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USA vs. Russland, China: Experten warnen vor nuklearer Vernichtung

Zivilgesellschaftliche Bewegungen fordern schon lange eine Ächtung von Atomwaffen und ein Ende der Eskalation. Bild: IPPNW, ICAN / CC BY-NC-SA 2.0

Ira Helfand (IPPNW) und Zia Mian (Atomwaffenexperte) sagen: Noch nie war die Welt näher am Atomkrieg. Anstatt auf Russland zu zeigen, sollte die Nato aufhören, selbst mit Nuklearwaffen zu drohen. Wie könnte eine Deeskalation aussehen?

Der Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja in der Ukraine hat gezeigt, wie gefährlich selbst die zivile Nutzung der Atomenergie sein kann, wenn die von ihr ausgehende Gefahr, wie Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital feststellt, "ins militärische Kalkül einbezogen wird". Telepolis hat darüber berichtet [1]. Zugleich hat die Atomkriegsgefahr im Zuge des Ukraine-Kriegs stark zugenommen.

Die Vereinten Nationen warnten bereits Anfang des Monats, dass die Menschheit angesichts der weltweit eskalierenden Spannungen "nur eine Fehlkalkulation von der nuklearen Vernichtung entfernt ist".

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres sagte vor dem Hintergrund der zunehmenden Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und zwei weiteren Atommächten, Russland und China, bei einem UN-Treffen zum Atomwaffensperrvertrag:

Die Wolken, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges verzogen haben, ziehen nun wieder zusammen. Wir haben bisher außerordentliches Glück gehabt. Aber Glück ist keine Strategie, und es schützt auch nicht davor, dass geopolitische Spannungen in einen nuklearen Konflikt ausufern.

Das Interview zur Atomkriegsgefahr mit Ira Helfand, ehemaliger Präsident der Organisation Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, und der Abrüstungsaktivist Zia Mian, Ko-Direktorin des Princeton Program on Science and Global Security, wird von Amy Goodman und Nermeen Shaikh geführt. Telepolis veröffentlicht es in Kooperation mit US-Programm Democracy Now [2].

Ira Helfand ist ehemaliger Präsident der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW)
Ira Helfand, ihr Artikel in der Zeitschrift The Hill trägt die Überschrift "Versuchen Russland und die Nato, den Atomwaffensperrvertrag zu zerstören?". Erklären Sie uns, was Sie damit meinen.
Ira Helfand: Es hat mehrere Drohungen Russlands und einige Drohungen der Nato gegeben, im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Atomwaffen einzusetzen. Das ist eine völlig inakzeptable Situation. Als Reaktion darauf hat meine Organisation, die IPPNW, zusammen mit 17 anderen Friedensnobelpreisträgern eine Erklärung verfasst, in der sie Russland und die Nato auffordern, sich ausdrücklich zu verpflichten, im Zusammenhang mit diesem Krieg unter keinen Umständen Atomwaffen einzusetzen. Sie haben sich geweigert, eine solche Erklärung abzugeben.
Beim Treffen zum Atomwaffensperrvertrag fordern sie aber gleichzeitig, dass die Länder, die keine Atomwaffen haben, weiterhin davon absehen, sich diese zu beschaffen, während sie selbst nicht einmal versprechen, die Welt in den nächsten Wochen nicht in die Luft zu jagen. Es ist eine außerordentlich heuchlerische Situation. Dieses Verhalten gefährdet den Atomwaffensperrvertrag.
Die Bedrohung für den Vertrag geht von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates aus – den Nato-Mitgliedern USA, Großbritannien und Frankreich sowie Russland und China –, die nach dem Nichtverbreitungspakt verpflichtet sind, in Verhandlungen über die Abschaffung ihrer Atomwaffenarsenale einzutreten, aber sich in den letzten über 50 Jahren standhaft geweigert haben, dieser Verpflichtung nachzukommen.
Und genau das ist das Problem, mit dem wir konfrontiert sind. Das Verhalten der Nato und Russlands im Ukraine-Konflikt hat das völlige Versagen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, ihren Teil der Vereinbarung des Atomwaffensperrvertrags einzuhalten, nur noch unterstrichen. Es bringt den Vertrag in Gefahr.
Zia Mian, könnten Sie sich zu Ihren Sorgen um das Kernkraftwerk Saporischschja äußern, das das größte in Europa und eines der größten der Welt ist?
Zia Mian ist Ko-Direktor des Programms für Wissenschaft und globale Sicherheit an der Princeton University
Zia Mian: Das Kernkraftwerk Saporischschja wurde wie alle Kernkraftwerke nie für Kriegsgebiete konzipiert, beabsichtigt oder erdacht. Sie sind auch in Friedenszeiten gefährlich genug, wenn man die Geschichte der nuklearen Unfälle, der komplexen Technologie, des institutionellen und menschlichen Versagens bedenkt, die wir im Laufe der Geschichte erlebt haben. Seit über 40 Jahren erleben wir auch Angriffe auf Kernkraftwerke.
Es sei daran erinnert, dass Israel vor 40 Jahren einen Atomreaktor im Irak angegriffen hat. Das war der erste Angriff auf einen Atomreaktor durch einen anderen Staat. Auch während des iranisch-irakischen Krieges wurden Reaktoren angegriffen. Der Reaktor in Dimona in Israel wurde ebenfalls angegriffen. Und jetzt sehen wir, dass Atomreaktoren zudem Cyberangriffen ausgesetzt sind.
Wir sollten uns nicht so sehr mit den Details eines bestimmten Reaktors beschäftigen, sondern uns die Frage stellen: Können wir uns in einer Welt sicher fühlen, in der diese unglaublich gefährlichen Technologien existieren, vor allem in den Staaten, die in den Krieg ziehen und nicht nur Städte und Menschen angreifen, sondern auch Industrieanlagen, einschließlich Kernreaktoren?
Man darf nicht vergessen, dass Indien und Pakistan seit langem mit der Bedrohung durch Angriffe auf die Atomanlagen der jeweils anderen Seite leben. Im Jahr 1988 vereinbarten sie sogar einen Vertrag, die Atomanlagen des jeweils anderen nicht anzugreifen, weil sie die Folgen solcher Angriffe fürchteten.
Das könnten andere Staaten aufgreifen und sich die Frage stellen: Solange wir nicht alle Nuklearanlagen sicher abschalten und sicherstellen können, dass sich diese Probleme in Zukunft nicht wiederholen, sollten wir zumindest vereinbaren, sie nicht anzugreifen.

"Unsere Atomwaffen sind gut. Eure Atomwaffen sind schlecht"

Zia Mian, Sie haben Anfang des Jahres mit Ihren Kollegen in Princeton an einer Simulation gearbeitet, in der untersucht wurde, was im Falle einer Eskalation passieren könnte, bei dem ein konventioneller Krieg zwischen den USA und Russland zu einem Atomkrieg werden könnte. Können Sie uns etwas über diese Simulation und Ihre Ergebnisse sagen?
Zia Mian: Vor einigen Jahren hat das Princeton Program on Science and Global Security versucht zu verstehen, welche Folgen die derzeitigen Atomkriegspläne der USA, der Nato und Russlands haben könnten, soweit wir sie verstehen. Nachdem wir diese Kriegspläne durchdacht hatten, wobei wir öffentlich zugängliche Quellen und das, was wir über die Anzahl und die Standorte der US-amerikanischen und russischen Atomwaffen, ihre Stellungen und Ziele wissen, verwendeten, versuchten wir, Schritt für Schritt durchzugehen, was in einem konventionellen Krieg in einer Eskalation passieren würde.
Zunächst würde eine Atomwaffe auf dem Schlachtfeld zum Einsatz kommen, dann würde Vergeltung geübt, was auf einer zweiten Stufe zu einem größeren Einsatz von Atomwaffen auf beiden Seiten führen würde, bis hin zu einem totalen Atomkrieg und den sich daraus ergebenden Folgen.
Dabei kam heraus, dass es innerhalb weniger Stunden zu mehr als 100 Millionen Opfern kommen würde. Das Strategische Kommando der USA gibt öffentlich zu, dass alle ihre Atomkriegsübungen – sie sind aktenkundig – in einem totalen globalen thermonuklearen Krieg enden. Die Kriegspläne, die sie haben, enden also immer mit dem Ende der Welt. Das ist es also, was wir zu erforschen und zu erklären versuchten.
Während der Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags gaben Frankreich, Großbritannien und die USA eine Erklärung ab, in der es heißt: "Atomwaffen sollten, solange sie existieren, Verteidigungszwecken dienen, Aggressionen abschrecken und Kriege verhindern. Wir verurteilen diejenigen, die Atomwaffen für militärischen Zwang, Einschüchterung und Erpressung einsetzen oder damit drohen würden." Wie beurteilen Sie, Zia Mian, diese Aussage?
Zia Mian: Im Grunde genommen sagen die USA, Frankreich und Großbritannien: "Unsere Atomwaffen sind gut. Eure Atomwaffen sind schlecht". Obwohl, wie wir alle wissen, die USA, Großbritannien und Frankreich nukleare Drohungen aussprechen. Das nennt man nukleare Abschreckung. Die Praxis der nuklearen Abschreckung selbst ist militärischer Zwang, Einschüchterung und Erpressung. Wenn wir es tun, nennen wir es Abschreckung; wenn sie es tun, nennen Sie es das, was es ist, nämlich Nötigung, Einschüchterung und Erpressung.
Daniel Ellsberg wies bereits in den 1950er Jahren in einem berühmten Vortrag über Zwang und Erpressung im Atomzeitalter darauf hin, dass Atomwaffen im Grunde genommen, außer in Zeiten eines aktiven Krieges, wenn sie explodieren, Instrumente zur Androhung eines Atomkrieges sind. Sie sind als Instrumente der Nötigung, Einschüchterung und Erpressung gedacht. Die drei westlichen Atomwaffenstaaten haben zum ersten Mal zumindest die Tatsache anerkannt, dass es bei Atomwaffen um Zwang, Einschüchterung und Erpressung geht. Was sie nicht sagen, ist, dass das für alle Atomwaffen gilt.
Zia Mian, Sie haben Anfang des Jahres an der Wiener Konferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag teilgenommen. Sprechen Sie über die Bedeutung dieses Vertrags, warum er überhaupt zustande gekommen ist und was der Inhalt der Diskussionen war.
Zia Mian: Der Atomwaffenverbotsvertrag ist der erste internationale Vertrag, der Kernwaffen absolut und bedingungslos verbietet. Und er ist auch der erste und einzige Vertrag, der den Einsatz von Atomwaffen und sogar die Androhung eines solchen Einsatzes verbietet. Hätten wir den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen tatsächlich in Kraft gesetzt, mit Beteiligung von USA, Russland usw., dann wäre die Androhung des Kernwaffeneinsatzes heute kein Problem mehr.
Die Ursprünge dieses Vertrages gehen auf den Beginn des Atomzeitalters zurück. Es war der erste Beschluss, den die Vereinten Nationen 1946 fassten. Die Staaten sagten, dass wir vor allem einen Plan für die Abschaffung von Atomwaffen brauchen. Mit diesem Vertrag, der 2021 in Kraft getreten ist, wurde dieser erste Schritt getan. Es gibt jetzt ein internationales Rechtsinstrument, das Atomwaffen verbietet und den Einsatz und die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen verbietet.
In Wien haben die Länder, die diesem Vertrag beigetreten sind, eine Erklärung abgegeben, in der sie speziell auf die Bedrohung und den Einsatz von Atomwaffen in der heutigen Form eingehen. Sie sagten, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen, durch Russland und jeden anderen Staat, unter allen Umständen eine Verletzung des Völkerrechts und der UN-Charta darstellt und ausdrücklich verurteilt werden sollte. Eine klarere Erklärung gegen die Bedrohung durch Atomwaffen kann man sich also nicht wünschen – im Gegensatz zu der Art von Erklärung, die Sie von Frankreich, Großbritannien und den USA gehört haben und die besagt: "Unsere atomaren Drohungen sind in Ordnung. Die Drohungen der anderen sind schlecht."
Ira Helfand, der Generalsekretär der Vereinten Nationen ist zum 77. Jahrestag des Abwurfs der ersten Atombombe der Welt auf Hiroshima am 6. August 1945 durch die USA, gefolgt vom Abwurf der zweiten Bombe auf Nagasaki am 9. August 1945, nach Japan gereist. Könnten Sie sich zu seiner Aussage äußern, dass wir der nuklearen Vernichtung näher sind als je zuvor? Denken Sie, dass die zunehmenden Spannungen mit der Ukraine, Russland und China – und die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato – die Spannungen verschärfen?
Ira Helfand: Die Spannungen eskalieren eindeutig. Wir sind einem Atomkrieg näher als je zuvor. Das Problem ist: Wir glauben nicht an die totale Zerstörung, weil es eine so schreckliche Realität ist, mit der wir konfrontiert sind. Aber wir sollten anfangen, die Gefahr zu realisieren.
Die nukleare Zerstörung ist nicht unvermeidlich. Es ist keine Naturgewalt, die wir nicht kontrollieren können. Wir wissen, wie wir diese Waffen unschädlich machen können. Wir müssen das jetzt umsetzen.
In den Vereinigten Staaten haben wir eine nationale Kampagne mit dem Namen Back from the Brink gestartet, um zu versuchen, die Regierung der USA zu zwingen, ihre Nuklearpolitik grundlegend zu ändern. Sie sollte erkennen, dass Atomwaffen die Welt nicht sicherer machen, sondern die größte Bedrohung für die Sicherheit darstellen. Daher müssen sie beseitigt werden.
Wir müssen die Vereinigten Staaten also dazu bringen, Verhandlungen mit den anderen Atomwaffenstaaten über ein überprüfbares und durchsetzbares Abkommen aufzunehmen und ihre Atomwaffenarsenale abzuschaffen. Damit würden sie ihre Verpflichtungen gemäß Artikel 6 des Atomwaffensperrvertrags erfüllen.
Die Führer der Großmächte – Biden, Xi und Putin – sollten erkennen, dass die Politik, die sie verfolgen, zum Ende der Welt, wie wir sie kennen, führen wird. Sie spielen dieses gefährliche Spiel im Kampf um Macht und Reichtum in der Welt. Doch der Sieger wird am Ende auf einem Aschehaufen sitzen, also auf dem, was von unserer Zivilisation übrig bleiben wird, wenn sie atomar zerstört wurde.
Die Großmächte müssen begreifen, dass sie zusammenarbeiten müssen, wenn sie die nukleare Bedrohung, die Klimakrise und die künftigen Pandemien bewältigen wollen. Sie müssen kooperieren, denn sonst wird keiner von uns überleben.

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https://www.heise.de/-7239804

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[1] https://www.heise.de/tp/features/Warten-auf-eine-Atomkatastrophe-in-der-Ukraine-7238745.html?seite=2
[2] https://www.democracynow.org/2022/8/4/united_nations_nuclear_annihilation_united_states