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Übernehmen die Rechtsextremen in Europa langsam die Macht?

Die Vorsitzende der rechtsextremen Fratelli d'Italia, Giorgia Meloni, Ministerpräsidentin von Italien. Bild: Italienische Regierung / CC BY-SA 3.0 IT Deed

Von Frankreich über Italien, Deutschland und Ungarn bis nach Schweden tendieren Wähler zu Rechtsextremen. Was sind deren Erfolgsrezepte? Beginnt gerade eine neue Ära?

Etwas mehr als ein Jahr, nachdem die Vorsitzende der Fratelli d'Italia, Georgia Meloni, in Italien an die Macht gekommen ist [1], zeigen die jüngsten Daten eine klare Botschaft: Sie ist nicht die einzige rechtsextreme Politikerin, die auf den Ängsten der Wählerinnen und Wähler surft.

Wir stehen möglicherweise am Beginn eines neuen Zyklus des Rechtsextremismus [2] auf dem gesamten Kontinent. Bei den nächsten Europawahlen im Juni 2024 steht viel auf dem Spiel.

Ein rechtsextremer Moment

Die jüngsten Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Letztes Jahr hat Marine Le Pen in Frankreich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen mit 41,5 Prozent der Stimmen einen neuen Rekord aufgestellt. In Ungarn erhielt die Fidesz [3] bei den Parlamentswahlen 54 Prozent der Stimmen und bescherte Viktor Orbán eine vierte Amtszeit in Folge.

In Schweden kamen die einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten von Jimmie Åkesson mit 20,5 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz [4] und wurden zu neuen Verbündeten von Kristerssons Moderaten.

Anderswo in Europa schlagen rechtsextreme Parteien in Ländern wie Portugal [5], Spanien [6] und Finnland [7] Wurzeln, gewinnen beträchtliche Unterstützung und ziehen auf lokaler oder nationaler Ebene in die Regierung ein.

In Österreich [8] und Belgien [9] liegen sie derzeit in den Umfragen vorn.

In Ost- und Mitteleuropa ist die extreme Rechte in Estland, Kroatien, Rumänien und Bulgarien auf dem Vormarsch. Ungeachtet der historischen Demonstration der Oppositionsparteien mit einer Million Teilnehmern [10] in Warschau sind die radikalisierten Konservativen der PiS immer noch auf dem besten Weg, die nächsten Parlamentswahlen in Polen mit 38 Prozent der Stimmen zu gewinnen, eskortiert von einem Bündnis [11], einer heterogenen extremistischen Gruppe, die bis zu elf Prozent der Stimmen erhalten könnte.

In der Slowakei sind die Ultranationalisten der Slowakischen Nationalpartei [12] (SNS) in den Nationalrat eingezogen und könnten eine Koalition mit Robert Ficos populistischer und pro-russischer Smer-Partei bilden.

Mehrere Schichten an Ressentiments

Anstatt die extreme Rechte zu schwächen, hat der Krieg in der Ukraine diesen Parteien neue politische Möglichkeiten eröffnet. Ihre nationalistische und gegen das Establishment gerichtete Rhetorik trifft auf die wachsende politische Unzufriedenheit der Bürger und den Wunsch der Bevölkerung nach einer autoritären und starken Führung.

Je nach der Region haben rechtsextreme Politiker eine Vielzahl von Positionen gegenüber Russland eingenommen. Parteien wie Marine Le Pens Rassemblement National (RN) in Frankreich, Chega in Portugal und die niederländische PVV haben ihre Positionen gegenüber Putins Regime geändert und die russische Invasion rasch verurteilt.

Jetzt macht sich die extreme Rechte die wirtschaftlichen Ängste der Wähler aus der Arbeiter- und Mittelschicht zunutze, die von den wirtschaftlichen Folgen des Krieges am meisten betroffen sind. Viele dieser Parteien, wie die französische RN, die italienische Lega, der flämische Vlaams Belang, die Chega in Portugal und die tschechische SPD, haben die gegen Russland verhängten Sanktionen kritisiert [13], weil sie in erster Linie der "Bevölkerung" ihres Landes schaden, und gleichzeitig mehr sozialen Schutz und Wohlfahrt gefordert.

Natürlich ist die Zeit nach der Covid-19-Pandemie ein guter Nährboden für populistische Zugewinne: Viele dieser Parteien, wie die österreichische FPÖ [14], der polnische Bund und die AfD in Deutschland [15], haben sich vehement gegen Gesundheitsmaßnahmen gewehrt und im Stillen aus der öffentlichen Unzufriedenheit während der Gesundheitskrise Kapital geschlagen [16].

Schließlich zeugt der Anstieg der Unterstützung für die Rechtsextremen vom Fortbestehen kultureller und identitätsbezogener Bedenken in Bezug auf Einwanderung [17], Islam und Multikulturalismus. Diese Themen spalten die europäischen Wähler weiterhin tief, wie die aktuellen Einwanderungsdebatten in Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich und dem Vereinigten Königreich zeigen. Unterdessen sorgt die italienische Insel Lampedusa erneut für Schlagzeilen [18] und schürt die Angst vor neuen Einwanderungswellen.

Bei den Europawahlen im Juni 2024 wird sich die extreme Rechte wahrscheinlich noch stärker in der politischen Landschaft verankern. Nationale Umfragen bei Wählern deuten darauf hin [19], dass rechtsextreme Parteien bis zu 180 Sitze im Europäischen Parlament erringen könnten, verglichen mit nur etwa 130 in der derzeitigen Legislaturperiode.

Prognosen für rechtsextreme Parteien in Europa

Die Fratelli d'Italia, RN in Frankreich, die deutsche AfD und die spanische Vox dürften mit 27, 25, 18 bzw. neun Sitzen als die großen Gewinner hervorgehen. Marine Le Pen hat bereits mit einer diplomatischen Blitzaktion begonnen, um ihre europäischen rechtsextremen Verbündeten [20] zu mobilisieren. Vor Kurzem hat sie eine Offensive gegen Giorgia Meloni, ihre Hauptrivalin um die Führung der Rechtsextremen in Europa, gestartet.

Zwei ehemalige Schwergewichte, die polnische PiS und die italienische Lega von Matteo Salvini, werden bei den Wahlen im Juni 2024 voraussichtlich Einbußen hinnehmen müssen und 22 (minus fünf) bzw. sieben (minus 18) Sitze erhalten. In Ungarn wird Viktor Orbán voraussichtlich in etwa die Unterstützung von 2019 erhalten, ist aber innerhalb der europäischen extremen Rechten weiterhin isoliert.

Schließlich werden neue rechtsextreme Parteien in das Europäische Parlament einziehen: die Allianz für die Union der Rumänen (AUR), Chega in Portugal, die Slowakische Nationalpartei, die Dänischen Demokraten und möglicherweise auch die Reconquête [21] von Éric Zemmour in Frankreich.

Durchbrechen der Brandschutzmauern

Die derzeitige Welle der Rechtsextremen spiegelt zwar im Wesentlichen die nationale politische Dynamik wider, doch sind in ganz Europa ähnliche Tendenzen zu beobachten, vor allem das Mainstreaming dieser Parteien [22].

In vielen Ländern haben die rechtsextremen Parteien eine strategische Balance hergestellt zwischen Regierungsernsthaftigkeit und radikaler Politik [23]. Sie haben ihren Extremismus abgeschwächt, um ihren Wählerzuspruch zu erhöhen und an die Macht zu kommen, vor allem, indem sie ihre Euroskepsis abgeschwächt und sich von Putins Russland distanziert haben [24].

In der Zwischenzeit haben diese Parteien ihre typische nationalistische und autoritäre Ideologie in Verbindung mit einem Anti-Establishment-Populismus beibehalten [25], was es ihnen ermöglicht, weiterhin von den Ressentiments und der Wut der Wähler zu profitieren.

Eine solche Annäherung an die Mitte [26] der europäischen Politik hat die politische Zusammenarbeit mit Parteien der rechten Mitte in Ländern wie Italien, Finnland, Schweden und Spanien erleichtert. Bald könnte auch Österreich dazukommen, und möglicherweise auch Belgien, wo die wachsende Popularität der rechtsextremen Vlaams Belang den "Cordon Sanitaire" des Landes aushöhlt. Sogar die deutsche CDU scheint nun geneigt zu sein, den gefährlichen Weg zu gehen und lokale Bündnisse mit der AfD [27] einzugehen.

Rechtsextreme Ideen durchdringen die etablierte Rechte, wie die Radikalisierung zeigt von Parteien wie der ÖVP in Österreich, der VVD in den Niederlanden und dem, was von den Republikanern (LR) in Frankreich nach dem Debakel bei der Präsidentschaftswahl 2022 übrig geblieben ist. Eine solche Ansteckung wurde am deutlichsten bei der Übernahme der restriktiven Einwanderungspolitik der extremen Rechten in diesen Ländern.

Dieses komplexe Zusammenspiel der Kräfte ist der Schlüssel zum Verständnis der bevorstehenden Umstrukturierungen auf europäischer Ebene.

Wie sich die europäischen Parlamentsblöcke entwickeln könnten

Die derzeitige Zusammensetzung der rechtsextremen Fraktionen im Europaparlament zeigt eine anhaltende Kluft zwischen den einerseits eher "mainstreamigen" atlantischen Parteien, die mit Giorgia Meloni, der spanischen Vox und der polnischen PiS innerhalb der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) verbunden sind, und der Fraktion Identität und Demokratie (ID) andererseits.

Seit ihrer Gründung im Jahr 2019 hat sich die ID-Gruppe zur wichtigsten Drehscheibe für ehemals pro-russische rechtsextreme und extremistische Parteien um Marine Le Pen, Matteo Salvini, die österreichische FPÖ und die AfD entwickelt. Andere rechtsextreme, pro-russische Parteien wie Orbans Fidesz verbleiben bei den Non-Inscrits (nicht angegliedert).

Gestärkt durch ihren Erfolg in Italien sucht Giorgia Meloni eine Annäherung an die Europäische Volkspartei (EVP), was die EKR zum Zentrum der europäischen Politik machen würde. Es wird erwartet, dass Parteien wie Vox, die Finnen, die lettische Nationale Allianz und die rumänische AUR beitreten werden, wodurch die EKR-Fraktion auf etwa 80 Sitze anwachsen würde.

Melonis strategisches Herunterspielen von Europa- und Einwanderungsfragen [28] öffnet sicherlich die Tür für ein breiteres Bündnis der europäischen Rechten. Das bleibt jedoch von den Forderungen der EVP abhängig.

Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber, hat deutlich gemacht, dass künftige EVP-Verbündete die Rechtsstaatlichkeit respektieren und die Ukraine eindeutig unterstützen sollten, wobei er die polnische PiS für ihren illiberalen Kurs kritisiert hat [29].

Darüber hinaus könnte die interne Dynamik der EVP, insbesondere die aktuellen Meinungsverschiedenheiten zwischen der CDU und der CSU, den Kurs der Fraktion in den nächsten Monaten verändern.

Weiter rechts werden sich Marine Le Pen und Matteo Salvini auf ihre traditionellen Verbündeten in Österreich und Belgien verlassen müssen, während sie neue Partner in der Slowakei und Portugal suchen und vielleicht sogar Gespräche mit Viktor Orbán aufnehmen. Die derzeitige Zusammensetzung und der Ruf der ID machen es insbesondere Le Pen schwer, sich vom Rechtsextremismus zu distanzieren, was für ihre Bewerbung um die nächste französische Präsidentschaft von entscheidender Bedeutung sein wird.

Neben anderen Herausforderungen wird die ID mit der Aufnahme extremistischer Parteien konfrontiert sein, darunter eine inzwischen mächtigere, aber politisch schwerfällige AfD, die in Deutschland zu einem Zufluchtsort für Neonazis [30] geworden ist.

Auch wenn sich bis Juni 2024 noch vieles ändern kann, wie der Rückschlag von Vox [31] bei den letzten Wahlen in Spanien zeigt, deutet die derzeitige Flut der extremen Rechten möglicherweise auf eine Verlagerung des politischen Schwerpunkts in Europa hin.

Trotz ihrer "Normalisierung" bleiben die rechtsextremen Parteien die Hauptquelle an Opposition gegen die grundlegenden Werte und Prinzipien der Europäischen Union, am deutlichsten innerhalb der ID-Gruppe, die wahrscheinlich ihr Projekt eines "Europas der freien und unabhängigen Nationen" weiterverfolgen wird.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit The Conversation. Das englische Original finden Sie hier [32]. Übersetzung: David Goeßmann [33].

Gilles Ivaldi ist Politikwissenschaftler an der Sciences Po in Paris.

Andreu Torner arbeitet im Bereicht Internationalen Beziehungen an der Universitat Ramon Llull.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9327099

Links in diesem Artikel:
[1] https://theconversation.com/giorgia-melonis-win-in-italy-proves-even-a-seemingly-successful-government-can-fall-victim-to-populism-191278
[2] https://www.economist.com/leaders/2023/09/14/a-fresh-wave-of-hard-right-populism-is-stalking-europe?utm_medium=cpc.adword.pd&utm_source=google&ppccampaignID=18151738051&ppcadID=&utm_campaign=a.22brand_pmax&utm_content=conversion.direct-response.anonymous&gclid=EAIaIQobChMIr679_tfXgQMVhejVCh1hOAI0EAAYASAAEgLeIfD_BwE&gclsrc=aw.ds
[3] https://theconversation.com/viktor-orban-hungarys-controversial-authoritarian-prime-minister-secures-yet-another-term-in-national-election-180466
[4] https://www.politico.eu/article/sweden-government-far-right-alliance-ulf-kristersson-euroskeptic-migration-climate-eu/
[5] https://www.euractiv.com/section/politics/news/portugals-third-political-force-among-prominent-hate-organisations/?_ga=2.135169649.1768408080.1696262250-1974928266.1696262249
[6] https://www.theguardian.com/world/2023/jul/21/how-spains-conservatives-joined-forces-with-far-right-vox
[7] https://www.lemonde.fr/en/international/article/2023/06/16/finland-to-get-right-wing-government-with-far-right_6032446_4.html
[8] https://www.euronews.com/2023/05/08/polls-suggest-austrias-populist-freedom-party-is-on-course-to-lead-the-country
[9] https://www.belganewsagency.eu/elections-2024-the-rise-of-the-far-right-in-belgium
[10] https://www.euronews.com/2023/10/01/polands-opposition-supporters-mass-in-warsaw-two-weeks-before-election
[11] https://ecfr.eu/article/hanging-in-the-balance-how-the-polish-far-right-could-swing-the-next-election/
[12] https://www.reuters.com/world/europe/slovaks-choose-between-pro-russian-ex-pm-fico-pro-western-liberals-2023-09-29/
[13] https://www.populismstudies.org/ecps-report-the-impact-of-the-russia-ukraine-war-on-right-wing-populism-in-europe/
[14] https://www.politico.eu/article/austria-schallenberg-far-right-anti-vaxxers/
[15] https://foreignpolicy.com/2022/02/12/germany-vaccines-soviets-afd/
[16] https://revistaidees.cat/en/losers-in-the-crisis-europes-radical-right-wing-in-the-covid-19-pandemic/
[17] https://www.nytimes.com/2023/09/27/world/europe/germany-immigration-control.html
[18] https://worldcrunch.com/migrant-lives-1/lampedusa-far-right-meloni-le-pen
[19] https://www.politico.eu/europe-poll-of-polls/
[20] https://www.euractiv.com/section/politics/news/le-pen-praises-salvinis-previous-anti-migration-efforts-tackling-meloni/
[21] https://www.lemonde.fr/en/politics/article/2023/09/07/marion-marechal-to-lead-eric-zemmour-s-party-in-european-elections_6127815_5.html
[22] https://www.theguardian.com/world/2023/jun/30/far-right-on-the-march-europe-growing-taste-for-control-and-order
[23] https://esprit.presse.fr/article/gilles-ivaldi/l-extreme-droite-au-centre-44261
[24] https://www.politico.eu/article/vladimir-putin-giorgia-meloni-relationship-russia-italy-not-friends/
[25] https://www.cairn.info/revue-materiaux-pour-l-histoire-de-notre-temps-2021-1-page-16.htm
[26] https://www.gisreportsonline.com/r/europe-conservative-wave/
[27] https://english.elpais.com/international/2023-09-22/success-of-far-right-afd-party-reveals-cracks-in-germanys-democratic-firewall.html
[28] https://www.euractiv.com/section/future-eu/opinion/melonis-balancing-act/
[29] https://notesfrompoland.com/2023/06/26/polish-government-condemns-german-epp-leaders-call-to-replace-ruling-party-in-poland/
[30] https://www.spiegel.de/international/germany/dangerous-liaisons-the-true-proximity-of-germany-s-afd-to-neo-nazis-a-e69c51d3-4b3c-49d2-8d54-d7b0a19c3f9a
[31] https://www.nytimes.com/2023/07/24/world/europe/spain-election-vox-party.html
[32] https://theconversation.com/from-france-to-italy-hungary-to-sweden-voting-intentions-track-the-far-rights-rise-in-europe-214702
[33] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html