USA: Wie die Außenpolitik-Eliten jeden Kontakt zu ihren Bürgern verlieren

Außenpolitik-Talk mit Anne Applebaum, Christine Amanpour, Eliot Cohen auf CNN. Bild: CNN Screenshot

Die Zustimmung der Amerikaner zu einer Fortsetzung des Ukraine-Kriegs bröckelt. Das Establishment in Washington erklärt ihre Meinung aber für irrelevant. Nicht zum ersten Mal, wie ein Blick auf Vietnam, Afghanistan und Irak zeigt.

Was hält man in Washington wirklich von der öffentlichen Meinung in den USA?

Seit Jahren versucht das Establishment des Politikbetriebs, die sogenannten Beltway-Insider in Washington, verzweifelt, die Vorstellung zu widerlegen, dass es sich bei ihren Vertretern tatsächlich um Eliten handelt: ohne Bezug zu dem, was normale Amerikaner wollen und benötigen, während sie als Sklaven der konventionellen außenpolitischen Lehre und Dogmen agieren.

Aber es sind wieder Kriegszeiten, und da fallen die Masken. Es begann mit einem Strom von Artikeln der politischen Analysten Eliot Cohens und Anne Applebaums im Zuge der russischen Invasion, in denen sie fordern, dass die Amerikaner den Krieg in der Ukraine als unseren Kampf ansehen, als Kampf für die Demokratie und die liberale Weltordnung. Wenn die Amerikaner dafür nicht bereit seien, dann stimme etwas nicht mit ihnen, dann hätten sie moralisch versagt.

Kelley Beaucar Vlahos ist Senior Advisor am Quincy Institute und Redaktionsleiterin von Responsible Statecraft.

Dieses ungeschickte Agieren passt zu den Taktiken der Neokonservativen, denn sie haben dasselbe im globalen "Krieg gegen den Terror" versucht und in hohem Maße dazu beigetragen, dass der Irak-Krieg fast ein Jahrzehnt und der in Afghanistan volle 20 Jahre lang andauerte.

Neben der Zerstörung zweier Länder, Billionen von verschleuderten Dollar, einer massiven Flüchtlingskrise, einer neuen Generation von US-Kriegsveteranen, die lebenslang auf Hilfe angewiesen ist, und unzähligen Toten sowie Verwundeten sind diese "Eliten" zu einem großen Teil für das Misstrauen gegenüber Washington verantwortlich, das die Kultur und Politik hierzulande bis ins Mark zerfressen hat.

Eine Umfrage nach der anderen zeigt, dass das Vertrauen in die amerikanischen Institutionen, einschließlich des einst gepriesenen Militärs, immer mehr schwindet. Das ist es, was ein Krieg, der auf Lügen, Verzerrungen und rhetorischem Mobbing basiert, in einer bereits angespannten und gespaltenen Gesellschaft anrichten wird.

Hinzu kommt der finanzielle Zusammenbruch von 2008, dem die US-Regierung mit einer beispiellosen Bankenrettung begegnete, während Hausbesitzer und Arbeiter ums Überleben kämpften. Das bildet die Grundlage für großen populistischen Bewegungen – auf der Linken wie auf der Rechten.

Der Aufstieg von Bernie Sanders und Donald Trump wurde zum Teil durch die anhaltende Skepsis gegenüber den laufenden Kriegen und den Eliten an der Spitze der US-Außenpolitik begünstigt. Diese Politik wird zunehmend als eigennützig und abgekoppelt von den amerikanischen Interessen wahrgenommen.

Man sollte meinen, dass die Eliten ihre Lektion gelernt hätten.

Aber der Krieg in der Ukraine hat die Ignoranz wiederbelebt. Erneut werden die Ansichten und Bedürfnisse der amerikanischen Öffentlichkeit beiseite geschoben, während man die Bürger bevormundet. Ein Kommentar von Gian Gentile und Raphael S. Cohen, der letzte stellvertretender Direktor der Army Research Division der Rand Corporation bzw. des Air Force Strategy and Doctrine Program, sagt alles.

Der Artikel mit dem Titel "The Myth of America's Ukraine Fatigue" richtet sich eindeutig an das Beltway-Establishment in Washington. Er propagiert zugleich, dass man sich nicht um Umfragen oder gar die öffentliche Meinung in den USA kümmern sollte. Der lange Krieg der Ukraine (und in der Tat auch Washingtons) werde weitergehen, egal was der hoi polloi, das gemeine Volk denkt oder fühlt, so die Botschaft.

Im Krieg ist es aus rein politischer Sicht für Politiker in der Regel sicherer, den Kurs beizubehalten. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Demokratien in bewaffneten Konflikten ziemlich gut darin sind, auch länger zu kämpfen. Von den antiken Athenern während des Peloponnesischen Krieges bis zum heutigen Tag waren Demokratien in der Regel nicht die Wankelmütigen, verschrumpelte Veilchen, wie sie von ihren Gegnern gerne dargestellt werden. In den Vereinigten Staaten waren die Kriege in Korea, Vietnam, Irak und Afghanistan letztlich allesamt äußerst unpopulär. Dennoch kämpften die USA drei Jahre lang in Korea, fast neun Jahre lang im Irak (bevor sie sich nach dem anfänglichen Rückzug wieder zurückzogen) und fast 20 Jahre lang sowohl in Vietnam als auch in Afghanistan. In all diese Kampagnen wurde wesentlich mehr amerikanisches Blut und Vermögen investiert, als es das Engagement der USA in der Ukraine bisher erfordert hat.

Die Autoren beziehen sich auf eine Reihe aktueller Umfragen, die zeigen, dass die bedingungslose Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine gegen die russische Invasion an ihre Grenzen stößt und in einigen Fällen sogar schwächer wird.

Amerikaner sind zunehmend gegen langen Krieg und für Verhandlungen

Cohen und Gentile sagen nun, dass die Amerikaner die ukrainische Souveränität und den Kampf dafür unterstützen. Das ist absolut richtig. Was die Autoren aber verschweigen, ist, dass die Umfragen darauf hindeuten, dass die Bevölkerung besorgt ist über einen sich lange hinziehenden Krieg, der zu mehr Toten und einer direkten Konfrontation der USA mit den Russen führen könnte.

Die US-Bürger sind auch relativ wenig begeistert darüber, die Ukraine zu unterstützen, "solange es nötig ist". Und sie sind mehr und mehr an Verhandlungen interessiert, um den Krieg so früh wie möglich zu beenden, selbst wenn das letztlich Zugeständnisse für beide Seiten bedeutet.

Anstatt die Nuancen zu erkennen und den Amerikanern Anerkennung dafür zu zollen, dass sie die Auswirkungen eines weiteren langen Krieges berücksichtigen (unabhängig davon, ob die USA direkt vor Ort involviert sind oder nicht), beschuldigen die Autoren die Medien, die ihrer Meinung nach die negativen Botschaften der Umfragen aufbauschen würden. Außerdem weisen sie darauf hin, dass – unter Verweis auf Vietnam und unsere jüngsten Kriege – die Konflikte weitergehen werden (und aus ihrer Sicht zu Recht), egal wie die öffentliche Meinung ist.

In Hinsicht auf Konflikte in der Vergangenheit und unter der Maßgabe, dass sich die gegenwärtigen Trends fortsetzen, könnte es Jahre dauern, bis eine abnehmende Unterstützung der amerikanischen Öffentlichkeit tatsächlich zu einer Änderung der Politik führt,

… so die Autoren. Cohen und Gentile (ähnlich wie ihre Kollegen in der Ära des Irak- und Afghanistankrieges) setzen dabei diejenigen herab, die das "Narrativ der Ukraine-Müdigkeit verstärken". Sie packen die "Schlechtredner" in übersichtliche Kategorien: 1) "America First"-Republikaner, die sich lieber auf innenpolitische Themen konzentrieren, 2) "reflexartige" Antikriegsaktivisten auf der Linken und 3) diejenigen, die "vielleicht wirklich mit den russischen Argumenten sympathisieren", dass die Amerikaner des Krieges überdrüssig werden.

In der Zwischenzeit "glauben einige Amerikaner vielleicht wirklich, dass sie einen höheren Preis für den Konflikt zahlen, als es tatsächlich der Fall ist, aber das basiert in erster Linie auf Wahrnehmungen und nicht auf Fakten".

Das stimmt. Das ist genau das, was Fred Kagan, der Neokonservative vom American Enterprise Institute, der an der Ausarbeitung des Irak-Kriegsplans beteiligt war, 2008 in einem langen Artikel für das Magazin National Review mit dem Titel "Why Iraq matters: Talking back to anti-war party talking points" sagte, indem folgende alberne Plattitüde verwendete:

Die Amerikaner haben das Recht, des Konflikts überdrüssig zu sein und ihn zu Ende bringen zu wollen. Doch bevor wir den falschen aber bequemen dem richtigen aber steinigen Weg vorziehen, sollten wir die beiden Kernannahmen, die den aktuellen Antikriegsargumenten zugrunde liegen, genauer untersuchen: dass wir diesen Krieg verlieren, weil wir ihn um keinen akzeptablen Preis gewinnen können, und dass es besser ist, zu verlieren, als weiter zu versuchen, zu gewinnen.

Die Ironie dabei: Oberst Gian Gentile war damals einer der wenigen Mutigen im aktiven Militärdienst, die sich offen gegen Fred Kagans "Truppenverstärkung" und den Wahn der Aufstandsbekämpfung aussprachen, die zu jener Zeit vorherrschten. Er war ein scharfer Kritiker von Washingtons übertriebener Kriegs-PR und selektiver Geschichtsverdrehung. Es ist verwunderlich, dass Gentile jetzt die Auswirkungen der öffentlichen Meinung auf die gegenwärtigen Kriege simplifiziert – und unterstellt, sie seien relativ unwichtig –, während er extrem schwache Argumente für ein "Weitermachen wie bisher" liefert.

Die Führer der freien Welt müssen ihre Öffentlichkeit daran erinnern, was in der Ukraine auf dem Spiel steht – nicht nur für die europäische und globale Sicherheit, sondern für die Demokratie im Allgemeinen,

… ruft Gentile in seinem jüngsten, gemeinsam mit Cohen verfassten Meinungsartikel aus.

Und das von einem Historiker, der in seinem 2013 erschienenen Buch "America's Deadly Embrace of Counter-Insurgency" nicht nur gegen die Mythen von Irak und Afghanistan angegangen ist, sondern auch die Parolen der US-Aufstandsbekämpfung in Vietnam und den "Erfolg" des britischen Militärs in Malaya (1948-60) auseinander genommen hat.

Gentiles Kommentar zum "Mythos der Ukraine-Müdigkeit" ist elitäres Denken, das sich angesichts der jüngsten Umfragen wie eine Aufmunterung fürs Washington-Establishment liest. Für alle anderen zeigt er, dass dieselben Leute, die während des Irak-Kriegs nicht wollten, dass normale Amerikaner über Außenpolitik nachdenken, immer noch am Drücker sind, ob sie sich nun "Eliten" nennen oder nicht.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann.