. Politiker und andere Promis, die sich für eine Verhandlungslösung aussprachen, wurden vom bellizistischen Twitter-Mob im deutschsprachigen Raum mit Hashtags wie "Lumpenpazifist" oder "Putinknecht" markiert. Zensur? Doch nicht bei so etwas.
Der Katzenjammer ist dennoch groß, weil dieser vermeintliche Leuchtturm zivilisierter Debatten jetzt droht, verloren zu gehen, nachdem ein zweifelhafter Großkapitalist namens Elon Musk – mit zuletzt rund 219,6 Milliarden US-Dollar der reichste Mensch der Welt – für 44 Milliarden Twitter gekauft hat.
Darf der das? – Diese Frage stellen sich momentan viele, die bisher kein grundsätzliches Problem damit hatten, dass Großkapitalisten so etwas können und dürfen. Sie haben sich nur bisher auf das Prinzip des gerechten Königs verlassen. Twitter war schließlich nie öffentlich-rechtlich und wurde nicht privatisiert. Es wechselte am 28. Oktober nur den Besitzer – was Musk mit Blick auf das Vögelchen-Logo und sein Verständnis von Meinungsfreiheit mit "The bird is freed" kommentierte.
Aus anderer Sicht hat mit ihm die "falsche" Kapitalfraktion das Ruder übernommen. Die stellvertretende ZDF-Chefredakteurin Anne Gellinek befürchtet, Musk könne "die Grenzen des Sagbaren" erweitern.
Bisher kein Trump-Comeback
Tatsächlich löste er als erste Amtshandlung den bisherigen Verwaltungsrat von Twitter auf. Dem Vernehmen nach will er ein neues Gremium schaffen, das über den Umgang mit kontroversen Inhalten entscheidet. Eine baldige Freischaltung des Accounts von Trump und dessen zukünftige "Narrenfreiheit" wären somit erst mal keine Selbstverständlichkeiten.
Boris Reitschuster, eine Art gefallener Engel des deutschen Mainstreams, der sich mit russlandkritischen Büchern einen Namen machte, bevor er im Umfeld der Corona-"Querdenker" landete, freut sich dennoch auf mehr Meinungsfreiheit in seinem Sinn: "Vor Musk mussten Nicht-‘Woke‘ auf Twitter fürchten, zensiert zu werden. Mit Musk müssen die ‘Woken‘ zwar selbst keine Zensur fürchten. Aber sie fürchten sich davor, dass Menschen, die eine andere Meinung als sie haben, nicht mehr zensiert werden", twitterte er am Tag des Deals. "Ein Erdbeben im Elfenbeinturm."
Bisher eifrige Twitter-Nutzer, die damit gemeint sein könnten, erwägen nun den Umzug zum Mikroblogging-Dienst Mastodon, der gegenüber Twitter zumindest den Vorteil hat, dass er statt 280 Zeichen sensationelle 500 Zeichen pro Beitrag zulässt. Ob es sich gegenüber der altbewährten digitalen Schreibude durchsetzen wird und ob es dort tatsächlich zivilisierter zugeht, bleibt abzuwarten.
Was genau eigentlich das Schlimmste an Musk ist, darüber gehen allerdings die Meinungen auseinander. Für seine Tesla-Gigafactory im brandenburgischen Grünheide haben deutsche Politiker von SPD und CDU bis zu den Grünen dem US-Milliardär den roten Teppich ausgerollt – schließlich ging es um Arbeitsplätze in einer strukturschwachen Region, da müssen auch Umweltbedenken hintan stehen. Dass er auch mit Weltraumtourismus sein Vermögen vermehren und seine CO2-Bilanz verschlimmern will, stieß in deutschen Medien auf ein geteiltes Echo.
Mäßige Kriegsbegeisterung als Makel?
Sehr bedenklich fanden es dann aber einige Kommentatoren, dass er es kurz vor der Twitter-Übernahme wagte, einen "Friedensplan" für die Ukraine zu twittern und nach einem "Fuck off"-Tweet des ukrainischen Spitzendiplomaten Andrij Melnyk kurzzeitig keine Lust mehr hatte, dem Land kostenlos das kriegswichtige Satellitennetzwerk Starlink seiner Firma SpaceX zur Verfügung zu stellen. Spekulationen über eine Verbrüderung Musks mit dem russischen Präsidenten Wladimir schossen ins Kraut.
Aber auch seine Kehrtwende verkündete Musk via Twitter: "Zur Hölle damit", befand er am 15. Oktober – "auch wenn Starlink immer noch Geld verliert und andere Unternehmen Milliarden an Steuergeldern erhalten, werden wir die Regierung der Ukraine weiterhin kostenlos unterstützen". Ja, das war eine Machtdemonstration. Subtext: "Zur Hölle damit, ich bin der Größte, ganze Staaten hängen von meiner Gnade ab. Aber ich bin ja gnädig."
Die Erkenntnis einer solchen Machtkonzentration bei einem Mann, der sich nie einer demokratischen Wahl stellen musste, ist natürlich gruselig. Was sonst?
Die Frage ist nur, warum es manche Apologeten der "freien Marktwirtschaft" erst gruselt, wenn ein so mächtiger Großkapitalist durchblicken lässt, dass er die Eskalation eines Krieges für keine gute Idee hält – und ob es vor diesem Hintergrund nicht gefährlichere Kapitalfraktionen gibt. Zum Beispiel die Rüstungsindustrie, die ihre Waffen in der Regel auch nicht kostenlos zur Verfügung stellt, sondern genau daran verdient, dass Kriege eskalieren.
Das Wesen des Kapitalismus ist nun mal gruselig. Wer die Anhäufung derartiger Vermögen prinzipiell in Ordnung findet, obwohl sie immer auch auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft beruhen und nie nur auf der eigenen, darf sich über unerwünschte Nebenwirkungen nicht wundern. Deal with it, würde Musk sagen.