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US-Komplexitätsforscher: Interplanetares Projekt gegen Klimawandel

David Krakauer. Foto: ©Minesh Bacrania für Santa Fe Institute

Das Santa Fe Institute in New Mexico startet eine weltweite Initiative zur Rettung der Erde vor globalen Bedrohungen wie Klimawandel und Ressourcenverknappung

Während die US-Regierung das Weltklimaschutzabkommen gekündigt hat, fossile Energien fördert und Forschungsetats streicht, wollen die Wissenschaftler des Santa Fe Institute [1] in New Mexico den schleichenden Suizid der Menschheit nicht länger hinnehmen. Das "Welthauptquartier der Komplexitätsforschung", so Instituts-Präsident David Krakauer [2], betrachte es als seine Aufgabe, eine Lösungsstrategie für das "komplexeste aller Probleme" anzubieten: das langfristige Fortbestehen komplexen Lebens auf der Erde.

Die transdisziplinäre Forschungseinrichtung am Fuße der Rocky Mountains hat daher das Projekt InterPlanetary [3] gestartet. Die weltweite Initiative hat nichts Geringeres zum Ziel als die Rettung der Erde vor der Zerstörung durch den Menschen. Das Projekt umfasst eine gesellschaftlich-kulturelle Mission, eine Motivationsstrategie, ein wissenschaftliches Programm, eine Open-Source-Plattform und ein jährliches Festival im Stil von Burning Man.

Der Diskussion Hedonismus einimpfen

Globale Bedrohungen wie Umweltzerstörung, Rohstoffverknappung, ökonomische und soziale Ungleichheit, Bevölkerungswachstum und Kriege sind hochkomplexe Phänomene, die durch Vernetzung, vielfältige Wechselbeziehungen und Wandel gekennzeichnet sind. Sie erfordern fachübergreifende und problemorientierte Bewältigungsstrategien.

Eben diese ganzheitliche, transdisziplinäre Herangehensweise ist Kernkompetenz des Santa Fe Institute. Die privat finanzierte Forschungsanstalt bündelt ein weltweites Netzwerk von Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen, die komplexe, adaptive Systeme wie den menschlichen Organismus, Finanzmärkte und Ökosysteme erforschen.

InterPlanetary stellt die globalen Bedrohungen in einen "radikal neuen Kontext": Weltraumfaszination, Technikbegeisterung, Neugier, Abenteuerlust und Spieltrieb sollen als Vehikel dienen, um kreative Lösungen für die existenziellen Probleme des Planeten zu finden. "InterPlanetary will die kollektive Intelligenz der Erde aktivieren - jenseits von Landesgrenzen, Politik und Wirtschaft", erklärt Krakauer. Er hat etwas von einem Musketier aus einem alten Mantel-und-Degen-Film.

Dem Problem an der Quelle begegnen

"Wir leben in einer Zeit pandemischer Dummheit", sagt Krakauer, "das amerikanische Bildungssystem versagt und Politiker wenden einfache Regeln auf eine komplexe Welt an." Das könne nicht funktionieren. Der mathematische Biologe und Evolutionstheoretiker möchte die globalen Probleme an ihren Quellen angehen: der Egozentrik des Menschen und seiner mangelhaften Kenntnis über Wechselwirkungen in komplexen Systemen.

Der Mensch, so Krakauer, tue sich schwer damit, den Zusammenhang zwischen seinem Mikrokosmos und dem Makrokosmos zu verstehen solange er keine Beeinträchtigung seines persönlichen Wohlbefindens wahrnähme. "Wir müssen unsere Denkweise und unser Verhalten fundamental ändern", fordert er. Der theoretische Physiker Geoffrey West ergänzt: "Der Mensch muss im Kopf und im Herz begreifen, dass die Erde ein komplexes System und er ein Teil davon ist."

Mit proteischen Begriffen wie Inter-, Trans- und Antidisziplinarität lassen sich aber keine Massen mobilisieren. Das ist den Wissenschaftlern klar. Um die breite Bevölkerung für ein Projekt dieser Größenordnung zu motivieren, ist eine mächtigere Sprache nötig, die Bilder in den Köpfen entstehen lässt und jeden sofort erreicht.

Extraterrestrisches Gedankenexperiment

"Es gibt zwei Wege, ein Problem zu lösen", sagt Krakauer, "entweder man adressiert es direkt oder man stellt eine deutlich schwierigere Aufgabe und löst das Problem en passant." So steht im Zentrum von InterPlanetary eine Frage galaktischer Dimension: "Was wäre nötig, um eine interplanetare Zivilisation zu gründen?"

Es ist ein Gedankenexperiment. Indem der Mensch sich vorstelle, wie er zu fernen Planeten reist und diese besiedelt, überwinde er seine Egozentrik und wende sich dem Überlebenswichtigen zu, erklärt der Forscher. Bevor man eine Kolonie auf dem Mars oder einem Asteroiden errichten könne, müsse man ja erst einmal eine Vielzahl wissenschaftlicher, technischer, sozialer, psychologischer, ökologischer, ökonomischer und ethischer Fragen klären: Welche Bedeutung haben planetare Zyklen für die Evolution des Menschen? Wie gründet man ein Gesellschaftssystem, das nicht innerhalb kürzester Zeit kollabiert? Wie baut man in lebensfeindlichen Umgebungen Nahrung an?

Alle Fähigkeiten und Technologien, die zum Überleben im All nötig seien, trügen gleichzeitig dazu bei, das Fortbestehen von Leben auf der Erde zu sichern: "Sich den Herausforderungen des Weltraums zu stellen, bedeutet, sich mit der Komplexität des Lebens zu befassen."

Drastischer Perspektivwechsel

InterPlanetary "verändert die Perspektive drastisch, vergrößert die Maßstäbe und refokussiert die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche", erklärt Krakauer. Das imaginäre Szenario zwinge jeden, sich mit der globalen Tragweite seines lokalen Verhaltens auseinander zu setzen. InterPlanetary soll nachhaltige Lösungen hervorbringen, neue Fragen aufwerfen und dem Mensch ins Bewusstsein rufen, was wertvoll ist. Damit trüge das Projekt letztlich auch dazu bei, "Antworten auf die fundamentalste aller Fragen zu finden: Welchen Sinn hat das Leben im Universum?"

Das etwas missverständliche Projektmotto "Ändern wir die Welt - einen Planeten nach dem nächsten" empfiehlt nicht etwa, den Problemen der Erde zu entfliehen. "Im Gegenteil", sagt Krakauer. InterPlanetary appelliere an alle Menschen, Verantwortung für die Erhaltung der Biosphäre "und was jenseits von ihr liegen mag" zu übernehmen. Es verdeutliche die Wichtigkeit der Komplexitätswissenschaft für das Wohlergehen der Erde und "ihrer künftigen Diaspora".

Alexander Gerst hat den Perspektivwechsel real erlebt. "Er verändert einen als Mensch", sagte der ESA-Astronaut nach seiner Rückkehr von der Internationalen Raumstation. Die Weltraumperspektive zeige, so der Geophysiker, wie "klein, schutzbedürftig und zerbrechlich" die Erde sei und wie klein die Gebiete wären, an denen sich Bodenschätze gewinnen lassen. "Da wird jedem sofort klar, dass wir anders mit unseren Ressourcen umgehen müssen." Auch Gersts Heimatbegriff sei ein anderer geworden: "Man realisiert, dass Heimat nicht der kleine Ort ist, an dem man geboren ist, sondern der Planet."

Wissenschaft ist nicht genug

Das Santa Fe Institut steht für Partizipation: Bei der Lösung komplexer Probleme nutzen die Forscher das komplementäre Wissen und die Erfahrung von Nicht-Wissenschaftlern wie Schriftstellern, Filmschaffenden und Spieleprogrammierern. Denn diese stellen Fragen in neue Zusammenhänge und helfen, Lösungen zu finden, die außerhalb gewohnter Denkmuster liegen.

So diskutiert etwa Romanschriftsteller und SFI-Trustee Cormac McCarthy (Kein Land für alte Männer, Die Straße) mit Forschern Themen wie den Ursprung der Sprache und das Unbewusste (The Kekulé Problem [4]). Ebenso ging der Dramatiker und Schauspieler Sam Shepard (Paris, Texas, Vergrabenes Kind) im Institut ein und aus. Auch InterPlanetary ist "radikal inklusiv": Es richtet sich nicht nur an Wissenschaftler, sondern auch an die breite Öffentlichkeit, Bildungsinstitutionen und die Wirtschaft.

Globales Framework für transdisziplinäre Forschung

Das Santa Fe Institute entwickelt gerade Strukturen und Werkzeuge für weltweite transdisziplinäre Forschung, Kommunikation und Zusammenarbeit. Dazu gehört das webbasierte Forum "InterPlanetary Life Support". Es gliedert sich in Themenbereiche, die Forschungsgebiete der Komplexitätswissenschaft abbilden und zugleich relevant für die Weltraumfahrt und -kolonisierung sind. Zu den Themen zählen Architektur, Städte, Gesellschaft, Wirtschaft, natürliche und künstliche Intelligenz, komplexe Zeit, autonome Ökosysteme, planetares Recht und Astrobiologie. Die neue Open-Source-Plattform soll für jeden frei zugänglich und nutzbar sein.

Aufgabe der Komplexitätswissenschaft ist es laut Krakauer, "die Zusammenhänge und Interdependenzen komplexer Systeme offensichtlich zu machen und allgemein verständlich darzustellen". Nur wenn der Mensch die Zusammenhänge verstünde, könne er ein "planetares Bewusstsein" entwickeln, also ein ganzheitliche Denkweise, die das menschliche Handeln und dessen Folgen im Kontext des gesamten Planeten betrachtet.

Interplanetarisches Festival ab 2018

Im Juli fand eine InterPlanetary-Podiumsdiskussion statt, an unter anderen der Science-Fiction-Autor und Spieledesigner Neal Stephenson (Snow Crash, Anathem) und eine Teilnehmerin einer simulierten NASA-Marsmission teilnahmen. Drehbuchautor und Regisseur Jonathan Nolan (The Dark Knight, Interstellar) wurde per Film zugeschaltet. Das Erzählen von Geschichten im spekulativen Modus, meint er, habe einen evolutionären Zweck: "Wir simulieren alternative Realitäten und probieren sie aus."

Ab Juni 2018 soll in Santa Fe jährlich ein InterPlanetary-Festival mit Technik-Expo, Open-Air-Konzerten und Science-Fiction-Filmen stattfinden. "Die Besucher können mit Drohnen spielen oder Mondlandefähren und Photovoltaikanlagen bauen. Die Leute sollen Spaß haben wie beim Burning Man oder auf der Comic Con", erklärt Krakauer. Denn er ist überzeugt: "Ein optimistischer Ansatz ist wertvoller als ein apokalyptischer oder politischer." Santa Fe scheint wie gemacht für eine Veranstaltung dieser Art. Roswell, Los Alamos und Richard Bransons Weltraumbahnhof Spaceport America liegen quasi um die Ecke.

Motivationale Herkulesaufgabe

InterPlanetary fällt in eine Zeit, in der Stephen Hawking prophezeit, dass dem Mensch höchstens noch 100 Jahre auf der Erde bleiben. Elon Musk, Richard Branson und Jeff Bezos liefern sich milliardenschwere Wettrennen ins All, wo ein Billionengeschäft von Space-Tourismus bis Asteroid-Mining wartet. Für Aufregung sorgte auch die Entdeckung mehrerer Planeten in habitablen Zonen, auf denen es möglicherweise Wasser - die Voraussetzung für extraterrestrisches Leben - gibt.

Die breite Bevölkerung erreicht der neue Weltraumenthusiasmus aber nicht. InterPlanetary, dagegen, will Massen für ein generationenübergreifendes Langzeitprojekt begeistern. "Wir müssen wieder lernen, Projekte mit dem Geist der Weltausstellung der 1960er oder des Apollo-Programms anzugehen", wünscht sich Krakauer. Er mag gotische Kathedralen und lange historische Romane wie den Verfall und Untergang des Römischen Reiches [5].

Jeder ist ein Astronaut

Elementarteilchen-Ordner, Quark-Entdecker und Physik-Nobelpreisträger Murray Gell-Mann - er gründete das Santa Fe Institute in den Achtzigern mit - appelliert ebenfalls an die Menschen, ihr individuelles und kollektives Verhalten so anzupassen, dass es auf Lebensqualität und Nachhaltigkeit ausgerichtet ist.

Der theoretische Wissenschaftler fordert Maßnahmen gegen den Klimawandel: "Der Mensch muss im Angesicht der Tatsache handeln, dass es ein gewisses Maß an Unsicherheit gibt. Er darf nicht abwarten, bis es unwiderlegbare wissenschaftliche Beweise für eine spezielle Erscheinungsform des Klimawandels wie die globale Erwärmung gibt. Sobald es sicher ist, dass etwas passiert, wird es zu spät sein, etwas dagegen zu zun."

Wohl kaum jemand formulierte es poetischer als Astronaut Gerst: "Jeder Mensch ist ein Astronaut. Unser Raumschiff ist die Erde. Wir entscheiden, ob wir darauf Passagiere sein wollen oder Mitglieder der Crew."


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3821726

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.santafe.edu
[2] https://www.santafe.edu/people/profile/david-krakauer
[3] http://www.santafe.edu/news-center/news/humans-wanted-hazardous-journey-santa-fe-institutes-interplanetary-project
[4] http://www.nautil.us/issue/47/consciousness/the-kekul-problem
[5] http://gutenberg.spiegel.de/buch/-7742/1