USA kurz davor, eine weitere rote Linie in Ukraine zu überschreiten: ATACMS-Raketen

Mark Episkopos

Eine ATACM-Rakete wird von einem Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem abgefeuert. Bild: Wikimedia Commons / Public Domain

Langstreckenwaffen sollen wohl an Selenskyj geliefert werden. Mit ihnen kann die Krim erreicht werden. Das gefährliche Spiel des Westens mit dem Feuer.

Einem Bericht von ABC News vom Wochenende zufolge sind die USA bereit, die Ukraine mit ATACMS-Raketen zu beliefern.

"Sie werden kommen", sagte ein Regierungsvertreter, um hinzuzufügen, dass alle Pläne bezüglich Sicherheitshilfen für die Ukraine noch geändert werden könnten. Die taktischen Raketensysteme der US-Armee (ATACMS) seien für ein künftiges Hilfspaket "im Gespräch", sagte ein zweiter Beamter gegenüber ABC.

Mark Episkopos ist Professor für Geschichte an der Marymount University in den USA.

ATACMS-Raketen – mit einer Reichweite von 190 Meilen (ca. 306 km) bzw. 300 Kilometern – könnten den ukrainischen Streitkräften helfen, Ziele auf der Krim anzugreifen, die von hochrangigen ukrainischen Beamten und vielen westlichen Beobachtern als entscheidendes Terrain im Ukraine-Krieg angesehen wird.

Die geplante ATACMS-Verlegung wurde von keinem Offiziellen bestätigt, der bereit war, sich dazu zu äußern. "Es gibt gegenwärtig keine Entscheidung über ATACMS", sagte der Sprecher des Weißen Hauses, John Kirby, laut ABC News. "Wie der Präsident gesagt hat, sind sie nicht vom Tisch ... wir diskutieren weiterhin die Durchführbarkeit von ATACMS", fügte er hinzu.

Die von ABC mitgeteilte Entscheidung, ATACMS-Raketen an die Ukraine zu schicken, würde, falls sie bestätigt wird, dem üblichen Muster des Westens folgen, bei dem man sich zunächst weigert, Kiew mit bestimmten schwereren Waffen zu beliefern, um dann im Zuge des Krieges den Kurs zu ändern.

So erklärten leitende US-Beamte in den ersten Wochen nach der russischen Invasion im Februar 2022, dass es keine Pläne gebe, Patriot-Raketenbatterien in die Ukraine zu schicken. Sie wiesen darauf hin, dass diese Systeme auf ukrainischem Territorium von US-amerikanischen Truppen betrieben werden müssten, was die Vereinigten Staaten zu einem aktiven Teilnehmer an dem Konflikt machen würden.

Noch im Januar 2023 sprachen sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und der Vorsitzende der Generalstabschefs, General Mark Milley, Berichten zufolge gegen die Entsendung von M1-Abrams-Panzern in die Ukraine aus, da sie den Bedürfnissen des ukrainischen Militärs nicht gerecht würden und zu kompliziert in Betrieb, Wartung und Reparatur seien.

Inzwischen hat das Weiße Haus seine Haltung in beiden Fragen revidiert und Kiew ein Patriot-System geliefert sowie die Lieferung von 31 M1A2 Abrams-Panzern genehmigt.

Die laufende Debatte über die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen spielt sich auf ähnliche Weise ab. Präsident Biden und hochrangige Regierungsbeamte haben in den letzten 18 Monaten wiederholt die Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an die Ukraine ausgeschlossen, da sie eine Eskalation befürchteten, falls die Jets für Angriffe auf Ziele in Russland eingesetzt würden.

Im August kündigte das Weiße Haus an, noch in diesem Jahr mit der Ausbildung ukrainischer Piloten auf F-16-Kampfjets zu beginnen – eine dramatische Kehrtwende, mit der die Voraussetzungen dafür geschaffen werden sollen, dass die Ukraine F-16-Kampfjets von den US-Verbündeten Dänemark und den Niederlanden erhalten und einsetzen kann.

Der Medienbericht vom Samstag ist der bisher deutlichste Hinweis darauf, dass die Bereitstellung von ATACMS nach dem bewährten Muster ablaufen könnte: monatelanges Zögern oder sogar völlige Ablehnung, gefolgt von einer drastischen, plötzlichen Kehrtwende. Nicht jeder hält es für eine gute Idee.

Risiko, Risiko, Risiko

"Je verzweifelter die Biden-Administration versucht, Fortschritte im Krieg zu erzielen, desto mehr riskiert sie, dass Moskau Vergeltungsmaßnahmen gegen den Westen ergreift", sagte George Beebe, Direktor für große Strategie des Quincy-Instituts, in Reaktion auf den Bericht.

Die Gefahr besteht darin, dass wir erst erfahren, wo Russlands rote Linien sind, wenn wir sie überschritten haben.

Die westliche "Boiling the frog"-Herangehensweise bei den Waffenlieferungen an die Ukraine scheint auf Berechnungen hinsichtlich des russischen Verhaltens und der dem Krieg zugrunde liegenden Dynamik zu beruhen. Wie berichtet wurde, befürchten westliche Politiker, dass ein plötzlicher, drastischer Anstieg der Hilfe, bei dem die gesamte Macht des Nato-Arsenals in großen Hilfspaketen gebündelt wird, in denen alle verfügbaren Waffen innerhalb einer kurzen Zeitspanne angekündigt werden, zu einer katastrophalen Eskalation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen und einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato führen könnte.

Durch die zeitlich gestaffelte Lieferung größerer Waffensysteme, so die Überlegung, kann der Westen Russlands rote Linien langsam aufweichen und die Hilfe für die Ukraine bei minimalem Risiko Schritt für Schritt ausweiten.

Zweitens sind die ukrainischen Streitkräfte (AFU) durch ihre Ausbildungs-, Logistik- und Wartungsanforderungen in der Aufnahme von Hilfsleistungen eingeschränkt. Westliche Regierungen können zwar alles auf einmal zusagen, aber es würde Jahre dauern, bis die Waffen in nennenswerten Mengen geliefert, eingesetzt und genutzt werden.

Der Bericht über die Lieferung von ATACMS-Raketen folgt unmittelbar auf die überraschende Ankündigung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass die ukrainischen Streitkräfte mit dem Einsatz von im Inland hergestellten Langstreckenraketen begonnen haben. Selenskyj sagte, dass die Rakete erfolgreich ein 700 Kilometer entferntes Ziel getroffen habe, wobei der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksiy Danilov, anmerkte, dass die neue Waffe eine noch größere Reichweite habe.

Von unabhängiger Seite wurden keine Einzelheiten zu der mysteriösen Rakete bestätigt, noch wurde ihre Existenz überprüft. Während die von Kiews westlichen Geldgebern zur Verfügung gestellten Waffen mit einem Verbot von Angriffen auf Ziele innerhalb des russischen Hoheitsgebiets verbunden sind, kann die ukrainische Armee Raketen aus eigener Produktion ohne derartige Einschränkungen einsetzen. Ukrainische Offizielle machten keinen Hehl aus ihren Plänen für diese neue Waffe:

Glauben Sie mir, schon sehr bald wird jemand [in Russland] verbrannt werden, und zwar im direkten Sinne des Wortes,

sagte Danilow laut Washington Post.

Obwohl die ATACMS über eine etwa viermal so große Reichweite verfügen wie die Himars-Raketen (High Mobility Artillery Rocket Systems), die von den USA an die Ukraine geliefert werden, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie den Storm-Shadow-Raketen, die der Ukraine im Sommer von Großbritannien und Frankreich zugesagt und geliefert wurden, wesentlich überlegen sind.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, betonte im September 2022, dass die Lieferung von Waffen mit größerer Reichweite an Kiew eine "rote Linie" darstelle, die die USA "zu einer Konfliktpartei" mache.

Die Antwort Moskaus auf solche Lieferungen, so drohte der russische Außenminister Sergej Lawrow, werde darin bestehen, mehr Territorium der Ukraine zu erobern:

Je stärker sie Waffen liefern, desto weiter werden wir die Linie, jenseits derer [die Ukraine] Russland angreifen kann, von unserem Territorium entfernen,

… sagte er.

Anzeichen dafür, dass die USA kurz davor stehen, grünes Licht für die Lieferung von ATACMS-Raketen zu geben, könnten durch enttäuschende Entwicklungen auf dem Schlachtfeld ausgelöst worden sein. Da die ukrainische Gegenoffensive in der südlichen Region Saporischschja, die im Sommer mit Spannung erwartet wurde, weiterhin nur marginale Erfolge erzielt und "langsamer als erwartet" verläuft, diskutieren westliche Planer und Entscheidungsträger bereits über kommende ukrainische Offensiven im Jahr 2024 und darüber hinaus.

Obwohl keine der beiden Systeme rechtzeitig für die Gegenoffensive im Sommer in der Ukraine eintreffen kann, glauben einige Militärbeobachter, dass F-16 und ATACMS eine Schlüsselrolle bei den künftigen Versuchen der Ukraine spielen können, die von Russland besetzten Gebiete im Süden und Südosten des Landes zurückzuerobern.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.

Mark Episkopos ist Professor für Geschichte an der Marymount University in den USA. Er forscht über Fragen der nationalen Sicherheit und schreibt über internationalen Beziehungen.