Warten auf eine Atomkatastrophe in der Ukraine?
Seite 2: "Eine neue Dimension der Kriegsführung"
- Warten auf eine Atomkatastrophe in der Ukraine?
- "Eine neue Dimension der Kriegsführung"
- Auf einer Seite lesen
Der Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital hatte schon Anfang des Monats analysiert: "Wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Kriegsführung zu tun." Für den Atomphysiker ist klar, dass nun "erstmals die große Gefahr, die von Atomkraftwerken ausgeht, ins militärische Kalkül einbezogen wird.
Aus seiner Sicht baut die russische Armee das Kraftwerk zu einer Militärbasis aus und nutzt es als Schutzschild. Das sei enorm riskant:
"Wenn hier ein schwerer Schaden passiert, hat man einen Super-GAU, dann gibt es großflächige radioaktive Belastungen, die auch Europa betreffen können."
Und sicher würden sich auch dann beide Seiten die Schuld zuschieben.
Eine Sache stellt Greenpeace unzweideutig fest. "Weder die Reaktorgebäude noch die Becken für abgebrannte Brennelemente sind dafür ausgelegt, dem Einschlag einer Rakete oder Artillerie standzuhalten.."
Der False-Flag-Angriff, der am vergangenen Freitag nach gezielt gestreuten Spekulationen stattfinden hätte sollen, fand bisher nicht statt. Dennoch: Die Lage ist und bleibt sehr gefährlich. Die Gemengelage ist derart konfus, dass es jederzeit durch den Beschuss, egal von welcher Seite er nun kommt, in einem der Meiler zu einem schweren Unfall mit unabsehbaren Folgen kommen könnte.
Deshalb kann man Greenpeace nur zustimmen - "Ein Atomkraftwerk zu beschießen ist unverantwortlicher Wahnsinn" - und nur dafür plädieren, die Atomkraftwerke in der Ukraine abzuschalten. Die Umweltorganisation verweist auch darauf, dass Reaktoren in Saporischschja veraltet sind. "Sie wurden bereits in den 1970er Jahren gebaut und konzipiert, ihre ursprüngliche Lebensdauer von 40 Jahren ist bereits verlängert worden."
Für eine sofortige Abschaltung des Atomkraftwerks durch die Ukraine plädiert zum Beispiel auch Nikolai Steinberg, ein ehemaliger Chefingenieur im Atomkraftwerk von Tschernobyl und Mitglied des Verwaltungsrats der Internationalen Atomenergiebehörde.
Er bezeichnet den Weiterbetrieb der Anlage sehr drastisch als "Verbrechen". Steinberg argumentiert, dass eine Abschaltung die Reaktoren abkühlen würde und die Betreiber damit mehr Zeit hätten, um eine Kernschmelze zu verhindern, wenn es zu einem flächendeckenden Stromausfall kommt, egal wodurch der ausgelöst wird.
Abschaltung?
Das ukrainische Energieministerium und Energoatom meinen jedoch: "Eine Abschaltung ist aus technischer, sicherheitstechnischer, wirtschaftlicher und politischer Sicht unmöglich." Auch hier haben wir wieder die Argumentation, dass die Abhängigkeit von dem Strom dazu führt, dass man Meiler nicht abschaltet, obwohl sich, wie in Frankreich, große Probleme auftun und Flüsse längst überhitzt sind.
In der Ukraine werden AKW nicht einmal abgeschalten, wenn sie unter ausländischer Kontrolle und dem Risiko eines Raketenbeschusses ausgesetzt sind. Als Grund für den Weiterbetrieb wird unter anderem angeführt, dass es Russland bei einer Abkühlung leichter hätte, das Atomkraftwerk an das eigene Stromnetz anzuschließen. Man spielt also bewusst in der Ukraine, aber auch in Russland, mit einem sehr gefährlichen Feuer.
Selbst wenn es zu keinem Unfall durch Beschuss kommt, sind Atomkraftwerke hochgefährlich. Sie bleiben sogar dann noch gefährlich, wenn sie längst abgeschaltet sind, allerdings ist das Zeitfenster für mögliche Notmaßnahmen dann größer. Es sollte bekannt sein, dass Atomkraftwerke auch dann noch gekühlt werden müssen, wenn sie keinen Strom mehr erzeugen.
Das gilt auch für die Becken mit dem abgebrannten Brennstoff. Schon allein deshalb sollte man die Finger von dieser Technologie lassen, wie die Situation in der Ukraine oder auch in Frankreich in der schweren Dürre zeigen.
In den sechs Kühlbecken lagern allein in Saporischschja Hunderte Tonnen hochradioaktiver Kernbrennstoffe. Was passiert, wenn die nicht mehr gekühlt werden können, ist aus Fukushima bekannt. Ein großes Risiko besteht in der Ukraine derzeit eben auch darin, dass abgebrannte Brennelemente von einer Rakete getroffen werden oder in der Tatsache, dass die Becken oder die Meiler aufgrund eines deaktivierten Energiesystems nicht gekühlt werden können.
Angeblich hat Russland vor, das große Atomkraftwerk vom ukrainischen Netz zu trennen, um mit dem Strom die Krim und andere Teile zu versorgen. Nach russischer Lesart würde das sinnvoll sein, da damit im europäischen Stromnetz weitere sechs Gigawatt fehlen würden.
In diesem Zusammenhang würde auch die Einnahme des zweitgrößten Atomkraftwerks in Juschnoukrajinsk eben auch Sinn machen, wie der Greenpeace-Experte Smital meint. "Sobald die russischen Soldaten die Stromversorgung der Südukraine kontrollieren, hat der Kreml ein Druckmittel gegenüber der ukrainischen Regierung in der Hand."
Riskanter Anschluss
Das ist allerdings nicht nur ein Druckmittel gegenüber Kiew, sondern ein weiteres Energie-Druckmittel gegenüber Europa. Im Winter dürften die Blackout-Gefahren, angesichts des enormen Strombedarfs im Atomstromland Frankreich dann noch enorm zunehmen, wenn ein guter Teil der Atomkraftkapazität in der Ukraine ausfällt. Denn dann müsste auch das Land aus dem europäischen Stromnetz aufgefangen werden.
Es ist aber klar, dass der Versuch, Saporischschja an das russische Stromnetz anzuschließen, mit erheblichen Gefahren verbunden ist. Deshalb warnt auch der UN-Generalsekretär António Guterres davor. Er reagiert damit auf Gerüchte aus der Ukraine.
Die russischen Besatzer würden demnach planen, den Betrieb der Reaktoren zu stoppen und sie von den Versorgungsleitungen des ukrainischen Energiesystems abzuschneiden. Das russische Militär sei deshalb auf der Suche nach Nachschub für Dieselgeneratoren, die nach dem Abschalten der Reaktoren den Notstrom für die Kühlung leisten sollen.
Der Greenpeace-Experte Smital meint: "Und wenn es tatsächlich die Gefahr gibt, dass die Stromversorgung nicht aufrechterhalten werden kann, dann kann es Sinn machen, einen Reaktor zumindest im Betrieb zu halten - und so auch eine eigene Versorgung durch einen Reaktor für die anderen sechs Blöcke in Bestand zu haben."
Ein Reaktor könne dann quasi als Notstromaggregat für die Anlage dienen. Verschiedene Stromleitungen zum Reaktor seien schon beschädigt, was eine große Gefahr darstelle "Es besteht immer noch eine 750.000-Volt-Leitung und eine 330.000-Volt-Leitung."
Wenn alle Leitungen gekappt würden, egal aus welchem Grund, "würde das eine sehr kritische Situation ergeben", erklärt der Atomphysiker. Ob die Notstromversorgung funktioniert und wie lange sie in einer Kriegssituation funktioniere, sei fraglich. "Das ist wirklich ernst."