Warten auf eine Atomkatastrophe in der Ukraine?

Kernkraftwerk Saporischschja mit den Blöcken 1 bis 6; Kühltürme, Kesselhaus und zwei hohe Schlote vom benachbarten Wärmekraftwerk; Archivbild (2009): Ralf1969/CC BY-SA 3.0

Die Ukraine und Russland werfen sich weiter gegenseitig den Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja vor; Kämpfe finden auch in der Nähe des Kraftwerks statt, eine Netzabtrennung birgt Gefahren eines Super-GAUs.

"Bei einem russischen Bombenangriff im Süden der Ukraine nahe dem zweitgrößten Atomkraftwerk des Landes sind nach ukrainischen Angaben zwölf Menschen verletzt worden", wurde am vergangenen Samstag berichtet. "Die Bomben hätten ein Wohngebäude und weitere Häuser in Wosnessensk in der südukrainischen Region Mykolajiw getroffen", schrieb Die Welt, gestützt auf die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft.

Die Tagesschau erklärte dazu, Wosnessensk "liege unweit eines Kernkraftwerks und schüre die Angst vor einem nuklearen Unfall während des Krieges in der Ukraine". Begriffe wie "nahe" und "unweit" suggerieren, dass sich die drei Meiler des zweitgrößten Atomkraftwerk des Landes in der direkten Umgebung befinden.

Dabei stellt niemand klar, dass das Atomkraftwerk nicht im Umfeld von Wosnessenk liegt, sondern bei einem Ort namens Juschnoukrajinsk. Die Tagesschau präzisiert allerdings, was andere Medien zum Teil nicht tun, dass die Stadt "etwa 30 Kilometer vom Kernkraftwerk Süd-Ukraine" entfernt liegt. Betont dann aber absurderweise:

"Berichte über Schäden am AKW gab es den Angaben zufolge nicht."

Wie es, bei einem Angriff in einer solchen Entfernung, zu Schäden an den Atomreaktoren kommen soll, bleibt ein Rätsel. Derlei Berichte stellen Fragen an die journalistische Arbeit und bestätigen Vorurteile darüber, wie das Geschehen in der Ukraine in der Berichterstatung eingerahmt ("geframt") wird.

Die Welt lässt die Entfernung sogar auf 20 Kilometer zusammenschrumpfen, während Google Maps 35,5 Kilometer errechnet. Es sieht so aus, als ob man in der Zeitung nicht so viel Wert auf Recherche legt oder wollte man einfach den Vorwurf des russischen "Nuklearterrorismus" mit einer Hommage an Mark Twain unterstreichen?

Der russische Angriff in der 30-Kilometer-Zone um das Kraftwerk sei "ein weiterer zynischer Akt des Nuklearterrorismus", zitiert Die Welt die Übertreibung des ukrainischen Kraftwerksbetreibers Energoatom. Man geht sogar so weit und behauptet, dass "nicht ausgeschlossen werden" könne, dass "die Geschosse in Richtung des Kraftwerks abgefeuert wurden".

Das US-Nachrichtenmagazin Newsweek geht noch weiter. Getitelt wird: "Russische Rakete zielte möglicherweise auf Kernkraftwerk". Es wird keinerlei Entfernungsangabe gemacht, die Aussagen von Energoatom werden nicht kritisch befragt.

Beunruhigende Situation

Es ist allerdings beunruhigend, dass im Umfeld des zweitgrößten Atomkraftwerks des Landes Raketen fliegen, dass dort gekämpft wird und russische Truppen offenbar wieder in Richtung Juschnoukrajinsk und das Atomkraftwerk Süd-Ukraine vorrücken.

Russland hatte schon zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine im März versucht, die Anlage wie auch das größte Atomkraftwerk Saporischschja unter seine Kontrolle zu bekommen.

Die Nachrichtenlage zum "Beschuss des größten Atomkraftwerks in Europa" ist undurchsichtig. Es wird weiter wird von "Beschuss" berichtet, wobei meist dem russischen Angreifer die Verantwortung dafür zugeschoben wird und allein ukrainische Quellen zitiert werden.

Wie an dieser Stelle bereits dargelegt, ist ohne Zugang zum Ort des Geschehens von außen nicht zu überprüfen, wer am Kraftwerk wen beschießt. Es erscheint zwar wenig wahrscheinlich, dass sich die Russen selbst auf dem Atomkraftwerksgelände beschießen, das sie seit Monaten kontrollieren, ausschließen kann man das aber nicht. Es könnte eine mögliche Druckstrategie gegenüber dem Westen sein.

Allerdings ist auch festzustellen, dass inzwischen Wolodymyr Selenskyj Angriffe auf das Atomkraftwerk gerechtfertigt und angekündigt hat. "Jeder russische Soldat, der entweder auf die Anlage schießt oder im Schutz der Anlage schießt, muss wissen, dass er zu einem besonderen Ziel für unseren Geheimdienst, unsere Spezialdienste und unsere Armee wird", sagte der ukrainische Präsident kürzlich in einer Videobotschaft. Das erhöht die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe, die Russen würden die Anlage selbst beschießen, nicht gerade.

Einsatz von Kamikaze-Drohnen

Dass die Ukraine Angriffe auf das Atomkraftwerk zugegeben haben soll, weist eher in die Richtung, dass die Ukraine das Gelände beschießt, das russischen Truppen als Schutzschild benutzen würden, wie ein Vorwurf aus Kiew lautet. Das Kalkül könnte lauten, den Druck auf Russland zu erhöhen, das Gelände wie um den Unglücksreaktor in Tschernobyl zu räumen.

Das wäre für die Ukraine wichtig und ist von vitaler Bedeutung für die Stromversorgung des Landes. Denn die Ukraine ist von Atomkraftwerken völlig abhängig und kann sie schon deshalb nicht abschalten.

Laut Florian Rötzer hat sich die ukrainische Armee "gebrüstet, am 22. Juli mit Kamikaze-Drohnen ein Zeltlager von russischen Soldaten zerstört und dabei mehrere Soldaten getötet zu haben". Er verweist dabei auf einen Tweet der "Defence intelligence of Ukraine", der weiterhin zu finden ist. Ein angehängtes Video zeigt den Angriff auf die Zelte (Einfügung: Diese befinden sich laut einer Karte der in Großbritannien ansässigen Lobbyvereinigung World Nuclear Association (WNA) - von der UN als NGO akkreditiert- in einem sensiblen Bereich des Kraftwerks, siehe Image 2 ihres Berichts, der den Vorfall aufnimmt.)

Einige deutschsprachige Medien hatten über den Vorgang auch berichtet: "Kiew bestätigt Einsatz von Kamikaze-Drohnen bei AKW Enerhodar". Auch Die Welt berichtete darüber. Umso erstaunlicher ist deshalb, dass die Zeitung so sicher vom "Nuklearterrorismus" Russlands ausgeht, ohne sich mit den Hinweisen darauf zu beschäftigen, wonach die Ukraine russische Truppen auf dem Atomkraftwerksgelände angreife.

Wie auch die Tagesschau berichtet, hat der russische Präsident Wladimir Putin im Telefongespräch mit dem französischen Präsidenten Frankreichs Emmanuel Macron der Überprüfung der Vorgänge im Atomkraftwerk durch Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zugestimmt. Russland sichere die dafür "erforderliche Mithilfe" zu und zudem solle die Inspektion zügig passieren. Die IAEA-Kontrolleure sollten das Kraftwerk "so bald wie möglich" besichtigen.

Putin hat dabei erneut die Ukraine für die Angriffe auf das Atomkraftwerk verantwortlich gemacht. Er habe vor einer "Katastrophe großen Ausmaßes" gewarnt und von einer "systematischer Bombardierung" des AKW-Geländes gesprochen. Im Fall eines Unfalls drohe die "Verstrahlung großer Gebiete". Tatsächlich zeigt eine Simulation des Hydrometeorologischen Institut der Ukraine, wie sich eine Wolke aus nuklearem Material über Europa verteilen würde.

Politische Kommunikation mit Katastrophenangst

Der radioaktive Niederschlag eines Angriffs auf das Atomkraftwerk Saporischschja könnte demnach innerhalb von nur drei Tagen auch Deutschland erreichen.

Die radioaktive Wolke würde sich in 72 Stunden über 13 Länder ausbreiten - von Russland im Osten bis Polen im Westen. Die Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Litauen, Lettland, Estland, Polen, Rumänien, Serbien, Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik und auch Russland selbst wären von einer Katastrophe wie im ukrainischen Tschernobyl schnell und besonders stark betroffen.

Man darf davon ausgehen, dass Putin über das Telefonat mit Macron versucht, der "politischen Kommunikation" im Westen etwas entgegenzusetzen. So hatte zum Beispiel der Tagesspiegel am Freitag getitelt: "Putin plant angeblich gezielte Reaktorkatastrophe".

Vorwürfe ohne Beweise

Man bezieht sich dabei auf einen Bericht der New York Times. Die Zeitung sieht Indizien "für eine Operation unter falscher Flagge". Demnach wolle Moskau "dann Kiew die Schuld für die Verstrahlung geben". Letztlich rekurriert dies auf Selenskyj, der Russland vorwirft, "es wolle eine Atomkatastrophe gezielt herbeiführen".

Andrerseits behauptet auch das russische Verteidigungsministerium, dass die Ukraine ihrerseits "eine Terrorattacke" auf das Atomkraftwerk geplant habe. Das ukrainische Militär beschieße längst das Atomkraftwerk mit Waffen aus US-Lieferungen.

Das wäre zum Beispiel relativ leicht mit den Munitionsresten zu beweisen, da die von IAEA-Kontrolleuren auf dem Gelände gefunden werden können.

"Wenn es zu einer Katastrophe kommt, werden die Folgen in allen Ecken der Welt zu spüren sein. Die Verantwortung dafür werden Washington, London und ihre Handlanger tragen", sagte Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen nationalen Sicherheitsrats.