UN-Gerichtshof: Verteidigt Israel sich selbst oder begeht man Völkermord in Gaza?
Am zweiten Tag der Anhörung weist Israel den Genozid-Vorwurf Südafrikas als "verleumderisch" zurück. Man bringt drei Kernargumente vor. Hier sind sie.
Gestern erhielt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag (IGH) die Möglichkeit, auf die Klage Südafrikas, dass die israelischen Verantwortlichen einen Genozid begehen, Stellung zu nehmen und sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen.
"Unbegründet" und "absurd"
Das israelische Rechtsteam argumentierte, die Klage Südafrikas sei "unbegründet", "absurd" und komme einer "Verleumdung" gleich, und erklärte, Israel wolle nicht ein Volk vernichten, sondern sein Volk schützen. Tal Becker, der Rechtsberater des israelischen Außenministeriums, trug die Eröffnungserklärungen Israels vor und argumentierte, dass Südafrika die Ereignisse vom 7. Oktober "ignoriert" habe.
Von der israelischen Verteidigung wurden dabei drei Kernargumente vorgebracht.
Zuerst einmal habe Israel das Recht, sich zu verteidigen. Israels stellvertretender Generalstaatsanwalt für internationale Angelegenheiten, Gilad Noam, knüpfte an dieses Argument an.
Er sprach sich gegen die Anwendung von sogenannten "vorläufigen Maßnahmen" aus (Südafrika fordert das Gericht auf, einen Waffenstillstand, ein Ende der Blockade und Schutz von Gesundheitseinrichtungen "provisorisch" zu verlangen) und führte dabei u.a. an, dass die Hamas von Israel und anderen Ländern als terroristische Organisation betrachtet wird und "einen großangelegten Terroranschlag" verübt habe, auf den man reagiere.
"Nichts kann Völkermord rechtfertigen"
Dieses von Israel vorgebrachte Argument gegen den Vorwurf des Genozids kommt nicht überraschend und wurde über den Verlauf der über drei Monate andauernden Bombardierung des Gazastreifens von israelischen Regierungsvertretern und Militärs wiederholt vorgebracht.
Auch die USA und viele westliche Staaten, darunter insbesondere Deutschland, betonen bis heute, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen, und das mit seinem Krieg in Gaza vollziehe.
Diese Legitimierung des massiven militärischen Vorgehens gegen die Enklave – einschließlich einer humanitären Blockade, mit bisher über 23.000 getöteten Gaza-Bewohnern, 10.000 Kinder und viele Frauen darunter, sowie Zehntausenden Verletzten und Vermissten – wird jedoch von unterschiedlichen Seiten als unplausibel zurückgewiesen.
So erklärte Südafrikas Justizminister Ronald Lamola nach der IGH-Anhörung vor Journalisten, dass nichts, auch der Verweis auf Selbstverteidigung, einen Völkermord rechtfertigen könne.
Israel pocht auf Schutz seiner Bevölkerung
Israel, wie auch die USA, Großbritannien oder die EU beziehen sich bei dem Selbstverteidigungsrecht auf Artikel 51 der UN-Charta. Darin heißt es:
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.
Viele Experten sind nicht davon überzeugt, dass dieses Recht tatsächlich auf den Gaza-Krieg anwendbar ist.
"Das Recht auf Selbstverteidigung kann geltend gemacht werden, wenn ein Staat von einem anderen Staat bedroht wird, was hier nicht der Fall ist", sagte Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, in einer Rede vor dem Australian Press Club am 15. November 2023.
Selbstverteidigung gegen besetztes Volk?
Der Angriff, mit dem Israel am 7. Oktober konfrontiert wurde, sei von einer bewaffneten Gruppe in einem Gebiet, dem Gazastreifen, gekommen, das Israel faktisch kontrolliert. Israel hat seine Streitkräfte 2005 aus dem Gazastreifen zwar abgezogen, doch seit der Machtübernahme durch die Hamas im Jahr 2007 hat es eine Land-, See- und Luftblockade über die Enklave verhängt.
Wie die UN und Menschenrechtsorganisationen klarstellen, kommt das einer Besatzung gleich – auch wenn Israel und seine Verbündeten dieser Einschätzung nicht zustimmen.
Israel behauptet nicht, von einem anderen Staat bedroht worden zu sein. Es wurde von einer bewaffneten Gruppe in einem besetzten Gebiet bedroht. Es kann nicht das Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Bedrohung beanspruchen, die von einem Gebiet ausgeht, das es besetzt hält, von einem Gebiet, das unter kriegerischer Besetzung steht,
… sagte Albanese.
Die UN-Sonderberichterstatterin bezog sich dabei auf ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 2004, in dem der Bau der israelischen Mauern im besetzten Westjordanland als illegal bezeichnet wird. Der IGH wies das israelische Argument zum Bau der Mauer mit der Begründung zurück, Israel könne sich in einem besetzten Gebiet nicht auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen.
Genozidaler Vorsatz?
Nimer Sultany, der öffentliches Recht an der Soas University of London lehrt, erklärte zudem im britischen Guardian:
Das Beharren darauf, dass der Gazastreifen besetzt und die Belagerung Bestandteil eines Apartheidsystems ist, ist wichtig, weil es Israels Argument, es habe in Selbstverteidigung gehandelt, infrage stellt. Es handelt sich nicht um einen Angriff von außen. Der Ausbruch der Gewalt kann daher nicht als nihilistischer Terrorismus, irrationale Gewalt oder tiefverwurzelter Hass verstanden werden. In jedem Fall, so Südafrika, sei das Argument der Selbstverteidigung irrelevant, da Völkermord durch nichts zu rechtfertigen sei. Staaten können im Namen der Sicherheit oder der Selbstverteidigung keinen Völkermord begehen oder Apartheid verhängen.
Das zweite Kernargument von Israel vor dem UN-Gerichtshof gegen die Völkermord-Klage bestand darin, dass man die unterstellte genozidale Absicht als nicht-existent zurückwies. Für den Vorwurf des Völkermords ist Vorsatz zentral.
In diesem Punkt betonte die Verteidigung, dass es eindeutig keine Regierungspolitik sei, obwohl Südafrika eine Reihe von Erklärungen von israelischen Offiziellen und Regierungsvertretern auflistete.
"Massive Diskrepanz" zwischen israelischer Darstellung und Realität
Israel wies auch darauf hin, dass es ein regelbasiertes Land mit einem Rechtssystem ist, sodass alles, was in Gaza falsch laufe und Verbrechen impliziere, vor den nationalen Gerichten verhandelt werden wird. Christopher Staker, ein Anwalt, der Israel vertritt, sagte:
Die unvermeidlichen Todesfälle und das menschliche Leid eines jeden Konflikts sind an sich kein Verhaltensmuster, das eine völkermörderische Absicht plausibel macht.
Zudem handele die israelische Armee in Übereinstimmung mit internationalem Recht und ziele darauf, zivile Schäden zu minimieren.
Thomas MacManus, Dozent für Staatsverbrechen an der Queen Mary University of London, sagte jedoch gegenüber Al Jazeera, dass der IGH wahrscheinlich eine "massive Diskrepanz" zwischen dem Bild, das Israel von seiner humanitären Sorge um den Gazastreifen zeichnet, und "der Realität vor Ort, wo die Menschen laut UN-Organisationen hungern, kein Wasser haben und Angriffe auf Krankenhäuser, Schulen und Universitäten erleben", feststellen werde.
Ist der IGH zuständig?
Das dritte Hauptargument der israelischen Vertretung vor dem UN-Gericht war eher technischer Natur.
Zur Frage der Zuständigkeit argumentierte Israel, dass eine der Anforderungen des IGH-Mandats darin besteht, dass der Staat, der den Fall vorbringt, zunächst versuchen sollte, dieses Problem bilateral zu lösen.
Nach israelischer Auffassung ist es dem Land nicht gelungen, mit Südafrika zu sprechen, bevor es den Fall vor den Gerichtshof brachte. Südafrika wiederum argumentierte, es habe sich an Israel gewandt, aber keine Antwort erhalten.
Das israelische Team habe zwar starke "juristische und verfahrenstechnische Argumente" vorgebracht, so Marwan Bishara, leitender politischer Analyst bei Al Jazeera. Aber er fügte hinzu, dass "Israel das moralische, faktenbasierte, historische und humanitäre Argument aufgrund der Art und Weise, wie sich die Situation in Gaza entwickelt hat – im Zuge eines industriellen Tötens dort – verloren hat".
Das Internationale Gerichtshof wird nun in den nächsten Tagen bzw. Wochen über die von Südafrika geforderten vorübergehenden Maßnahmen wie einen Waffenstillstand beraten. Die Entscheidung darüber, ob Israel im Gaza-Krieg einen Völkermord begangen hat, wird erst in Jahren gefällt werden.