Über Nettime

Pit Schultz im Gespräch mit der englischen Zeitschrift "Mute"

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Nettime Moderator Pit Schultz stellte sich in einem Email-Interview den Fragen der Co-Herausgeberin des englischen Cyberculture-Magazins "Mute".

Weitere Artikel zum Thema:
Nettime - die Kunst der Diskussion, über Mailinglists im allgemeinen und Nettime im besonderen.
Von der spekulativen Medientheorie zur Netzkritik, Ausschnitte eines Vortrags von Geert Lovink, gehalten am ICC Tokyo, Dez.96.

Pit Schultz, Foto Manu Luksch

INTERVIEW

Q für Question/Pauline A für Answer/Pit

Q: Könntest du mir etwas darüber erzählen, wie Nettime gestartet wurde und wie es seither weiterentwickelt wurde?

A: Nettime begann als dreitägiges Meeting in einem kleinen Theater während der Biennale von Venedig 1995. Es handelte sich um ein Treffen von Medienaktivisten, Theoretikern, Künstlern, Journalisten aus verschiedenen Ländern Europas. Dabei waren u.a. Heath Bunting, Geert Lovink, Diana McCarthy, Vuk Cosisc, David Garcia, Nils Röller, Tomasso Tozzi, Paul Garrin und viele andere. Wir entwickelten die Hauptlinien einer Netzkritik entlang der Themen des virtuellen Urbanismus, Globalisierung/Tribalisierung, die "Lebens-Metapher". Es war auch offensichtlich geworden, daß es dringend nötig wurde, eine andere kulturelle (Netz)Politik zu definieren, als sie vom Magazin Wired in Europa dargestellt wurde. Dieses Treffen war ein sehr privates und intensives Erlebnis und in gewisser Weise definierte es den "Stil" in dem wir Themen auf Nettime diskutieren und kritisieren. Nettime wurde gewissermaßen auf dem Tisch dieses Treffens modelliert. Er war überhäuft von Texten, Magazinen, Büchern, wasauchimmer wir der Gruppe anbieten konnten. Es war der Beginn unserer "Ökonomie des Schenkens" mit dem Austausch von Information. Heute hat die Liste annähernd 300 Subskribierte, sie wächst konstant mit circa 10 Neuanmeldungen pro Woche. Wir machen keine Werbung und die Liste ist "semi-geschlossen", was bedeutet, daß Neuanmeldungen geprüft werden.

Q: Hattest du intensiv mit Computern zu tun?

A: Mein erster Computer war ein Atari2600 TV-Spiel, dann ein ZX81, C64, Amiga 1000, ich wechselte auf Mac, als ich im Rahmen der Arbeit mit der Gruppe Botschaft nach 1990 mit Desktop Publishing begann, benutzte DOS/Linux fürs Internet und landete schließlich bei einem DX66 unter Windows 95, hauptsächlich um Eudora in einem Intranet zu benutzen. Diese Maschinen dokumentieren also gewisse Phasen in meinem Leben, aber sie determinieren sie nicht. Ich studierte auch Computerwissenschaften für einige Jahre, doch es war nicht das, was ich erwartete, ein eher konzeptueller Zugang, der die Entwicklung von Software auf einer viel breiteren, vielleicht kulturellen Ebene reflektierte.

Q: Und Netzkultur?

A: Zwischen 92 und 94 hatte ich mit dem BBS-Netzwerk von The Thing zu tun, das war die Hochphase des ASCII- und textgestützten Internet mit MUDs und MOOŽs, vor der Zeit des Web. Zur selben Zeit arbeitete ich mit dieser Gruppe, Botschaft e.V.. Es gab auch einige Ausstellungen von "low media art", eine Kommunikationsperformance im Fernsehturm in Berlin, verschiedene Meetings, Langzeitprojekte im öffentlichen Raum, wie z.B. eine Installation mit Daniel Pflumm in einem U-Bahn Tunnel, eine Zusammenarbeit mit der Gruppe "Handshake", aus der später die "Internationale Stadt" wurde, oder mit dem Chaos Computer Club, mit dem sich Botschaft die Büroräume teilte. Nach einem Event der Agentur Bilwet, den ich organisierte, begann ich mit Geert Lovink zusammenzuarbeiten, was wirklich eine neue Phase in meiner Arbeit bedeutete.

Q: Als ein Künstler?

A: Ja und Nein. Ich bekam ein Stipendium und nahm an Ausstellungen teil, hatte aber immer Probleme damit, Kunst als ein "geschlossenes System" zu akzeptieren. Ich muß hier betonen, daß ich Nettime als Produkt einer Gruppe verstehe und nicht als "individuelles Kunstwerk". Es ist ein Medium, das von einer kollektiven Subjektivität geformt wird, einer Summe von Individuen. Ich moderiere es und es hat auch seine ästhetischen Aspekte. Aber ich erwarte nicht, daß man mich deshalb "Künstler" nennt.

Q: Du hast als Künstler gearbeitet, bevor du die Liste gestartet hast und wie denkst du hat das die Art beeinflußt, wie Nettime konzipiert wurde.

A: Nun gut, du kannst es eine Fortführung meiner künstlerischen Tätigkeit nennen. Aber es funktioniert, ohne daß man es als Kunst bezeichnet. 1994 versuchte ich mich an einigen Projekten im Web, namentlich das "Orgasmotron" Projekt, eine Datenbank aufgezeichneter Gehirnwellen von menschlichen gehirnen während des Orgasmus, das die frühen euphorischen Zeiten des "Erstkontakts" reflektiert. Mit Botschaft e.V. machten wir 93-94 das "Museum für Zukunft", ein Gruppenprojekt, eine Datenbank mit Zukunfts-Szenarios, Ideen, Sichtweisen...Doch während dieses Projekts wurde es mir klar, daß ich ein tieferes Verständnis der kollaborativen, theoretischen und diskursiven Aspekte des Cyberspace benötigte, um weitermachen zu können. In dieser Zeit gab ich es auch auf, Kunstinstallationen in definierten Kunsträumen zu machen. Nach einer euphorischen Anfangsphase begann es mich, ganz allgemein gesprochen, extrem zu langweilen und es enttäuschte mich, was in der Kunstsphäre geschah und immer noch geschieht. Mein Hauptinteresse bleibt, was Andreas Broeckmann die "Maschinen-Ästhetik" nennt, ein Bereich zwischen der sozialen, politischen und kulturellen Ökonomie der sogenannten "Neuen Medien". Deshalb war ich sehr froh, auf Geert zu treffen und durch Venedig, und eine Folge anderer Treffen, auf andere Leute mit ähnlichen Interessen, die wir nun versuchen, auf der Nettime-Liste zusammenzubringen.

Q: Es scheint, daß Nettime sich den Gesetzen seiner eigenen Schwerkraft folgend mehr auf netzpolitische und philosophische Diskussionen zubewegt, als solche, die im engeren Sinn mit Kunst zu tun haben. Welche Rolle spielst du, und Geert, als Moderatoren in dieser Hinsicht.

A: Heute ist Kunst, und ganz besonders Medienkunst, ein sehr problematisches Gebiet. Wenn ich Musik höre, dann kann es vorkommen, daß ich sie nicht mag, aber sie kommt aus dem Radio. So kommt es mir mit der Kunst vor. Du kannst sie abschalten, aber es ist immer noch so viel Musik rundherum. So viel zur Kunst. Die Moderation betreffend: Das ist auch eine sehr widersprüchliche Rolle. Umso weniger der Moderator in Erscheinung tritt, desto besser fließt es im Kanal. Es ist natürlich diese "Macht-durch-Abwesenheits" Sache. Wir hoffen, daß wir das sorgfältig und verantwortungsbewußt handhaben, mit dem kontinuierlichen Gruppenprozeß im Kopf. Energie fließt durch Netzwerke und du kannst sie nicht abschalten. Von verschiedenen Seiten kommend haben Geert und ich ein Interesse. mit der Dynamik der Konfrontation zwischen dem ästhetischen und politischen Feld zu arbeiten. Es gibt viele Demarkationslinien und Grenzen. Eine davon scheint das Kunstsystem zu sein, das immer noch diesen Alleinherrschaftsanspruch im symbolischen kulturellen Feld hat. Das verändert sich durch die Neuen Medien und selbst wenn diese Medien den Begriff "Kunst" nicht obsolet werden lassen, gibt es immer noch etwas am Paradox Kunst und Medien oder Medienkunst, das mir zutiefst problematisch erscheint. Beide haben Anteile eines totalitären Systems der Repräsentation. Es gibt Chancen, daß Neue Medien Kanäle schaffen, die den Fluß der Macht umleiten. Dazu wurde Nettime gemacht. Ein experimenteller Ort für (Re)Mixes, etwas, das mir lange Zeit sehr gefehlt hat. Niemals perfekt und immer "im Werden", aber niemals explizit, nicht beschreibend sondern performativ, und pragmatisch...

Geert und ich, wir haben beide unsere eigenen Gründe, uns vom heutigen "Kunstdiskurs" zu distanzieren. Du kannst Nettime als politisches Projekt bezeichnen, im Sinn der realen Folgen, die wir auszulösen versuchen, im Sinn der Konflikte auslösenden Debatten, bei denen es darum geht, die ökonomischen und sozialen Implikationen der "Digitalen Revolution" zu reflektieren und kritisieren. Nettime ist ein philosophischer Kanal im Sinn der Beschreibung eines Zustands, während wir ebenso das tradierte Wissen inklusive des postmodernen Materials aufgreifen und in Anwendung bringen. In vielerlei Hinsicht ist es auch ein ästhetischer Prozeß, indem wir einen Raum für kollaboratives Schreiben eröffnen und mit verschiedenen Stilen und Spielarten von computergestützter Kommunikation experimentieren. Schließlich können wir uns den Luxus des Schweigens leisten, wir machen keine Werbung, deshalb müssen wir auch nicht in Markennamen und Oberflächen investieren, es verbreitet sich durch Mundpropaganda und die Fußnote "kulturelle Politik des Netzes" kann vielerlei bedeuten. Es geht um Wolken. Da ist dieses ganze Feld der "Virtualität und der Potentialität", der multiplen Kontext-Situationen und Persönlichkeiten, Interessen und Intensitäten, die, ebenso wie der soziale Aspekt, der Aspekt der Zeit, des Wissens und der Neuigkeiten Nettime zu etwas machen, das einen Fluß heterogener, subjektiver Objekte moduliert. Es hat etwas von einer existentiellen Ästhetik des Lebens mit Nettime, inklusive der Gruppen, Ereignisse, Projekte, die hier wachsen, ein kollektives und singuläres Info-Environment, das existiert, ohne daß man es Kunst nennen muß.

Q: Bei der Diskussion bei DEAF 96 hast du, wenn ich mich nicht irre, nettime als "schmutzigen ascii Kanal" bezeichnet. Wie "schmutzig" oder unmoderiert ist es wirklich?

A: "Schmutz" ist hier ein Konzept, besonders im Sinn der digitalen Realität, die ihre eigene saubere Schmutzigkeit erzeugt, man denke nur an die digitale Verunreinigung von Musik auf einer CD zum Unterschied vom analogen Störgeräusch eines Plattenspielers. Man kann auch alle Arten digitaler Effekte heranziehen, die analoge Verschmutzung imitieren, was am Ende darauf hinausläuft, daß die Auflösung höher sein muß, daß eine rekursivere, tiefere, infinite Struktur entsteht. Ich benutzte dieses Konzept, weil es so viele Aspekte hat. Es bedeutet hier, den Aspekt des "Rauschens" hervorzuheben, aber nur, um ein komplexeres Muster aus ihm zu erzeugen. Das bedeutet nicht "alles geht" und soll auch nicht zu einer selbstgenügsamen Ethik der Hyperproduktivität führen. Es hat etwas Slacker-mäßiges, es verlangsamt, beschleunigt, kümmert sich um nichts an mancher Stelle, nur um an anderer Stelle darauf zurückzukommen, wenn es effektiver ist...da steht eine ganze empirische Wissenschaft dahinter, wie das Nettime-Schiff durch dunkle Gewässer gesteuert werden kann...wie zu verdichten ist und wie zu erweitern, wie den Linien von Rauschen/Gestalt zum Unterschied von An/Abwesenheit zu folgen ist...

Praktisch ist es so, daß ich den großen roten Knopf des Moderators bisher erst einmal drücken mußte, nach einer Phase technischer Fehler und einem daraufhin sehr zerstreuten Dialog. Das Phänomen besteht darin, und ich denke das ist gar nicht so selten, daß einen Gruppe von Leuten in einer repetitiven, kommunikativen Umgebung ein Feld von möglichen Kommunikationshandlungen herauszufiltern beginnt, auf eine gewisse quasi-maschinenhafte Art. Am Anfang muß man weder professionell oder besonders geschickt sein. Die Produktion von Information entlang der Grenzlinie des Rauschens bedeutet, einen sozialen Kontext permanent neu zu definieren, einen Kontext, der vielleicht auch künstlich ist, oder was manche als immanent bezeichnen, mit Regeln, die selbsterklärend sind und in einer dynamischen Art und Weise zugleich unabhängig. Die Software der Liste verschickt eine grundlegende Netiquette an die neuen User, doch das behandelt nur einige formale Faktoren. Einer ist, daß wir uns dem verschrieben haben, Dialoge zu vermeiden, ohne sie zu verbieten. Nettime ist keine Liste von Dialogen mit Zitat und Gegenzitat sondern mehr ein diskursiver Fluß von Texten verschiedenen Charakters, die sich untereinander differenzieren und kontextualisieren. Im Netz nennen wir das "kollaboratives Filtern" oder früher "soziales Filtern".

Schmutz bedeutet hier viele verschiedene Dinge, vor allem aber die Abwesenheit von Reinheit, man bekommt immer Vermischtes, "Agenzien"...doch das würde auf zu triviale Weise "postmodern" werden. Das beständige Kommentieren formt einen sozial definierten Wissenskörper und natürlich auch ein Feld, in dem Macht aus undifferenzierten Kräften geformt wird, welche die Position des Moderators miteinschließt ebenso wie besonders aktive Teilnehmer, woraus resultiert, in welche Richtung die Haupttendenz der Diskussion geht. Praktisch können aber alle schreiben, was sie wollen. Dieses Risiko, das manchmal zu einer Situation des Überfließens und der Neuorientierung führt, ist der produktive Freiraum von Nettime. Ein anderer Freiraum ist die begrenzte Zahl der Zeichen, wie das Euro-Englisch oder Netz-Kauderwelsch, der Gebrauch von Englisch von Leuten, die nicht aus dem englischen Sprachraum sind, die reduzierte Anzahl der ascii Zeichen, die minimalen Möglichkeiten des Perl-Scripts, das die Mailing List betreibt. Und schließlich gibt es für die Schreiber ganz verschiedene Motivationen, warum sie schreiben und für die Leser ganz unterschiedliche Motivationen, warum sie Nettime lesen. Es ist klar, daß jeder irgendwie filtern muß, ich denke niemand, einschließlich von mir selbst, liest jede Mail von Anfang bis zum Ende. Wer etwas schickt hat die Möglichkeit, aktiv Texte zu selektieren, die im Netz gefunden wurden, und sie auf Nettime weiterzuleiten. Autoren können Text vor- oder nachpublizieren, Vorabversionen schicken, bestimmte Ideen testen, andere "samplen".

Auf der materiellen Seite gibt es die ausgedruckten ZKP-Fassungen, Lesebücher, die in kleiner Auflage anläßlich von Konferenzen herausgegeben werden. Der Prozeß des Einschreibens kombiniert mit dem Prozeß des Filterns funktioniert ein wenig wie ein News-Ticker, wenn man einen Vergleich in der herkömmlichen Sphäre von Publikationen finden will.

Q: Zwei andere relevante Themen, die während der DEAF Diskussion aufkamen, haben mit Größe und Finanzen zu tun. Wenn Online-Journals oder Mailinglists auf Leute abgestimmt sind, die Gemeinschaften schaffen wollen, in denen sich Diskussionen als katalytische Prozesse erweisen können, wegen der Kleinheit der Gruppe und weil sich viele Teilnehmer auch im wirklichen Leben kennen, vermindert sich ihre Effektivität dann nicht jenseits einer gewissen Größe der Teilnehmerzahl? Obwohl Nettime immer noch eine "geschlossene" Liste ist, ist die Zahl der Subscriber gewachsen. habt ihr eure Methodologie geändert?

A: Wie du sehen kannst, läuft Nettimme immer noch gut. Es sieht so aus als würde sich auf Seite der Leute, die Beiträge machen, ein selbstregulierender Prozeß ereignen. Das Wachstum besteht aus circa 10 Neuzugängen die Woche, hauptsächlich auf Basis von Mundpropaganda, was vielleicht eine gewisse soziale Konsistenz erzeugt. Und dann beruht das auch auf der Art, wie Text selektiert und produziert wird und seinen Weg auf die Liste findet. Die "Gruppe" umfaßt ein Netzwerk von Beziehungen im realen Leben, ein Netzwerk von gemeinsamen Interessen und ein Netzwerk der Kontextualisierung von Dokumenten. Das ereignet sich in Beziehung zum "Außen", zur "Weite" des Netzes und zur "Tiefe" der Orte, an denen die Leute leben und arbeiten. Jedes Dokument bezeichnet einen Vektor in der Zeit in einem sozialen Kontext, ein diskursives Environment mit vielen Ebenen von Querverweisen, aber auch eine relativ konkrete und einfache Oberfläche: Ascii-Text. Die Ästhetik, die aus den einfachen praktischen Regeln einer Mailing-List entsteht, ist komplex und dynamisch genug, daß wir nicht die Notwendigkeit verspüren, mit Dingen wie Multidiskussionssträngen, Hypertext, Multimedia-Umgebungen zu experimentieren, obwohl wir über bestimmte Erweiterungen nachdenken, die eine Ähnlichkeit zu Intranets und "Groupware"-Lösungen in der Welt der Wirtschaftsunternehmen aufweisen. Man sagt:"Greif niemals in ein laufendes System ein." Ich denke die nächste Ebene wird durch einen bestimmten ökonomischen Druck entstehen, durch bestimmte Fälle, bei denen Texte ohne Erlaubnis woanders auftauchen, oder andere Fälle, bei denen die ungeschriebenen Gesetze durch andere "Inhaltsmaschinerien", subvertiert werden, die auf anderen Prinzipien beruhen, aber ähnliche Themengebiete berühren. Es geht darum, Chancen wahrzunehmen und mit neuen horizontalen Netzwerken von Produktivkräften zu experimentieren, die kollektive redaktionelle Arbeit einer Gemeinschaft von Nutzern zu respektieren und darüberhinaus über finanzielle Modelle nachzudenken, wie eine dauerhafte Qualität der Diskussion hergestellt werden kann, was auch die "Währungen" Vertrauen und Glaubwürdigkeit mit einschließt.

Q: Und die Frage des Geldes. Das hat ganz offensichtlich Auswirkungen darauf, wie sich die Dinge entwickeln können. Nettime ist ein "Null-Budget" Unternehmen. Was sind die Vor- und Nachteile dessen und wie schaffst du es organisatorisch, weitermachen zu können.

A: Zuerst möchte ich sagen, daß deine Frage bereits bestimmte Implikationen enthält. Es mag natürlich erscheinen, alles, was man tut, in ein wirtschaftliches Modell zu fassen und zu fragen, was bekomme ich dafür? Was bezahle ich dafür? Aber es muß nicht bedeuten, daß eine Tauschökonomie immer auf Geld beruhen muß. Es gibt klarerweise diese Bewegung, von Neuen Medien zu profitieren und Geld muß natürlich auch da sein, damit eine Grundfinanzierung sichergestellt ist. Doch das Ziel von Nettime ist nicht der finanzielle Profit. An diesem Punkt kommt man allzuleicht in eine Defensivposition, oder gar eine dogmatische Position, wenn man gegen einen allzu gegenwärtigen, um nicht zu sagen totalitären, weltweit integrierten Kapitalismus kämpft. Auch nach Marx gibt es soziale Kämpfe und ganz besonders im bereich der Neuen Medien muß man sich, wie in der Kunst, einer gewissen Problematik stellen, was oft darauf hinausläuft, möglichst schnell Geld zu machen aber schlechte Arbeit abzuliefern. Oder umgekehrt, zu arbeiten und kaum Geld zu bekommen. Es gibt eine Art Luxus heute, der vom "Slackertum" übercodiert ist, der im Kontrast zur Arbeitsethik der Yuppies und der politischen Aktivisten steht. Dabei geht es um eine pragmatische Ebene, wir müssen nicht über "gerechte" Wirtschaftssysteme reden, sondern ein wirtschaftliches Arbeitsmodell ausarbeiten, was einen konstanten Kampf bedeutet und das Risiko der Ausbeutung, des Ausverkaufs und des Ausbrennens in sich trägt.

Nicht zuletzt müßten wir Nettime in seiner sehr grundlegenden, mikroökonomischen Struktur umbilden, wenn wir es kommerzialisieren wollten. Um das klarzustellen, bei Mailinglists, aber auch anderen Formen wie Web-Sites mit hochkarätigem Inhalt ist es nicht klar, wie so etwas langfristig zu finanzieren ist. Die Zeit des Hype ist wohl bald vorüber und dann könnten wir mit einem Erdbeben der Zentralisierung konfrontiert werden, wie wir es bereits aus der Geschichte von Radio und Fernsehen kennen. Auf der anderen Seite glaube ich auch nicht an das Konzept einer völligen Autonomie. Das führt nur in ein trauriges Doppelleben, sei es, daß man von staatlicher Unterstützung lebt oder tagsüber einem dummen Job nachgeht. dazwischen gibt es viele Grauzonen und in diesem Bereich gibt es Möglichkeiten, eine alternative Online-Ökonomie zu entwickeln, die vielleicht einmal dazu führt, eine weniger entfremdete Semiotik in die Sprache des Kapitalismus wiedereinzuführen.

Q: Du hast davon gesprochen, daß es wichtig ist, daß Redaktionen Sensibilität für die Tauschökonomie des Netzes zeigen; verschiedene Formen von Ökonomie sind ineinander verschachtelt, sie sind nicht unabhängig, sehe ich das richtig? Sehr kommerzielle und wettbewerbsorientierte Unternehmen teilen sich Technologien, Inhalt und "Teilnehmer" (in Ermangelung eines besseren Wortes) mit solchen, die eher die "Potlatch"-Ökonomie (Ökonomie des Geschenks) pflegen, in der Art auf die auch du dich beziehst. Ganz praktisch gesprochen, was sind deine Erfahrungen damit, die Unabhängigkeit von Nettime zu erhalten?

A: Diese Ökonomien sind ineinander verschachtelt, aber nicht ohne Brüche. Aus der Sicht der Armen besteht die Notwendigkeit, bestimmte ökonomische Grenzen nicht zu respektieren, wie z.B. Lizenzen und Copyright. Genau das geschieht in vielen osteuropäischen Ländern. Die neuen Märkte funktionieren noch nicht so, wie es versprochen wurde, zumindest nicht für alle. Es gibt immer noch viele Möglichkeiten, neue Technologien zu benutzen, um mehr Unabhängigkeit zu erlangen, doch sie werden auch in entgegengesetzter Weise benutzt, im Sinn einer gewaltigen darwinistischen Neuordnung. Und wie man am Beispiel von Microsoft sehen kann, sind es nicht immer die "Besten", die durchkommen. Deshalb widerspreche ich ganz entschieden jeder Logik, welche die Situation von vornherein affirmativ stützt. Potlatch ist nur eine Umschreibung der Art von Tausch-Ökonomie, die sehr verbreitet ist, sobald man das Privileg hat, sie zu praktizieren. Ich bin sicher, daß wir es auch mit Modellen zu tun bekommen, die darauf aufbauen, daß die Geldwirtschaft auf einer gewissen Ebene ausgeschlossen wird. Auch die Familie, Gemeinschaft, Freundschaft beruht auf einem solchen Modell. Und schließlich benötigt man auch die Brüche, die Möglichkeit gemischter Ökonomien, um einen lebendigen und kreativen Markt zu haben, oder zumindest, soweit ich etwas von Märkten verstehe.

Q: Das stellt eine Verbindung zu einer der Diskussionen her, die gerade auf Nettime laufen, jene über Libertarianismus oder Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit. Das schloß im Lauf der Zeit große Textmengen und extensive Dialoge über die Rolle von Wired mit ein, die Dämonisierung des Staates, und wurde als ein Versuch präsentiert, einen produktiven europäischen Beitrag zu der Entwicklung von Ideen über technokulturelle zukünftige Entwicklung zu leisten. Stimmt das und wie ist dein Gefühl über die Entwicklung dieses Themas?

A: Man kann es so beschreiben. Aber ich möchte hier keine Vorhersagen machen. Eine Sache, die Nettime macht, ist Kritik. Das bedeutet, die Gegenwart zu reflektieren und zu konstruieren. Natürlich gibt es Strategien, aber Teil der Strategie ist, daß man nicht zuviel darüber sprechen sollte. Es ist eine wichtige Aufgabe, gegenüber den homogenisierenden, zentralisierenden und die Entfremdung verstärkenden Netzwerken des globalen integrierten Kapitalismus nicht aufzugeben und diese sehr ethischen und politischen Techniken als kulturelle Techniken zu benutzen. Gegendruck gegen das zu erzeugen, was uns als Sachzwänge und ökonomische Faktoren aufgezwungen wird, um eine sehr notwendige Qualität zu schaffen.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Medosch

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Das Magazin "Mute" erscheint in einem Abstand von 3 Monaten in London und wird von Skyscraper Digital Publishing herausgegeben.

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